Andrea Marcolongo

Das Meer, die Liebe, der Mut aufzubrechen


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Achseln.

      Du hast ja schon genug erlebt.

      Irgendwann wollen wir diesen Schauder nicht mehr spüren oder verwechseln ihn mit einem kalten Luftzug, der uns in unserem Alltagstrott stört.

      Wir verschanzen uns, wappnen uns mit Ausflüchten.

      Unsere Schritte werden vorhersehbar und schwer wie Schnee im Winter, bis wir nicht einmal mehr gehen.

      Es geht so, antworten wir und bemerken gar nicht, dass wir rückwärts gehen.

      Wir stöhnen über die Montage des Lebens, über Unerwartetes, über die ständigen ersten Male, wir sind nicht länger neugierig, wir wollen nichts Neues mehr – danke, mir geht es gut so –, wir wollen, dass jeder Tag Sonntag ist, da können wir in aller Ruhe auf unserem kleinen Sofa liegen und uns unseren Gewissheiten hingeben.

      Wir laufen vor dem Instinkt zu leben davon und fordern einen Urlaub vom Leben – Urlaub, vacanza bedeutet jedoch Fernbleiben, Fehlen.

      Wir bemühen uns inständig, den Ur-Instinkt des Aufbruchs zurückzuweisen.

      Und am Abend sind wir zunehmend müde und leer.

      Wenn wir bloß zur Kenntnis nähmen, wie viel Energie es kostet, unsere Wünsche Tag für Tag zu unterdrücken, zu lügen, nichts zu sagen, um nichts zu zeigen.

      Wenn wir bloß einmal die schweren Schuhe auszögen, um barfuß zu gehen und das frisch gemähte, weiche Gras oder die sanfte Brise zu spüren.

      Wenn wir bloß den Flügeln an den Füßen – die wir wie die Boreas-Söhne, die auf der Argo in See stachen, besitzen, auch wenn man sie nicht sieht – erlaubten, sich in die Lüfte zu erheben.

      Wenn wir uns bloß daran erinnerten, dass wir alle einmal Argonauten waren, denen es egal war, wenn alle das ist unmöglich sagten – für uns war es nicht nur möglich, sondern eine Pflicht. Wir hatten ein Bedürfnis, wir wollten uns beweisen, um danach leben zu können.

      Unzulänglichkeit: das trifft für uns alle zu, die wir Reisende ohne festgelegten Kurs sind.

      Auch für dich.

      Für dich, der du die Kontrolle über dein Schiff verloren hast.

      Ein Sturm hat seinen Rumpf beschädigt.

      Oder es ist an einem Ort gestrandet, der in deinen Karten nicht vorgesehen, nicht eingezeichnet war – jetzt kannst du nicht mehr sagen, das hängt nicht von mir ab, das ist nicht meine Schuld. Du hast zwar recht, aber es nützt nichts.

      Oder du bist woanders gelandet, nicht in dem Hafen, den du dir vorgenommen hattest. Einem fremden Hafen, wo du dir immer fremd sein wirst.

      Zum ersten Mal nimmst du zur Kenntnis, dass die Reise, die du unternimmst, nicht umkehrbar ist.

      Sogar der große Gatsby ist gescheitert, konnte die Vergangenheit nicht zurückerobern.

      Am Horizont kein Licht eines Leuchtturms.

      Nicht einmal ein Fernrohr ist auf dich gerichtet.

      Warum auch? Niemand kümmert sich mehr um die anderen.

      Heutzutage ist der Blick nur noch nach innen gerichtet.

      Ein Kurswechsel ist notwendig.

      Am Bug, am Heck oder in der Mitte dringt Wasser ein. Du darfst entscheiden, wo.

      Die beste Strategie, um sich für die Wirklichkeit zu rüsten, ist die Fantasie.

      Aber seit allzu langer Zeit gönnst du dir nicht mehr den Luxus, dir das Unvorhergesehene vorzustellen – auf hoher See nennt sich dieser Luxus Vorsicht.

      Plötzlich dringt Wasser ein, dasselbe Wasser, das du bis vor Kurzem noch lächelnd betrachtet hast, als ob es freundlich, vertraut, dein gewesen wäre.

      Doch es war nicht freundlich, wie konntest du das nur glauben?

       „Mir kann das nicht passieren.“

      Richtig. Wahr. Sehr wahr.

      Wenn du willst, kannst du weiterhin so denken, mach die Augen noch eine Zeitlang zu, atme, genieß die Reise, mach Fotos – wenn sie uns gefallen, liken wir sie mit einem Herzchen, wenn nicht, fügen wir ein weinendes Smiley hinzu, mehr können wir aus der Ferne nicht für dich tun.

      Du kannst gern verleugnen, dass es im Leben U-Boote gibt, die plötzlich Torpedos abfeuern, die nicht auf deinem Radar sind – du kannst allerdings Gift darauf nehmen, dass du auf ihrem bist.

      Außerdem gibt es Klippen, Untiefen, hinterhältige Strömungen, Seeungeheuer, Eisberge, die die Titanic zum Sinken gebracht haben, während das Orchester zur Katastrophe spielte.

      Glatt wie Wasser. Viele verwenden diese Redewendung, allerdings nicht die Seeleute. Auch du hast diese Redewendung unendlich oft verwendet. Du hast dein Schiff mit einer Fähre verwechselt, hast wie ein Pendler gelebt, der von einem bekannten Ufer zum anderen übersetzt. Wie ein Tourist.

      Jetzt liegt nur das Unbekannte vor dir.

      Unbekannt, oder nicht gekannt, nicht erkannt, nicht zur Kenntnis genommen.

      Die Verneinung dessen, was auf der Schwelle des Tempels von Delphi stand: γνῶϑι σαυτόν (gnothi sautön). Erkenne dich selbst. Eine Aufforderung an alle, die aus ganz Griechenland kamen, um vom Orakel eine Antwort zu bekommen. Bevor du jemand anderen zur Zukunft befragst, entdecke lieber das Einzige, was du schon weißt und was dir niemand anderer sagen kann: Erkenne dich selbst.

      Zweitausend Jahre später: Wer erinnert sich an den Film Matrix?

      In der Küche des Orakels befindet sich derselbe Spruch auf Latein: Temet nosce.

      Er soll den „Auserwählten“, Neo, daran erinnern, dass die Selbsterkenntnis die einzige Möglichkeit ist, ein höheres Niveau zu erreichen.

      Verwirrt fragt Neo, wie er wissen könne, dass er wirklich auserwählt wurde, und ob es wirklich an der Zeit sei, aufzubrechen. Das Orakel lächelt bloß: Niemand muss uns sagen, dass wir verliebt sind. Wir spüren es und aus.

      Und du, was spürst du?

      Wie sehr kennst du dich selbst?

      Und was von dir ist dir noch unbekannt?

       Sich über Wasser halten

      Kurz und gut, die Erfahrung und die Gesetze der Physik lehren, dass die Menschen für gewöhnlich mehr Zeit haben, sich bei einem Schiffbruch zu retten, als sie glauben.

      Verlassen Sie Ihr Schiff erst, wenn es keine andere Möglichkeit mehr gibt.

      Vertrauen Sie dem Auftrieb, er erklärt, warum Dinge sich über Wasser halten.

      Wie schön war doch die Argo auf ihrer ersten Fahrt, sobald sie mit vollen Segeln aus dem Hafen der Stadt Iolkos ausgelaufen war.

      Und die Fische, die von unten aus der tiefen Salzflut heraufkamen, unendlich große, vermischt mit kleinen, folgten, durcheinander springend, den feuchten Pfaden. Und wie ivenn den Spuren eines ländlichen Aufsehers zehntausend Schafe zum Gehöft folgen, die sich genugsam am Gras satt gefressen haben, der aber geht voran und spielt mit der helltönenden Syrinx schön eine Hirtenweise: so begleiteten nun die Fische sie. Und das Schiff trug immer eine Brise nach der anderen.

      Am frühen Morgen sahen die Argonauten den Berg Athos vor sich, der seinen majestätischen Schatten auf alle Inseln rundherum warf.

      Den ganzen Tag lang wurden sie von günstigen Strömungen getragen, und als am Abend der Wind verebbte, landeten sie auf der Insel Lemnos, im nördlichen Teil der Ägäis, auf dem Weg zu ihrem Ziel, dem Bosporus.

      Wie lebt man ohne