geschossen habe.
Wie hatte ich nur bisher ohne dieses Wissen durchs Leben gehen können?
Ansonsten gab es keinen Hugo Pekarek, jedoch einen Josef, der beim SC Wacker Wien und in der Nationalmannschaft Fußball gespielt hatte, bis er aus dem Zweiten Weltkrieg mit einem Bein weniger heimkehrte. Weiters einen Karl, der 1967 an einer angeblich legendären Silvesterschießerei vor dem Café Domingo in Meidling teilgenommen hatte – und eine Mathilde Luggerbauer-Pekarek, auf deren Gastgewerbekonzession das Lucky Star Casino zugelassen war. Die Vermutung lag nahe, dass sie unlängst über ein bis zwei gravierende Verluste in Kenntnis gesetzt worden war.
Bedauernswert, aber was hatte ich damit zu tun? Nichts, beschloss ich, und so sollte es auch in Zukunft bleiben. Die kuriose Grazer Begebenheit kam zu meinen nicht existenten Akten. Ob sie es jemals in eine künftige Autobiografie schaffen würde, stand sehr zu bezweifeln.
Am Meidlinger Bahnhof stieg ich aus. Das Prunkstück der Wiener Linien, die U6, transportierte mich bis zu der Biedermeiergasse, in der ich wohnte. Als ich im Hausflur meinen Postkasten aufschloss, ertönte hinter meinem Rücken ein leises Räuspern. Erschrocken fuhr ich herum.
„Ah ja“, sagte der Bravo. „Und da bist du nun.“
4
Binnen weniger Stunden zweimal düpiert worden zu sein, ärgert den Bravo sehr. Was ist bloß los mit ihm? Seit wann ist er so vertrauensselig, dass er auf einen falschen Psychiater hereinfällt und diesem intimste Geheimnisse anvertraut?
Der Kerl heißt Peter Szily, hat der Bravo bei der Sprechstundenhilfe erfragt. Er ist ein Schulfreund des Professors und lebt in Wien. Mit diesen Basisinformationen lässt sich leicht weiterforschen. Szily tritt häufig und bei verschiedensten Anlässen in Erscheinung, wenn auch meist am Rande. Es dürfte sich um einen Lebenskünstler in mehrfacher Hinsicht handeln, der vieles kann, aber nichts wirklich gut, am ehesten noch Stimmen parodieren. Hauptsächlich arbeitet er als Effektsprecher für Werbungen und Radio-Comedy.
Während der Bravo seinen gemieteten Opel Corsa über die regennasse Südautobahn steuert, überlegt er, ob er diesen Szily wird töten müssen. Kann er sich einen Mitwisser leisten? Noch dazu einen Komödianten, dem die Geschwätzigkeit förmlich in die Wiege gelegt wurde?
Szilys alles andere als frisches Hemd und sein restliches Äußeres deuteten nicht gerade auf hohe Selbstdisziplin und Zuverlässigkeit hin. Mit viel gutem Willen konnte man ihm etwas wie legeren Chic attestieren. Schon beim ersten Eindruck hätte der Bravo stutzig werden müssen! Aber die sonore, wohlmodulierte Baritonstimme hat ihn eingelullt. Er hat schockierend viel von sich preisgegeben; jedoch nichts, wodurch er unmittelbar auszuforschen wäre.
Oder?
Den Termin beim Psychiater hat er unter falschem Namen ausgemacht. Die hundert Euro Einsatz, die er hinterlegen musste, weil er keine E-Card vorweisen wollte, sind leicht zu verschmerzen. Weder hat er Szily die Wohnung, in der das eingelegte Ohr deponiert ist, genauer beschrieben, noch deren Lage oder den Weg von dort zum Dombrowski-Platz. Und dass er privat am liebsten um 7.30 Uhr frühstückt, verrät etwaigen Feinden gar nichts – denn schließlich tut er dies ausschließlich, wenn er alleine ist.
Trotzdem kann er nicht zulassen, dass Peter Szily brühwarm überall herumerzählt, er habe einen Auftragskiller namens Bravo kennengelernt. Wenn das den falschen Leuten zu Ohren käme, wäre sein Ruf ruiniert!
Aber Moment. Vielleicht kann er zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. So oder so – der Bravo muss den Mord aufklären, den eigentlich er hätte begehen sollen. Und ob es ihm schmeckt oder nicht, er wird dabei Unterstützung brauchen. Für manche Recherchen sind die Umgangsformen, die er über die Jahre kultiviert hat, ungeeignet bis kontraproduktiv. Hingegen besitzt dieser Szily, so scheint es, soziale Fertigkeiten im reichen Maß …
Der Kleinwagen ist kein Ferrari. Das macht nichts; der Bravo fährt sowieso maximal 137 km/h, obwohl es auf der niederösterreichischen Seite des Wechselgebirges nicht regnet und die lange Gerade zwischen Grimmenstein und Wiener Neustadt trocken ist. Zu schnell wäre unklug, zu langsam ebenso: Wer sich sklavisch genau an Geschwindigkeitsbegrenzungen hält, erweckt mittelfristig ähnlich viel Aufmerksamkeit wie ein Raser.
Da die Eisenbahn für die Strecke Graz–Wien zweieinhalb Stunden benötigt, kommt der Bravo mit genügend Vorsprung in der Bundeshauptstadt an, um einen Parkplatz zu finden und Peter Szilys Adresse auszukundschaften. Die Gasse ist verkehrsberuhigt, die zweistöckigen Häuser ähneln einander stark, sie wurden wohl zur selben Zeit errichtet. Das schmucklose Vorhaus von Nummer 19 war, nach dem Kopfsteinpflaster zu schließen, früher ein „Durchhaus“, eine Kutscheneinfahrt. Am hinteren Ende führt links eine Treppe nach oben, rechts ein kurzer Gang zu den drei Wohnungen im Parterre. Dort wartet der Bravo. Er hat einen Bleistift hinters Ohr geklemmt und ein Maßband in der Hand. Wenn jemand die Stiege herunterkommt, misst der Bravo die Oberlichte der Hoftür ab: 146 mal 57,3 Zentimeter. Niemand nimmt von ihm Notiz.
Heimlichkeit ist eine seiner großen Stärken. Die zweite ist das genaue Gegenteil: Un-heimlichkeit, also Überrumpelung und Entmutigung. Diese Mittel wendet der Bravo viel seltener an. Nach Möglichkeit vermeidet er die Konfrontation, schon gar jeglichen Dialog mit einem Opfer. Idealerweise ist der einzige Kontakt der finale, letale. Aber falls notwendig, kann er einem Gegenüber blitzartig solchen Schreck einjagen, dass es zu keiner Abwehrreaktion mehr fähig ist. Dazu muss er nicht laut werden und auch keine Schuss- oder Stichwaffe bemühen.
Bei Peter Szily funktioniert die Einschüchterungstaktik perfekt. Während er am Postkasten hantiert, tritt der Bravo lautlos an ihn heran, räuspert sich, und als Szily zusammengezuckt und herumgewirbelt ist, zitiert ihn der Bravo, ebenso leise wie eindringlich: „Ah ja. Und da bist du nun.“
Szilys Mund klappt auf. Er ringt um Atem und Fassung. Bevor er seine so betörende Stimme wiederfinden kann, sagt der Bravo: „Gehen wir, Pezi. Los, raus.“ Er stößt die angelehnte Tür zum Hinterhof mit der Schuhspitze auf. Mit dem ausgestreckten Arm treibt er Szily, ohne ihn zu berühren, vor sich her.
Im Hof stehen drei kümmerliche Bäume, fünf Mülltonnen und eine verwitterte Rattan-Sitzgarnitur. Ein windschiefer Holzschuppen schmiegt sich an die Begrenzungsmauer zum Nachbargarten. „Hinein da!“
Drinnen hängt allerlei Werkzeug an den Wänden. Es gibt keine Fenster, aber durch Ritzen zwischen den Brettern fallen Lichtstreifen. Der Effekt verleiht der Enge eine zusätzliche Dramatik, die einen Bühnenmenschen wie Szily gewiss nicht kaltlässt.
Der Bravo zeigt auf die schmale Bank. „Setz dich, Pezi. Hast du bis jetzt irgendwem von mir erzählt?“
„N-nein.“ Szily hüstelt, leckt sich über die Lippen. „Hören Sie, es besteht keinerlei Grund für eine Kurzschlusshandlung. Wie ich Ihnen schon in Graz sagte: Nichts, was in diesem Ordinationsraum gesprochen worden ist, wird darüber hinaus dringen. Mein Ehrenwort!“
Sagt er die Wahrheit? „Du hast mich verarscht. Tu das nie wieder. Ich mag es nicht, verarscht zu werden.“
„Bitte verzeihen Sie mir. Es lag keineswegs in meiner Absicht, Sie, ähem, respektlos zu behandeln.“ Seine Stimme gewinnt an Volumen und Selbstsicherheit hinzu.
Dem ist gegenzusteuern. „Wir müssen alle sterben“, sagt der Bravo leichthin. „Die Frage ist, wie bald. Manchmal liegt die Entscheidung bei einem selbst.“ Er kramt langsam, wie gedankenverloren, in seiner Umhängetasche, zieht raschelnd den Zipfel eines Plastiksacks heraus, stopft ihn zurück, schließt die Tasche wieder. Indirekte Drohungen, hat er die Erfahrung gemacht, wirken viel besser als direkte. Den schlimmsten Horror erzeugt immer noch die eigene Fantasie.
Peter Szily schluckt. Er ist ein paar Zentimeter größer als der Bravo und in den Schultern um einiges breiter. Trotzdem wirkt er unterlegen, wegen seiner schlechten Haltung und der mangelhaften Körperspannung. Das Gewand ist gefällig kombiniert, findet der Bravo, der sich mit Herrenmode auskennt: Unpassende Kleidung ergibt keine gute Ver-kleidung. Allerdings sind sowohl die Lederjacke als auch die Sneakers einige Jahre zu jung für Szily. Er dürfte das nahende Alter spüren, sich aber