gefrieren. Der Hals seiner Frau war von einem Ohr zum anderen aufgeschlitzt. Ihre erst kürzlich erstandene Sommerbluse war rot getränkt und eine Blutlache hatte sich unter dem Beifahrersitz gebildet. Hans-Jürgen wurde so weiß wie der Lack seines Mercedes. Ein Brechreiz überwältigte ihn und er taumelte ins Freie. Dort sank er auf die Knie und würgte solange, bis er sich endlich übergeben konnte. Noch im Knien blitzte über ihm eine silberne Schneide auf, surrte auf ihn herab und trennte mit einem glatten Schnitt den Kopf von seinen Schultern. Der Kopf rollte unter den Wagen, und noch im Rollen trug Hans-Jürgen das Grauen des Augenblicks auf seinem Gesicht.
Die Bio-und-Wellness-Alm
Die Bio-und-Wellness-Alm thronte auf einem sanften Hügel wie eine moderne Burg. Umgeben von den Obstgärten und Weinbergen der Südsteiermark erwartete den Gast ein Vier-Sterne-Hotel mit einem großen Panoramapool und einer fantastischen Aussicht. In der Ferne konnte man das Massiv des Hochwechselgebirges erkennen. Da der Winter bis in den April hinein gedauert hatte, funkelte auf einzelnen Bergkuppen noch immer Schnee. Eine Übergangszeit gab es längst keine mehr – vom Winter direkt in den Sommer.
Das Hotel warb mit Bio- und Vollwertkost sowie der Zusicherung: Wir sprechen Ihre Sprache – was immer das heißen mochte. Die zahlreichen Gäste kamen aus dem In- und Ausland, und jene, die sich die sündteuren Preise leisten konnten, quartierten sich gleich für mehrere nachhaltige Wochen ein. Das Hotel beherbergte jedoch auch solche Kurgäste, die von ihren Krankenkassen geschickt worden waren und einen lächerlich kleinen Anteil zu ihrem Aufenthalt zuschießen mussten. Das sorgte öfters für böses Blut zwischen den privaten Gästen und den anderen.
Samstag war An- und Abreisetag, und heute war wieder Samstag. Familie Schneider aus Wien rückte bereits um neun Uhr mit vier Personen an: Opa Lutz, Sohn Walter, Schwiegertochter Beate und Enkel Tommy. Opa stützte sich neuerdings auf einen Rollator, den ihm seine Schwiegertochter vor der Abreise gekauft hatte, damit er während seines Aufenthalts unabhängiger von ihrer Hilfe war. Ihre Zimmer lagen deshalb auch im Erdgeschoss und Opa teilte sich seines mit Tommy.
Sein Enkel mit dem blonden Wuschelhaar und den strahlend blauen Augen sah seinen Eltern gar nicht ähnlich, die beide braune Augen und brünette Haare hatten, wenn auch jetzt schon ein wenig angegraut. Sein Aussehen hatte Tommy eindeutig von Opa geerbt, als dieser jung gewesen war – also noch während des Dreißigjährigen Krieges, wie Tommy gern scherzte, der Geschichte studierte. Er liebte seinen Opa, denn Opa machte bei jedem Blödsinn mit. Im Gegensatz zu seinen Eltern war es Tommy nämlich komplett wurscht, ob Opa sich daneben benahm, obszöne Ausdrücke gebrauchte, sich vollkleckerte, in die Hose pinkelte oder heimlich rauchte. Opa seinerseits war es völlig wurscht, ob Tommy mit seinen fünfundzwanzig Jahren noch weitere zehn Jahre auf Kosten seiner Eltern studierte, mehr Zeit mit dem Smartphone verbrachte als im Hörsaal, sich ab und zu einen Joint genehmigte und die Freundinnen wechselte wie andere die Unterwäsche – Opa und Tommy waren ein zusammengeschweißtes Gespann.
In Wien teilte sich die Familie ein Einfamilienhaus in Döbling. »Drei Generationen unter einem Dach ist einfach nicht gut«, hatte Beate in der Vergangenheit immer wieder zu Walter gesagt. »Noch dazu mit einem Vater wie dem deinigen.«
»Ich kümmere mich wenigstens um meinen Vater!«, hatte Walter daraufhin immer geantwortet und auf Beates Vater angespielt, den sie längst an ein Seniorenheim losgeworden war. Beate hingegen empfand es als Zumutung, sich mit dem alten Herrn sogar im Urlaub zu belasten.
»Stell dir vor, ich würde auch noch meinen Vater pflegen müssen! Dann hätte ich zwei senile Witwer am Hals. Du bist damit ja nicht belastet. Du gehst am Morgen aus dem Haus und abends, wenn du heimkommst, liegt Opa gefüttert und gewindelt in seinem Bett. Zusätzlich habe ich noch deinen faulen Sohn zu versorgen …«
»Unseren Sohn! Außerdem lebt ihr von meinem Geld«, betonte Walter, der seine Brötchen in einem großen Versicherungsunternehmen verdiente. »Da kann ich auch ein wenig Engagement erwarten.«
Walter, der Ernährer! Wer das Geld heimbrachte, schaffte an. Dass sie ihre Arbeit in einer Anwaltskanzlei aufgegeben hatte, um für seinen Vater zu sorgen, sah er als selbstverständlich an, denn Walter war noch ein Überbleibsel aus einer Zeit, wo Frauen am Herd ihre Erfüllung fanden, und das, obwohl er mit seinen neunundvierzig Jahren noch gar nicht so alt war. Sie kannte weitaus ältere Männer, die moderner dachten. Die Rolle als Familienoberhaupt aber nahm in seinem Leben so viel Platz ein, dass er die Rolle als Ehemann und Liebhaber längst verdrängt hatte. Erotik und Sex kannte Beate nur noch aus den Frauenzeitschriften beim Friseur oder aus der Erinnerung. Und die verblasste mit jedem Jahr mehr. Selbst Opa hatte für Erotik und Sex mehr übrig, wenn man ihm manchmal so zuhörte. Und obwohl sein Gebrabbel für die Anwesenden meist mehr peinlich als amüsant war, merkte man deutlich, dass in diesem alten Körper noch jede Menge Leben steckte. In Walters Körper hingegen steckte außer der Frage nach dem Stand seiner Aktien nur noch die Frage, was es heute zu essen gab.
Nach dem Einchecken begann Familie Schneider damit, sich einzuquartieren. Auf einem lichtdurchfluteten Flur mit Ausblick auf die sanften Hügel des Umlands gelangten sie auf einem roten Teppichläufer zu ihren Zimmern. Beate und Walter schleppten die vier Koffer und acht Reisetaschen in mehreren Etappen, Tommy trug Opas Rollator und Opa trug sich selbst. Nachdem Opa die Größe des Zimmers bemängelt hatte, Beate erst mal eine Verschnaufpause einlegen musste und Tommy mit dem Telefonieren fertig war, versammelte sich die Familie Punkt zwölf Uhr um den Mittagstisch im ersten Stock.
Es gab noch einen Speisesaal im Erdgeschoss, aber dort saßen, wenn es sich einrichten ließ, fein getrennt von den zahlenden Gästen, die Kassenpatienten gemeinsam mit den Schnuppergästen, die nur ein bis drei Tage blieben. Vom oberen Speisesaal aber mit acht raumhohen Rundfenstern hinter zarten cremefarbenen Vorhängen, durch die eine frische Brise hereinwehte, hatte man die beste Aussicht auf die steirische Landschaft mit den saftigen Obst- und Weingärten, gesprenkelt mit einzelnen Gehöften. Ein leises Raunen der rund siebzig Gäste, die sich für das Mittagessen fein herausgeputzt hatten, erfüllte den Raum.
Da im Mai Hochbetrieb herrschte, musste Familie Schneider den Tisch mit zwei wildfremden Personen teilen, worüber sich Walter beim Restaurantmanager heimlich beschweren ging. Er hatte gedacht, die Familie würde unter sich bleiben. Der Restaurantmanager bedauerte, aber es müsse diesmal eine Ausnahme gemacht werden, außerdem wollten die beiden Damen nächste Woche abreisen, und sie seien doch sehr sympathisch.
»Das wird sich erst noch herausstellen!« Mit diesen Worten kehrte Walter an den Tisch zurück, wo bereits die Vorspeise serviert worden war. Es gab Rohkost mit Joghurtdressing, spärlich garniert mit Dinkelkörnern.
»Von Rohkost krieg ich Blähungen«, kündigte Opa an.
Beate warf ihm einen stummen, aber warnenden Blick zu. Sie wusste nur zu gut, wie es sich anhörte, wenn es in seiner Hose krachte. Zu Hause war es unangenehm genug, aber vor diesen fremden Leuten!
»Lass die Rohkost lieber stehen«, riet sie ihm daher im Befehlston und schob den Teller außerhalb seiner Reichweite.
»Wenn’s Arscherl brummt, ist‘s Herzerl g‘sund!«, krähte Opa.
»Entschuldigen Sie bitte meinen Schwiegervater«, bat Beate mit einem verlegenen Lächeln ihre beiden Tischnachbarinnen. »Übrigens – ich bin Beate Schneider.«
»Professor Dr. Gloria Rosenblatt«, stellte sich die Ältere vor.
»Margot Kitzler«, schloss sich die Jüngere an.
Tommy prustete und wurde hochrot im Gesicht. Walter, der seinem Sohn gegenübersaß, verpasste ihm unter dem Tisch einen Tritt gegen das Schienbein.
»Ich bin Walter Schneider.« Er legte seinen Arm um Opa. »Das ist mein Vater, Lutz Schneider. Und Tommy, unser Sohn.«
»Schön, dass Sie Ihren Vater mitgenommen haben«, lobte Frau Professor Rosenblatt. »Heutzutage wird unsere ältere Generation viel zu oft vernachlässigt. Abgeschoben in irgendein Heim, wo man dann auf den Tod wartet.«
»Ich