Andrea Marcolongo

Das Meer, die Liebe, der Mut aufzubrechen


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kannst den Gedanken an all das verdrängen, was hätte sein können und nicht war, weil du es nicht wolltest – Dinge und Menschen passieren nicht einfach, man muss sie suchen und dann lassen sie sich auch finden.

      Du kannst deine Leidenschaft kleinreden, dich darüber lustig machen, um nicht gezwungen zu sein, wirklich daran zu glauben – und dich als dumm oder verblendet bezeichnen, wenn du wagst, daran zu glauben.

      Du kannst jeden Morgen, wenn du in den Spiegel schaust, schummeln, die Karten der Realität und der Irrealität beliebig mischen, die Karten dessen, was bereits zu Ende ist, und dessen, was gerade angefangen hat, obwohl du es nicht wolltest, du es nicht erwartet hast.

      Deine Liebesgeschichten, deine Arbeit, deine Reisen, deine Tränen – das alles ist für dich nichts Besonderes, wenn du anderen davon erzählst, auf diese Weise verhinderst du, dich ernst zu nehmen und ernst genommen zu werden.

      Die Gesetze der Physik sind nicht die des Lebens.

      Ein menschlicher Körper hat die Fähigkeit, sich über Wasser zu halten, ohne dass er sich bewegt – man muss nicht schwimmen können.

      Doch das archimedische Prinzip gilt nicht für das Leben: Wenn man sich Tage, Monate, manchmal sogar Jahre über Wasser hält und sich trügerischen Gewissheiten, falschen Überzeugungen, billigen Wortspielen hingibt, bedeutet das, unglücklich und ohnmächtig zu sein – in diesem Fall muss man wirklich schwimmen können.

      Wenn wir ruhig am Festland verweilen, genauso starr und unbeweglich wie dieses, können wir uns bücken, wenn wir uns nicht auf der Höhe unserer Leidenschaften fühlen, uns klein machen, uns wegducken und in einem Winkel verstecken, anstatt uns auf die Zehenspitzen zu stellen, die Hände auszustrecken und den Blick zu heben, sobald uns das Leben mit Namen ruft.

      Auf dem Meer nicht.

      Die Entscheidung lässt sich nicht mehr aufschieben wie etwas Lästiges, Nebensächliches.

      Man kann nicht antworten, so was passiert eben, und mit den Schultern zucken.

      Es ist bereits passiert.

      Die Traurigkeit, das Gefühl der Unzulänglichkeit werden morgen nicht verschwinden, auch wenn man dir das angesichts deiner labilen Psyche immer prophezeit hat – du wirst schon sehen, morgen ist alles anders, sicher, doch es kommt darauf an, was zurückbleibt.

      Die Griechen kannten einen Begriff für diese Frustration.

      Als Ἀμηχανία (Amechanìa) bezeichneten sie die Unfähigkeit, die jeglichen Elan lähmt. Das personifizierte Unvermögen war Schwester und Freundin einer der schmerzhaftesten menschlichen Zustände, der Armut: Sie hieß Πενία (Penìa).

      Elend und Unzufriedenheit galten im antiken Griechenland als größte Gefahr für die Menschen, denn sie brachten sie dazu, sich klein zu machen, anstatt sich zu erheben.

      Den Griechen zufolge machte Amechanìa den Wunsch zunichte, den alle Irdischen haben: sich nach eigenen Maßstäben als Held zu erweisen.

      Alkaios von Lesbos schrieb in seinem Fragment 364:

      Penìa, die Armut, ist etwas Schlimmes, ein unbeherrschbares Übel. Und gemeinsam mit ihrer Schwester Amechanìa schwächt sie ein großes Volk.

      Zweitausend Jahre später denke ich: Wie hoch legen wir unsere persönliche Latte für unsere Erwartungen an das Leben, und vor allem für das, was wir bereit sind zu akzeptieren?

      Was für ein Volk sind wir geworden?

      Sich von den alten Gewissheiten zu lösen, ihnen mit einem weißen Taschentuch nachzuwinken und dabei den Blick in Richtung der endlosen Überraschungen des Lebens zu wenden: Das ist eine uralte, überaus befreiende Geste, die ein erfülltes Leben verspricht.

      Sie ist notwendig, um zu verstehen, um den Menschen kennenzulernen, der du geworden bist – sie ist letztendlich notwendig, um dich zu akzeptieren und dich aufrichtig zu fragen, wie geht es dir?

      In Lemnos bricht der Morgen an, es ist Zeit, in See zu stechen.

      Und die Hecktaue löste ihnen Argos vom meerumflossenen Felsen.

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