Andrea Marcolongo

Das Meer, die Liebe, der Mut aufzubrechen


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die jungen Frauen ihn voller Freude umdrängten.

      Gleich darauf brachten sie Gastgeschenke an den Strand, Südfrüchte und einladende Liebesbriefe.

      Endlich verstanden die Argonauten die Aufforderung der Mädchen. Apollonios von Rhodos stellt nahezu ironisch fest:

      Es wurde Abend und die ganze Stadt erfreute sich an Reigentänzen und Festgelagen. Und vor allem stimmten sie Aphrodite, die Göttin der Liebe, mit Gesängen und Opfern milde.

      Nur ein Argonaut war auf dem Schiff geblieben, hatte sich aus Vorsicht abgesondert und dachte an die bevorstehende Fahrt.

      Herakles, der stärkste von allen, war der Einzige, der die Nacht allein verbrachte.

      Die Tage vergingen, einer nach dem anderen, endlich fruchtbar. Endlich glücklich.

      Der Wind war wieder günstig, doch die Argonauten ignorierten ihn und verschoben von Tag zu Tag den Aufbruch.

      Am liebsten wären sie auf der Insel bei den verliebten Frauen geblieben, doch Herakles versammelte die Gefährten und rüttelte sie mit spöttischen und vorwurfsvollen Worten auf:

      Unselige, schließt uns das vergossene Blut eines Verwandten vom Vaterland aus? Oder sind wir aus Mangel an Ehen von dort hierher gekommen, weil wir die Frauen unseres Volkes tadeln? Und gefällt es uns, hier zu wohnen und das fruchtbare Ackerland von Lemnos zu durchfurchen? Wahrlich, wir werden jedenfalls in keinem guten Ruf stehen, wenn wir uns so lange mitfremden Frauen einschließen. Auch wird durchaus nicht von selbst ein Gott das Vlies nehmen und es uns auf unsere Gebete hin geben. Wir wollen ein jeder wieder zu seinem Besitz gehen! Diesen [Jason] aber lasst den ganzen Tag über in den Betten Hypsipyles, bis er Lemnos mit Kindern männlichen Geschlechts bevölkert hat und großen Ruhm erwirbt.

      Keiner wagte, den Blick zu heben oder etwas zu sagen.

      Jason schämte sich mehr als alle anderen: Er wusste, wenn sie nicht aufbrachen, würden sie nie ihr Ziel erreichen.

      Er hatte vergessen, dass man das Ziel nicht erreicht, wenn man die Fahrt nach wenigen Tagen angesichts der ersten verführerischen Bequemlichkeit am Festland unterbricht, die einen den Grund des Aufbruchs vergessen lässt.

      Niemand anderer würde das Goldene Vlies erobern.

      Niemand außer ihm würde die Heldenhaftigkeit unter Beweis stellen, die jeden Menschen ruft.

      Schon zwei Tage nach dem heldenhaften Aufbruch hatten die Argonauten ihre Fahrt auf der Insel Lemnos unterbrochen.

      Verlockt von der trügerischen Sicherheit der Monotonie hatten sie sofort angehalten.

      Sie ließen sich treiben, wie die Argo vergessen im Hafen trieb.

      Kaum hatten sie Herakles schneidende Worte gehört, machten sie sich geradewegs von der Versammlung aus bereit, eilends abzureisen.

      Jahrelang hatte ich riesengroße Angst davor, Schriftstellerin zu werden.

      Ich hatte Angst vor dem Schreiben.

      Und ich war wütend auf mich, weil ich Angst hatte.

      Ich wollte unbedingt schreiben, das war mein persönliches Goldenes Vlies.

      Aber ich verstand nicht, dass ich vergebens kämpfte, dass ich den Grund für meinen Kampf falsch formuliert hatte. Ich hatte nie darüber nachgedacht, was mich daran hinderte. Ich änderte ständig den Kurs, verirrte mich bei der ersten Flut.

      Heute kenne ich den Namen dessen, was mich daran hinderte: es war ein Alibi, eine Ausrede, eine Ausflucht.

      Oder ein Anderswo, denn alibi besteht aus der Verbindung zweier lateinischer Worte, alius, anderer, und ubi, hier.

      Ich wollte unbedingt schreiben, doch immer, wenn ich in Richtung Schreiben aufbrach, fand ich tausend Ausflüchte, um woanders zu landen, ich flüchtete mich in den ersten sicheren Hafen und vergaß bald darauf, wieder aufzubrechen.

      Wenn mich jemand auf meine Unzulänglichkeit aufmerksam machte, zeigte ich ihm stolz das Auto, das ich mir gerade gekauft hatte, und das Inventar aller meiner zukünftigen Pläne – doch gleich darauf ließ ich mich ablenken und legte sie beiseite.

      Ich verschob das Schreiben im Namen einer vorgeblichen Ernsthaftigkeit, als ob Worte bloß Spiel und Zeitvertreib wären.

      Ich war schrecklich streng zu mit – manchmal bin ich das noch immer.

      Und ich war unglücklich.

      Eines Sommers kam einer meiner wertvollsten Freunde, der ebenfalls seine eigenen Wege geht, in meine damalige Heimatstadt und sagte zu mir, ich vergeudete mein Leben.

      Er war mein Herakles.

      Ich wünsche allen, einen Freund zu haben, der sich die Mühe macht, zu euch nach Hause zu kommen und euch aufzurütteln, wenn ihr euch verirrt habt.

      Natürlich schämte ich mich, genau wie Jason. Aber ich verstand, dass ich mich vor allem von meinen Ausreden befreien musste, um aufbrechen zu können.

      Wenn ich an meiner Angst festhielt, fühlte ich mich unabhängig, und verwechselte die Unabhängigkeit mit Freiheit.

      Als Kompromiss hatte ich eine Zeitlang für andere geschrieben, das Schreiben ist mir immer sehr leichtgefallen.

      Heute weiß ich, ich war feig.

      Die Worte waren schon immer mein Leben, meine Art und Weise gewesen, die Welt zu verstehen und sie Wirklichkeit werden zu lassen.

      Als Ghostwriter erzählte ich nicht von meiner Welt, sondern von der von Menschen und Unternehmen, für die ich arbeitete. Es war eine irreale Welt.

      Ich hatte kein Gesicht und keinen Namen, niemand kam und zog mich zur Verantwortung, niemand schickte mir Briefe, um mir seine Freude oder seinen Schmerz anzuvertrauen, die schwer waren wie Felsen.

      Ich schrieb und durfte nicht antworten, das lag nicht in meiner Verantwortung.

      Ich verweigerte mir das Recht, das in der Antike den befreiten Sklaven als Erstes gewährt wurde, das erste Recht des freien Mannes: einen Namen zu haben.

      Jahrelang habe ich mich verleugnet.

      Ich habe mich von der Angst und aus der Anonymität befreit, ich habe meinen Namen wiederentdeckt.

      Ich habe mich erkannt und habe aufgehört, wie ein Orakel von mir zu sprechen.

      Ich habe Verantwortung übernommen und das Risiko auf mich genommen, ein Publikum zu haben, denn das war mein wahres Ziel.

      Da habe ich begonnen, zur See zu fahren und mich nicht immer anderswo über Wasser zu halten.

       Fahr davon, und mögen dich die Götter wiederum mit den unversehrten Gefährten bewahren, während du das Goldene Vlies für den König bringst, so wie du willst und es dir lieb ist! […] Denke freilich, zugleich wenn du doch abivesend und wenn du schon zurückgekehrt bist, an Hypsipyle!

      Mit diesen Worten verabschiedete sich die Königin von Jason – und endlich konnte sie einen Wunsch an die Götter richten: wieder lieben zu können und Mutter zu werden.

      Die Frauen von Lemnos begleiteten die Helden weinend zum Ufer – doch das waren keine Tränen der Trauer, sondern der Aufrichtigkeit.

      Ihr Weinen galt den Göttern, damit sie den Argonauten eine glückliche Rückkehr ermöglichten.

      Jason betrat als erster das Schiff, die Gefährten taten es ihm nach, setzten sich in Reih und Glied und ergriffen die Ruder.

      Das Meer kennt weder Straßen noch Richtung, nur Schwellen, die man überschreiten muss.

      Und du allein hast die Aufgabe zu entscheiden, wohin du fährst, der du zur See fährst wie wir alle.