Andrea Marcolongo

Das Meer, die Liebe, der Mut aufzubrechen


Скачать книгу

      „Du verlangst zu viel vom Leben“, sagen alle immer wieder zu dir, während du doch nur verlangst, als das ernst genommen zu werden, was du wirklich bist.

      Da hast du eine Entscheidung getroffen, du hast das Richtige vom Leben verlangt und bist aufgebrochen.

      Die Kraft zur Entscheidung rührt oft daher, dass man nicht weiterleben kann, ohne diese Entscheidung getroffen zu haben.

      Unsagbar sind die Farben des Meeres, denn unbeschreiblich ist auch das Licht, das es tagsüber entzündet – transparent, blau, glasklar, perlfarben –, sowie das Licht, das es nachts zum Verschwinden bringt – schwarz, weinfarben, mondhell.

      Das Meer kennt das Gesetz des Gleichgewichts zwischen Anwesenheit und Abwesenheit, das dir so oft entgeht und dich in Erwartung dessen, was du – noch – nicht kennst, zermürbt. Und was du noch nicht bist.

      Im Italienischen ist das Meer ein Vater, il mare.

      Im Französischen eine Mutter, la mer.

      In den slawischen Sprachen ist es sächlich, more.

      Alle Frauen, alle Männer, alle Gedanken bewohnen unsere Häfen, die, die am weitesten entfernt sind, und die, die uns am nächsten sind. Das Meer ruft und wir müssen uns in dem Fundus der Rollen, die wir jeden Tag gleichzeitig spielen, immer wieder neu einkleiden – als ungeduldige Männer, geliebte Kinder, besorgte Mütter, treue Freunde, frisch Verliebte, rebellische Jugendliche, weise Frauen, freche Kinder, als die Fantasien der anderen.

      Unsere Ichs sind gleichzeitig aufgespannt wie ein Segel: Ich, io im Italienischen, wie das Suffix -io am Ende der Worte, die eine lange andauernde, noch nicht beendete Aktion beschreiben. Worte, die unseren Zustand beschreiben, den wir selbst nicht kennen, wenn wir unentschlossen etwas tun, was noch kein Ende gefunden hat – mormorio (Gemurmel), ronzio (Gesumme), logorio (Zerrüttung), brontolio (Murren).

      Proust hatte unrecht, auf Reisen gibt es keine verlorene Zeit. Es gibt nur eine wiedergefundene Zeit, denn wir entdecken jeden Tag aufs Neue, was wir sind – nicht das, was wir waren oder was wir sein werden.

      Die Wirklichkeit, die sich entfaltet und anknüpft und mit ihrer Veränderung auch uns verändert.

      Das Bewusstsein dieser Wirklichkeit verbirgt sich hinter der Schattenlinie, die jede Entscheidung mit sich bringt.

      Das Meer fordert von dir, dich zu entscheiden, wohin du fährst und warum.

      Du kannst es ignorieren, du kannst erklären, du seiest zu beschäftigt, vielleicht siehst du das Meer nicht einmal, das mit fernen Worten zu dir spricht.

      Vielleicht hast du Angst davor, vielleicht liegst du gemütlich auf einem Liegestuhl am Strand und lachst es aus.

      Doch es wird immer ein Meer geben, das dich ohne Vorwarnung, ohne einen Veränderung ankündigenden Wind geduldig dazu bringt, die elementare Geste zu wagen, zu der jedes menschliche Wesen fähig ist: über die Schwelle zu treten und einen Schritt hinüber zu machen.

      Beziehungsweise in dein Leben.

      In dein Inneres.

      Unweigerlich kommt die Reise, die die Menschen auffordert, aufzubrechen, schrieb Apollonios von Rhodos, der Verfasser von Die Fahrt der Argonauten.

      Als junger Mann rechnete Jason nicht damit, aufgefordert zu werden, als Erster, mit dem ersten Schiff, das von Menschen gebaut wurde – der Argo –, übers Meer zu fahren. Medea, noch ein junges Mädchen, rechnete in ihrem fernen Hafen nicht damit, dass sie sich in einen Fremden verlieben würde.

      Er brach auf, um nach Hause zurückzukehren und seinen Vater zu retten; sie stieß ihren Vater zurück, brach auf und kehrte nicht mehr nach Hause zurück. Beide entschieden sich für das Meer und kamen verändert an ihr Ziel: nicht mehr als Kinder, sondern als erwachsener Mann und erwachsene Frau, als Helden vielmehr.

      Für die Griechen war ein Held jemand, der seine innere Stimme zu hören verstand, der Vertrauen zu sich hatte und die Prüfung bestand, die jedem menschlichen Wesen abverlangt wird: sich selbst treu zu bleiben.

      Siege und Niederlagen sind absolut nicht der Maßstab des Heldentums: Seit Jahrtausenden ist der ein Held, der über sein Leben entscheidet. Und das ist ein hoher Anspruch, denn davon hängt sein Glück ab. Wenn Platon im Theaitetos schrieb, „Denken ist das Selbstgespräch der Seele“, dann besteht der revolutionäre Ansatz der griechischen Philosophie darin, das anzusprechen, was wir allzu oft zum Schweigen bringen. Zu unserem Inneren zu sprechen, um eine Entscheidung treffen zu können, uns so zu lieben, wie wir in unserer innersten Reinheit sind.

      Heutzutage legen wir uns die Latte oft viel zu tief, ganz knapp über dem Boden, in der Überzeugung, dass uns nicht mehr zusteht, dass unsere Träume schon durch die äußeren Umstände – von der Wirtschaftskrise bis zum Urteil der anderen – bereinigt werden müssen, und so wünschen wir uns nichts mehr – im Namen einer falschen Ruhe, aufgrund der wir nichts ändern, nichts mehr planen wollen.

      Der Begriff Held ist derart zur Floskel verkommen, dass er nur noch für Winner taugt, für die Protagonisten spektakulärer Events wie Ted Talks oder Reality Shows, und wir vergessen, dass wir alle das Zeug zum Helden haben. Das kann man allerdings nur wiederentdecken, wenn man übers Meer fährt. Gemeinsam mit der Liebe, die immer der zündende Funke des Heldentums jedes Einzelnen ist, denn sie legt unsere innere Latte ganz hoch.

      Medea und Jason waren die ersten.

      Sie sind Ausgangspunkt und Ziel jeder menschlichen Reise.

      Kaum sind die Segel der Argo gespannt, stechen wir Tag für Tag in See, kämpfen gegen Wind und Sturm, um ans Ufer zu gelangen oder verändert zurückzukehren, wobei wir über die Schattenlinie treten oder unsere Schwelle überschreiten.

      Schwelle wie das italienische Wort uscio; uscio wie uscire, hinausgehen. Dem entgegenzugehen, was passiert. Türen sind hauptsächlich dazu da, geöffnet zu werden, um Licht, Wind, die anderen hineinzulassen.

      Segelst nicht auch du, wie wir alle – wir zeitgenössischen Argonauten – über die Meere, die uns, egal in welchem Alter, davon abhalten, erwachsen zu werden?

       Mir kann das nicht passieren

      Auf dem Meer fühlst du dich sicher.

      Nichts von dem, was dich am Ufer beunruhigte, ist mehr da.

      Du sagst zu dir selbst:

      „Mir kann das nicht passieren.“

      Diese Worte sind so tröstlich, dass sie einschläfernd wirken.

      Langsam gleitest du in eine ruhige Apathie.

      Alles ist so weit weg.

      Nein, es kann nicht passieren.

      Dir nicht.

      In seinem Buch der Unruhe schrieb Fernando Pessoa, Wir leben alle in dieser Welt an Bord eines Schiffes, das aus einem Hafen ausgelaufen ist, den wir nicht kennen. Es ist unterwegs zu einem Hafen, von dem wir nichts wissen. Wir müssen füreinander die Liebenswürdigkeit gegenüber Reisebekanntschaften aufbringen.

      Auch ich war immer schon unruhig. Ich mag das Gewellte – die Hügel am Meer, nicht die Ebene am See. Und auch ich bin viel gereist, bevor ich den Mut fand, dieses Buch zu schreiben: nicht nur in horizontaler Richtung durch unbekannte Städte und Länder, sondern vor allem in die Tiefe: ins Innere der Menschen, unter die Oberfläche ihrer Worte, Blicke, Gesten.

      Mit dreißig Jahren befand ich mich an Bord eines Schiffes, das von einem unbekannten Hafen, der Literatur, ausgelaufen war.

      Ich habe nur deshalb den Mut gefunden, über das unbekannte Meer zu fahren, weil ich der Liebenswürdigkeit begegnet bin, von der Pessoa schreibt und mit der mich meine Reisegefährten empfangen und unterstützt haben: meine Leser – auch Sie, die Sie mich zum ersten Mal lesen und erfahren,