Radosław Sikorski

Das polnische Haus


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als die Leute, denen man in den Straßen von Bydgoszcz begegnete.

      Später sollte Onkel Władek den Auftrag erhalten, Kardinal Wyszyńskis handschriftliche Memoiren zu transkribieren. Der 1981 verstorbene Kardinal war in den fünfziger Jahren von den Kommunisten inhaftiert worden und hatte nach seiner Freilassung den heimlichen Widerstand der katholischen Kirche geleitet. Zwei Nonnen halfen meinem Onkel bei dieser Arbeit. Alle mußten sich zu absoluter Verschwiegenheit verpflichten. Die Tagebücher sollen erst im Jahr 2011, dreißig Jahre nach Wyszyhskis Tod, veröffentlicht werden.

      Onkel Władeks Bruder, Onkel Roman, war ein engagierter Pfarrer in Inowrocław. Nach zwanzig Jahren hatte er die halbe Stadt dazu bewegen können, ihm bei der Instandsetzung der romanischen Kirche zu helfen, die seit dem Mittelalter eine Ruine gewesen war. Sogar mein Vater, ein unverbesserlicher Atheist, erklärte sich bereit, unentgeltlich die Pläne für eine Heizanlage zu zeichnen – »einfach um die Roten zu ärgern«, wie er meinte. Zusammen mit meiner Großmutter habe ich Onkel Roman oft besucht. Wir wohnten dann im Pfarrhaus, wo seine Haushälterin sich um uns kümmerte. Morgens verschwand mein Onkel in aller Frühe, um die Messe vorzubereiten. Später am Tag sahen wir ihn dann wieder, wenn er in seinem Ornat am Altar der großen Kirche im Zentrum der Stadt stand. Anschließend besichtigten wir die romanische Kirche, deren Restauration damals bereits im Gange war. Über dem Eingang zur Sakristei waren Teufelsfratzen mit Hörnern in den Granit gemeißelt; eine von ihnen sah genauso aus wie meine Lehrerin Skarpeta, die Socke.

      Mein Vater war vor dem Krieg Meßdiener gewesen. Er hatte sich aber von der Kirche abgewandt, nachdem er Zeuge geworden war, wie ein Priester sich an der von der Gemeinde gespendeten Kollekte bedient hatte. Sonntags fuhr er gerne zum Angeln an einen der Seen, die rings um Bydgoszcz lagen. Meine Großmutter kümmerte sich um meine religiöse Erziehung. Von ihr lernte ich, mich zu bekreuzigen, und das tägliche Morgen- und Abendgebet. Während mein Vater mit einem Hecht oder einem Karpfen kämpfte, schlossen wir uns oft den Kirchgängern an.

      Unsere Pfarrkirche war die Basilika von Bydgoszcz. Vor dem Krieg hatten nach Amerika ausgewanderte Polen ihren Bau durch großzügige Spenden ermöglicht; sie gehörte zum Orden vom hl. Vinzenz von Paul. Das Kreuz auf der riesigen Kuppel war kilometerweit zu erkennen. Tausende von Menschen fanden in der Basilika Platz; jede Messe zog Hunderte von Familien an, die im Sonntagsstaat aus allen Himmelsrichtungen in die Kirche strömten. Väter schoben Kinderwagen vor sich her, während die Mütter mit verstohlenen Blicken prüften, ob Freunde und Bekannte ihr schmuckes Aussehen oder ihre neuen Kleider auch gebührend würdigten. Jedesmal schien es, als hätte sich die ganze Stadt versammelt. Man hätte eher den Eindruck gewinnen können, Zeuge einer nationalen Rückkehr zum Glauben zu sein, als in einem kommunistisch regierten Land zu leben. Obwohl die Kirche groß genug war, um die ganze Gemeinde aufzunehmen, fanden neben den Hauptgottesdiensten am Vormittag auch Frühgottesdienste um fünf Uhr dreißig oder sechs Uhr statt. Meine Großmutter erklärte mir, daß diese Messen für Mitglieder der Kommunistischen Partei gedacht waren, die ungern gesehen werden wollten. So früh am Morgen war es ihnen möglich, heimlich hinter einer Säule dem Gottesdienst beizuwohnen.

      Die Basilika war zwar sehr groß – neben dem Säuleneingang befanden sich zwei mehrstöckige Seitenflügel –, doch die Außenmauern aus nacktem Backstein waren genauso karg wie das Innere der Kirche mit der weißgetünchten Kuppeldecke und einem Boden aus rohem Beton. Gigantische Heiligenstatuen aus Gips verharrten unter Rundbögen im kreisförmigen Hauptschiff. Meine Großmutter hatte eine besondere Vorliebe für den hl. Judas, den Schutzpatron der Verzweifelten und der hoffnungslosen Fälle, vor dessen Statue ich unzählige Stunden mit dem Beten von Rosenkränzen verbracht habe. Mein Gewissen rang mehr als einmal mit meiner Habsucht, als ich Münzen vom mühselig – mit dem Sammeln von Pfandflaschen – verdienten Taschengeld abzwackte, um sie in den dunklen Opferstock neben dem Judasaltar zu werfen.

      Während die Schule unermüdlich ihren Hirnwäscheversuch betrieb, wurden mir nach Schulschluß im Kommunionsunterricht traditionelle moralische Werte nahegebracht. Der Fußweg zur Basilika dauerte eine gute halbe Stunde, und wir wurden dort in kleinen Räumen zusammengepfercht, doch das war alles nicht schlimm. Unsere Schullehrer lehnten den Kommunionsunterricht ab, und schon deshalb gab uns die Teilnahme daran ein wunderbar rebellisches Gefühl. Wir warteten geduldig auf dem Flur im vierten oder fünften Stock in einem der Seitenflügel der Kirche, bis ein Priester oder eine Nonne uns auf altmodischen Schulbänken Platz nehmen ließ. Wir lauschten vielen Bibelgeschichten, doch aus der Schrift selbst wurde nicht gelesen. Außerdem lernten wir den Katechismus in einer Fassung für Kinder aus der Zeit um 1590. Intellektuell gesehen wurde ich in diesem Unterricht nur ein einziges Mal wirklich angeregt. Unser Priester, den wir wegen seiner unnatürlich roten Backen den »Säufer« nannten, lehrte uns Beweise für die Existenz Gottes, die vor allem den Sinn hatten, uns gegen den in der Schule verbreiteten darwinistischen Unfug zu immunisieren. Besonderes Gewicht legte er auf das Argument der zweckgerichteten Ordnung der Welt (die Welt sei so komplex, daß sie einen zwecksetzenden Geist unterstelle). Der Säufer fügte an dieser Stelle einen schlagenden Beweis hinzu. »Seht her«, rief er begeistert, stellte sich hin und breitete die Arme aus, »Gott beweist uns seine Existenz sogar durch die Form unserer Körper«, und er strahlte uns triumphierend an. »Bedenkt, daß euer eigener Körper die Form des Kreuzes hat!«

      Wie die meisten meiner Freunde ging ich im Alter von zehn Jahren zur ersten Kommunion. Für diesen Anlaß bekam ich meinen ersten Anzug. Vorher wurden wir noch über die Todsünden aufgeklärt, die die Teilnahme an der Kommunion ausschlossen, und über die läßlichen Sünden, die verzeihlich waren und nicht erforderten, daß man vorher noch einmal zur Beichte ging. Eine Woche vor dem großen Tag bildeten wir von zwei Seiten eine Schlange vor dem neobarocken Beichtstuhl, in dem sich sowohl links als rechts neben dem Priester eine Kabine befand. Während auf der einen Seite jemand seine Reue bekundete und sein Schlußgebet sprach, konnte sich der Beichtvater auf der anderen Seite bereits einer weiteren Sündenlitanei widmen.

      Wie alle anderen auch bereitete ich mich auf meine erste Beichte vor, indem ich meine Vergehen auf einem Zettel auflistete und dazu die passenden Abbitteformeln schrieb, nur für den Fall, daß mich mein Gedächtnis im Stich ließ. Das Notieren seiner Sünden war zwar genauso verpönt wie das Abschreiben in der Schule, aber die Beichte war ja anonym, und sollten wir rein zufällig auf einen unserer Priester aus dem Unterricht stoßen, so hätte er uns an unserem Flüstern sowieso nicht erkennen können. Auf dem Weg in die Kirche umklammerte ich den Zettel fest in der Hosentasche, denn ich hatte schreckliche Angst, daß er herausfallen und von einem Klassenkameraden gefunden werden könnte, der meine Schrift kannte. Würde Gott mir vergeben, daß ich während einer Pause auf der Schultoilette geraucht hatte? Und was war mit dem Schuleschwänzen in mehreren Fällen? Wenn Gott mir nur erlaubte, einen neuen Anfang zu machen, wollte ich fortan ein guter Junge sein! Ich wollte mich wirklich bessern. Ich hörte ein Klopfen an der Wand des Beichtstuhls und lateinische Worte, die für mich gesprochen wurden. Nach einer sanften Ermahnung sagte der Priester mir, wie ich Buße zu tun hatte. Ich stand zitternd auf und taumelte aus dem Beichtstuhl mit einem Gefühl von Glückseligkeit und Reue, das so stark war, daß ich fast vergessen hätte, das Zertifikat mitzunehmen, das mich zur Teilnahme an der ersten Kommunion berechtigte. Ich würde sagen, daß eine ordentliche Beichte den Geist wirksamer befreit als eine monatelange Psychoanalyse.

      Die Zeremonie war ein spektakuläres Ereignis. In langen Reihen schritten wir – Jungen in identischen Anzügen und Mädchen in weißen Kleidern, alle mit einer großen Kerze in der Hand – auf die Balustrade zu wie ein Ensemble von Tänzern in einer riesigen Ballettproduktion.

      Für die meisten Leute war nach der Grundschule Schluß mit dem Religionsunterricht, aber ich machte aus eigenem Antrieb weiter. Während unsere rebellischen Zeitgenossen im Westen sich anarchistischen Gruppierungen anschlossen oder Drogen durchprobierten, äußerte unser Protest sich darin, daß wir Pilgerfahrten unternahmen, einen Straßenaltar für die Corpus-Christi-Prozession bastelten oder die Kapelle kehrten. In einer feierlichen Zeremonie wurde ich mit vielen anderen Jugendlichen firmiert, indem uns der Bischof der Reihe nach heiliges Öl auf die Schläfe rieb. Ich besuchte auch die übliche voreheliche Beratung, die allerdings für mich zum damaligen Zeitpunkt rein theoretischen Charakter besaß. Dort bekamen wir einige nützliche Ratschläge. Zum Beispiel sollte man nach einem Streit mit seinem Ehepartner niemals schlafen