Leo Lukas

Mörder-Quoten


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einen vernünftigen Entschluss gefasst hatte, würde ich so tun, als hegte ich keinerlei Zweifel an den Aussagen des Bravos. Ich würde brav seine Anweisungen befolgen. Anders ausgedrückt, folgte ich der bewährten österreichischen Tradition, eine Entscheidung erst einmal so weit wie möglich hinauszuschieben und zu hoffen, dass sich derweil das Problem von selber löste.

      Schon deutlich zuversichtlicher, brach ich zum Dombrowski-Platz auf.

      Unterwegs durchforstete ich mein Gedächtnis nach potenziellen Auskunftspersonen. Wer könnte über das hiesige Wettgeschäft Bescheid wissen?

      Eine Journalistin kam mir in den Sinn, besser gesagt das Kürzel, mit dem sie ihre Artikel zeichnete: ClaRa. Hm. Wovon war das noch mal die Abkürzung gewesen? Sie arbeitete als Reporterin für den Lokalteil eines Boulevardblatts, dessen Niveau im umgekehrten Verhältnis zur Auflagenhöhe stand. Vor einigen Jahren war ich bei einer Weihnachtsgala der Zeitung aufgetreten und hinterher, weit nach Mitternacht, zufällig Zeuge geworden, als ein betrunkener und entsprechend enthemmter Vorgesetzter der besagten Dame sehr ungalant auf die Pelle rückte. Geistesgegenwärtig hatte ich eingegriffen, den lallenden Romeo mit geheuchelter Bewunderung seiner Kolumnistenkünste abgelenkt, dadurch der von ihm Bedrängten den Abgang ermöglicht und zugleich einen Eklat vermieden, der sich wohl ungünstig auf ihre Karriere ausgewirkt hätte. Später hatte sie gesagt, zum Dank für die Rettung vor dem grindigen Grapscher sei sie mir einen Gefallen schuldig. Ich möge mich bei ihr melden, wenn ich einmal etwas bräuchte.

      Bislang hatte ich noch nicht darauf zurückgegriffen. Ich war auch keineswegs sicher, ob ClaRa das Versprechen halten würde. Eine Frage, die sich gar nicht stellte, sofern mir nicht der volle Name einfiel.

      Ich zermarterte mir den Kopf. Der erste Teil stand für … Claudia. Oder?

      Nein.

      Doch!

      Claudia Rappold. Das war’s!

      Ich rief bei der Zeitung an, verlangte nach Frau Rappold von der Lokalredaktion, es knackste zweimal in der Leitung, und dann war sie erstaunlicherweise auch schon dran. „Mein Ritter in schimmernder Rüstung!“, sagte sie, als ich mich zu erkennen gegeben hatte. „Lange nichts gehört von Ihnen. Womit kann ich dienen?“

      Wie mir der Bravo geraten hatte, rechtfertigte ich mein plötzlich erwachtes Interesse an Glücksspiel und Sportwetten mit der unverhofft ergatterten Filmrolle. „Wenn ich mich nicht irre, haben Sie doch letztes Jahr eine Serie zu diesem Thema geschrieben?“

      „Im weitesten Sinne. Das war aber schon vorvorigen Sommer, anlässlich der Neuauflage eines Buchs, das der Haupttäter in der Fußball-Betrugsaffäre von 2014 herausgebracht hat. Unter uns, der Ghostwriter, also der eigentliche Verfasser, war einer unserer Sportreporter.“

      „Wie doch die Zeit vergeht … Könnten Sie vielleicht heute oder morgen ein halbes Stündchen für mich erübrigen? Mir geht es nicht so sehr um die Fakten, mehr um die Eigenheiten dieser Szene, sozusagen um den Stallgeruch.“

      „Heute Abend bin ich bereits vergeben. Aber morgen Vormittag dürfen Sie mich gern auf einen Mokka einladen. Zirka halb elf, passt Ihnen das? Und wo wäre es Ihnen denn genehm?“

      In diesem Augenblick trat ich aus der Gasse auf einen ungefähr quadratischen Platz, den ich länger nicht mehr besucht hatte. Ich war am Ziel. Einige Schritte weiter rechts begann die Fensterfront eines großen Kaffeehauses. Der Windfang des Eingangs ragte an der nächsten Ecke hervor. Seitlich davon hing ein Schild, das vor mindestens einem halben Jahrhundert gemalt worden war, mit dem Namen des Lokals.

      „Das Café Winterholzner am Dombrowski-Platz“, sagte ich spontan. „Kennen Sie das?“

      „Oh ja. Da waren wir früher manchmal kegeln. Nicht gerade ein Katzensprung für mich, aber Ihnen und der Nostalgie zuliebe … Das Winterholzner gibt’s also immer noch. Na passt. Wir sehen uns dort, morgen zwischen halb elf und elf. Freut mich, bis dann!“

      „Bis dann“, echote ich, jedoch ins Leere. Sie hatte bereits aufgelegt.

      Im Schanigarten wäre ein Tisch frei gewesen. Da ich mich ohnehin gerade für morgen hier verabredet hatte, ließ ich das Winterholzner trotzdem rechts liegen und ging weiter, um den Platz zu umrunden.

      Der Springbrunnen in der Mitte, eine der skulpturalen Scheußlichkeiten, die Wien der Freundschaft eines mäßig begabten Bildhauers mit dem damaligen Bürgermeister verdankte, hatte den Blick auf den diagonal gegenüberliegenden Häuserblock verdeckt. Nachdem ich die Filiale einer Supermarktkette, einen Hanfshop und ein Spielwarengeschäft passiert hatte, in dessen Auslagen der diesmal absolut letzte Totalabverkauf angekündigt wurde, sah ich schräg hinüber zu dem, was von Hugo Pekareks Lucky Star Casino übriggeblieben war.

      Viel war es nicht. Rot-weiß-rotes Absperrband hinderte am Zutritt zum klaffenden Loch im Erdgeschoß. Schwarzer Ruß bedeckte die Fassade darüber. Mehrere Fenster hatte man provisorisch mit Karton abgedichtet. Bis zu meinem Standort stank es nach einer Mischung aus Brandgeruch und Löschschaum.

      Perverserweise bekam ich Hunger. Ich hatte seit dem Frühstück nichts mehr gegessen. Das Angebot des Bordbistros im Zug war nicht sonderlich verlockend gewesen. Nun aber knurrte mein Magen.

      Wie schön, dass neben dem Brunnen, bei dem diverse marmorne Fabelgestalten um die Wette Wasser spien, ein Würstelstand Labung versprach! Ich ging hin und stellte mich an.

      Vor mir war ein Pärchen, das haargenau so aussah, wie österreichische Karikaturisten deutsche Touristen zeichnen. Habe ich schon erwähnt, dass die meisten Klischees ihre Entsprechung in der Wirklichkeit finden? Diese beiden trugen locker schlabbernde Freizeitkleidung einer deutschen Wertmarke, sehr wahrscheinlich made in China. Die Frau las ihre Bestellung aus einem Reiseführer vor: „Wir hätten gern zwo-a Eitrige mit je o-an Buggel, o-an Geschissenen und o-an Krokodü-hül sowie zwo-a Sechzehner-Bleche.“

      „Zwei Käsekrainer mit Brot, Kremser Senf, Essiggurke und zwei Dosen Ottakringer Bier“, übersetzte trocken der Mann hinter der Budel. Sein leicht gutturaler Akzent ließ auf türkischen Migrationshintergrund schließen. „Aufgeschnitten?“

      „Was?“

      „Ob ich die Würstel aufschneiden soll. Oder essen Sie sie lieber mit der Hand? Servietten sind im Preis inkludiert.“

      „Wie gehört es sich denn?“, fragte der männliche Germane. „Sie müssen wissen, guter Mann, wir möchten es möglichst o-ri-gi-nal.“ Ein dritter Gast, der so aussah, als würde er das bisschen, das er aß, lieber trinken, lehnte sich herüber. „Des warat mit am Bauchstich, mindestens an Magenstrudel.“

      „Strudel habe ich schon gelesen“, sagte die Frau eifrig, „müsste ich aber nachschlagen, Jens-Henning.“

      „Ist das nicht eine Süßspeise, Carmen?“

      Ups. Ich hatte auf Sieglinde oder Gerhild oder beides getippt. Da war die Globalisierung wieder mal schneller gewesen als meine Vorurteile.

      „Danke nein“, sagte sie in Richtung sowohl des Standlers als auch des Tranklers. „Mein Mann und ich achten auf ausgewogene Ernährung mit niedrigem Zucker- und Fettanteil.“

      „Da sind sie bei mir genau richtig.“ Ohne eine Miene zu verziehen, reichte der Türkischstämmige die Dosen sowie die Pappteller mit den filetierten Würsten und der überreichen Garnierung heraus. „Macht bitte 12,90.“

      „Kann ich mit Bankomat zahlen?“

      „Sicher.“

      „Geben Sie ein, ähem … 14 Euro und 20 Cent.“

      „Zu gütig, gnädige Frau.“

      „Sagnse mal, kennense eigentlich Currywurst?“, fragte Jens-Henning, nachdem die Finanztransaktion erfolgreich vollzogen worden war. „Eine Delikatesse! Die solltet ihr in euer Angebot aufnehmen. Dann liefe der Laden noch mal so gut.“

      „Würde ich gerne. Leider ist der Koberer dagegen.“

      Die Deutschen schoben, ihre Beute balancierend, glücklich ab. Ich hörte noch, wie Carmen ihrem Gatten