o.k.?«
»Ja, Lato o.k.«
Zu dieser Zeit, Anfang bis Mitte der Siebziger, war dieser Handel eine harmlose Nebenbeschäftigung, mit der Tausende von Familien aus der Mittelschicht nur versuchten, ihr Einkommen ein wenig aufzubessern. In den achtziger Jahren wuchs er sich aber zu einem eigenständigen Wirtschaftszweig mit professionellen Händlern aus, die das ganze Jahr über zwischen Polen und den östlichen Märkten hin und her pendelten. Für Millionen von polnischen Familien bedeuteten die Basargeschäfte, in denen man Kristallvasen und Küchengeräte aus Polen gegen harte Devisen oder Gold tauschte, eine Einführung in den angewandten Kapitalismus. In den neunziger Jahren gründeten dieselben Leute oder deren Kinder die kleinen Firmen, die die treibende Kraft unseres wirtschaftlichen Aufschwungs bilden. Doch es war in jenen Tagen, in Istanbul und später auf den Märkten von Westberlin und Wien, daß die Polen den Kapitalismus fürs Volk entdeckten.
Durch die Erfahrung des realexistierenden Kapitalismus bekam mein Bild des realexistierenden Sozialismus seine ersten Risse. Ein noch wichtigeres Gegenmittel stellten aber Bücher dar, nicht notwendigerweise illegale Schriften von Emigranten, sondern sogar frei zugängliche Jugendbücher. Unser großes nationales Epos aus dem 19. Jahrhundert, Henryk Sienkiewicz’ Trilogie, habe ich bestimmt fünfzehn Mal gelesen. Es spielt in der dramatischen Zeit von 1648 bis 1684, als das polnische Reich einen abrupten Niedergang erlebte. Nach dem Willen der Kommunisten sollten wir uns mit toter Ideologie identifizieren, nach Zielen wie höheren Produktionszahlen streben und stumpfsinnige Fanatiker bewundern. Sienkiewicz vermittelte ganz andere Werte und einen anderen Verhaltenskodex: Mut, Ehre, Ritterlichkeit. In Gedanken versetzte er mich zurück in eine Zeit, da die Polen sogar in größter Not zuversichtlich und stolz bleiben konnten. In der Trilogie wurden die Helden der Kriege gegen Kosaken, Tataren und Schweden zum Leben erweckt: unerschrockene Edelmänner, treue Diener, gewitzte Bauern und jungfräuliche Damen. Wenn ich heute die Trilogie wieder lese, fallen mir freilich ihre Schwächen auf. Die meisten von Sienkiewicz’ Figuren sind klischeehaft, oberflächlich und unglaubwürdig. So wissen wir von vornherein, daß Pan Zagłoba, der dicke, schlitzohrige Stutzer, in Wahrheit ein goldenes Herz hat, seinen Freunden immer treu bleiben und jede Krise souverän meistern wird. Jan Skrzetuski, streng und unbeugsam wie ein Römer, weicht dagegen niemals vom Pfad der Tugend ab und wird am Ende wieder mit seiner totgeglaubten Braut vereint. Und es muß so kommen, daß Pan Wołodyjow, ein kleiner Ritter und ausgezeichneter Schwertkämpfer, den Heldentod wählt und sich lieber selbst in die Luft jagt, als die Burg von Kamieniec Podolski den türkischen Belagerern zu überlassen. Meine Lieblingsfigur war Andrzej Kmicic, eine der wenigen Gestalten, die zwischen Gut und Böse hin- und hergerissen sind. Er ist ein Schelm, der während der schwedischen Invasion von 1655 durch eine List dazu getrieben wird, dem Verräter Prinz Janusz Radziwił zu dienen. Seine wunderschöne Verlobte Oleńka, eine von Sienkiewicz’ absurden, vor Vaterlandsliebe schmachtenden Frauenfiguren, will aber eher ins Kloster gehen, als einen Kollaborateur zu heiraten. Der Bruch zwischen ihnen wird noch vertieft, als sie von einem weiteren abtrünnigen Aristokraten erfährt, daß Kmicic versucht hat, den legitimen Fürsten umzubringen – obwohl Kmicic zu diesem Zeitpunkt wieder zum Pfad der Tugend zurückgefunden hat und täglich sein Leben riskiert, um das Kloster von Jasna Góra, wo sich die geheimnisvolle Ikone mit der schwarzen Madonna befindet, zu verteidigen. Schließlich finden die beiden natürlich wieder zueinander.
Die Trilogie mit ihrem altmodischen Patriotismus taugte kaum für den Lehrplan in den Schulen, war aber in den Buchhandlungen immer erhältlich (bis heute ist sie Polens bestverkaufter Titel aller Zeiten). Sie auf den Index zu setzen, wäre etwa genauso undenkbar gewesen wie ein Shakespeare-Verbot in England. In Übersetzung, zum Beispiel in der neueren englischen Ausgabe von W. S. Kuniczak, unterscheidet sich die Trilogie nicht nennenswert von anderen historischen Epen. Wäre Polen zur Zeit ihrer Entstehung ein freies Land gewesen, hätte man sie schlicht als die polnische Antwort auf Sir Walter Scott werten können. Statt dessen ist sie jedoch ein geradezu heiliges Buch, die Bibel des polnischen Patriotismus. Jeder polnische Jugendliche identifiziert sich insgeheim mit einem ihrer Helden; ihre Namen dienten sogar vielen Widerstandskämpfern im Zweiten Weltkrieg als Pseudonyme. Eine Idee, aber auch eine Nation, muß, damit Leute zu ihren treuen Anhängern werden können, nicht nur wahr oder gerecht, sondern auch attraktiv sein. Die Trostlosigkeit des Kommunismus sah gegen den Elan von Sienkiewicz’ altem Polen natürlich ziemlich alt aus.
Das andere große Epos aus dem 19. Jahrhundert, Pan Tadeusz (deutsch: Herr Thaddäus oder Der letzte Einritt in Litauen), stand dagegen sehr wohl auf dem Lehrplan. Es dreht sich um ein Landgut in Litauen, wo Angehörige des niederen und des Hochadels sich zum Diner treffen, auf die Jagd gehen, flirten, sich zanken und ihre Komplotte schmieden. Es endet damit, daß polnische Freiwillige die Russen verjagen und – was im weiteren Kontext etwas unmotiviert erscheint – Napoleon als Befreier bejubeln. So passierte es, daß uns in der einen Klasse von der unverbrüchlichen polnisch-russischen Freundschaft erzählt wurde, wir in der nächsten Klasse aber ein Gedicht auswendig lernen sollten, das nahelegte, ein sich selbst respektierender polnischer Aristokrat könne mit den Russen nur eins machen, und zwar das Schwert gegen ihn ergreifen. Nur einem Schwachkopf wäre der eklatante Widerspruch entgangen.
Ein Anhänger totalitaristischer Theorien hätte zu Recht monieren können, daß Polen nie ein wirklich totalitaristischer Staat war, da die Partei es versäumte, alle organisierten Autoritätsformen, die zu ihr in Konkurrenz traten, restlos auszumerzen – das galt besonders für die katholische Kirche. Die beiden letzten Jahrzehnte der kommunistischen Herrschaft, die siebziger und achtziger Jahre, während derer ich aufwuchs, werden womöglich einmal als das Goldene Zeitalter der katholischen Kirche in die Geschichte Polens eingehen. Die Unterdrückung durch die Kommunisten war damals nicht mehr so stark, als daß sie eine wirkliche Bedrohung für die Kirche dargestellt hätte, sie war aber immerhin noch drastisch genug, um die Kirche als Opfer erscheinen zu lassen und als einzige Institution, um die herum sich die Menschen versammeln konnten. Für mich bedeutete sie ein weiteres Gegenmittel gegen die Propaganda des Regimes.
Zunächst einmal waren zwei meiner Großonkel Priester. Der eine, Onkel Władek, arbeitete in der Bibliothek der Kathedrale von Gniezno als Konservator für alte Handschriften. Seine Amtsbezeichnung war Kanonikus in der Erzdiözese von Gniezno. Gniezno (Gnesen) war die Wiege des polnischen Christentums und die erste Hauptstadt Polens; das Erzbistum von Gniezno ist das älteste des Landes, und sein Name, abgeleitet von gniazdo (»Nest«), geht auf eine uralte Kultstätte zurück. Die Bibliothek befand sich in der Kathedrale selbst; sie verteilte sich über die Hohlräume direkt über dem Hauptschiff. Wenn ich ihn besuchte, nahm mein Onkel seinen schweren eisernen Schlüsselring und öffnete die Türen zu den Kammern, um mir ihren Inhalt zu zeigen. Dabei gingen wir auf schmalen Stegen über die gewölbte Decke der Kathedrale. Ich erinnere mich an illustrierte Pergamenthandschriften in Ledereinbänden, die ordentlich gestapelt in den Regalen lagen; an Blätter mit mittelalterlicher Kirchenmusik; Kirchenregister aus der Vorkriegszeit; Gebetbücher; theologische Schriften in fremden Sprachen. Mein Onkel beschwerte sich immer wieder darüber, daß für jeden Złoty, der für Restaurationsarbeiten ausgegeben wurde, eine Steuer von anderthalb Złoty an den Staat abgeführt werden mußte. Infolgedessen war ein Großteil der Sammlung dem Verfall ausgeliefert, was ich sehr bedauerte.
Nach unserem Besuch in der Bibliothek spazierten wir dann zur Wohnsiedlung, die zur Kirche gehörte. Die Gebäude waren jüngeren Datums – wahrscheinlich aus der Nachkriegszeit –, verkörperten aber einen traditionellen Baustil. Mit ihren spitzen Dächern, roten Ziegeln und Stuckarbeiten unterschieden sie sich jedenfalls himmelweit von den Bauten, die die Kommunisten schätzten. Das Mittagessen nahmen wir im gemeinsamen Speisesaal ein, wo Heiligenbilder die Wände schmückten und weiße Tücher die Tische bedeckten. Die Nonnen brachten uns fröhlich lächelnd eine wäßrige Suppe und zerkochte Knödel, und wir sprachen ein Gebet vor und nach der Mahlzeit.
Nach dem Essen begaben wir uns in die hübsche kleine Wohnung meines Onkels, die mit gediegenen alten Holzmöbeln eingerichtet war. Die Nonnen hielten alles sehr sauber. Mein Onkel kochte einen Tee und zeigte mir seine Alben mit Familienfotos. Es gab alte Porträts von meiner Großmutter in langem Pelzmantel und Hut; Fotos von meinem Onkel in langen Gewändern zusammen mit anderen jungen Männern des Priesterseminars und sogar Fotos aus der Zeit, als er als Zwangsarbeiter in Deutschland war. Er wurde