habe auch nicht Sie gemeint!« Frau Professor Rosenblatt lächelte milde. »Sie haben ja eine Familie, die für Sie sorgt, Sie Glückspilz!«
»Wie lange wollen Sie bleiben?«, erkundigte sich Margot Kitzler, eine Frau Anfang vierzig mit der Gestalt einer Aphrodite – üppiger Busen, gebärfreudiges Becken, schmale Taille – und einem Gesicht, so gesund und rotbäckig, wie ein frisch gepflückter Apfel. Ihre gekrausten Haare von undefinierbarer Farbe trug sie zu einem seitlichen Zopf geflochten.
»Wir bleiben drei Wochen«, antwortete Beate, »und ich hoffe, wir erholen uns gut.«
»Das werden Sie bestimmt«, zeigte sich Professor Rosenblatt optimistisch.
Walter schätzte die Frau Professor auf Mitte sechzig, aber mit der Figur einer jungen Frau. Das naturgraue Haar trug sie als schicken Kurzhaarschnitt und ihr pinkfarbenes Tankshirt zu den knallorangenen Leggings wies sie als eine jener Frauen aus, die nicht alt werden wollten. Ihr Gesicht mit der randlosen Brille glich einem etwas runzeligen Smiley, da ihre Mundwinkel stets nach oben zeigten, was ihr einen lustigen Ausdruck verlieh. Doch der Eindruck sollte täuschen.
»Sie reisen nächste Woche ab, hat mir der Restaurantmanager verraten?«, wollte Walter auf Nummer sicher gehen. »Das finde ich aber sehr schade, nun, da wir uns gerade erst kennengelernt …«
»Ich habe verlängert!«
»Was Sie nicht sagen!«
»Ich auch!«, freute sich Margot Kitzler. »Das Essen hier tut mir so gut! Und diese vielen Anwendungen, einfach ein Genuss. Wenn auch nicht ganz billig.«
Das konnte ja heiter werden. Walter sah sich nach dem Kellner um, damit dieser endlich abräumte, weil Opa sich seine Rohkost wiederholt unter den Nagel reißen wollte.
»Nicht ganz billig?« Professor Rosenblatt hob eine Augenbraue und bedachte Frau Kitzler mit einem geringschätzigen Schniefen ihrer Nase. »Ihnen kostet doch der ganze Aufenthalt fast nix! Sie sind ja von der Kasse hergeschickt worden, soviel ich weiß.«
»Nur keinen Neid, bitte!«, schnappte Frau Kitzler zurück.
»Ich bin Ihnen gar nichts neidig, ich sage bloß.«
»Die Verlängerung muss ich mir selber bezahlen, wenn Sie es genau wissen wollen. Das zahlt die Kasse nicht.«
»Vier Wochen um den Preis von einer! Kein Wunder, wenn unsere Krankenkassen aus dem letzten Loch pfeifen.«
»Ihre Beamtenversicherung kriegt vom Staat am meisten Zuschuss!«, wollte Frau Kitzler das letzte Wort behalten.
Beate, die eine harmoniebedürftige Frau war, empfand den Disput als unangenehm und auch nicht angebracht, denn schließlich kannten sie sich kaum. Aber Frau Kitzler und die Frau Professor dürften schon mehrere Scharmützel dieser Art ausgetragen haben, so wie sie miteinander umgingen.
»Welche Studienfächer unterrichten Sie denn?«, fragte Beate die Frau Professor Rosenblatt, um dem Gespräch eine Wendung zu geben.
»Ich habe in Wien Geografie und Germanistik unterrichtet«, freute sich diese über das Interesse. »Aber ich bin schon in Pension, ich bin ja weit über sechzig.«
»Das sieht man Ihnen gar nicht an«, bemerkte Beate höflich. »Ich hatte auch mal ein Studium angefangen«, erzählte sie. »Rechtswissenschaften. Aber dann habe ich meinen Mann kennengelernt, kurz darauf kam Sabine, Tommys ältere Schwester. Na ja, Sie wissen sicher auch, wie das so läuft bei uns Frauen.«
»Ich habe keine Kinder, dafür bin ich in meinem Beruf voll und ganz aufgegangen!«, trumpfte Frau Professor Rosenblatt auf.
Voll Neid im Herzen musterte Beate ihr Gegenüber. Eine selbstständige unabhängige Frau, die ihr eigenes Geld verdient hatte und heute ihre sicherlich schöne Pension mit niemandem teilen musste.
»Beneidenswert«, seufzte sie.
Da die Frauen am Tisch mit ihrer ehrlichen Meinung nicht hinterm Berg hielten, erlaubte sich Walter ebenfalls eine Bemerkung. »Gerade du brauchst dich nicht zu beschweren!«, sagte er zu seiner Gemahlin. »Seit du geheiratet hast, wird für dich gesorgt.«
Noch ehe Beate etwas entgegnen konnte, fiel ihr Opa in den Rücken: »Ein eigener Herd, ein braves Weib ist Gold und Perlen wert.«
Tommy, der dem Gespräch nur mit halbem Ohr zugehört hatte, gluckste leise. Die anderen ignorierten Opas Kommentar, bis auf Frau Kitzler, die meinte: »Im Gegensatz zu Frau Professor Rosenblatt habe ich eine eigene Familie stets vermisst.«
Walter freute diese Einstellung, die ganz seiner entsprach, musste aber mit der Antwort warten, denn der Kellner servierte die Hauptspeise. Es gab Okragemüse über Vollkornnudeln. Schockiert studierte er den weißen Porzellanteller mit den dunkelbraunen Nudeln, die er an den Fingern einer Hand hätte abzählen können. Rinderbraten oder Schweinemedaillons als Alternative zum vegetarischen Futter würde es hoffentlich dann am Abend geben.
Als der Kellner fort war, knüpfte er an das Gespräch an und wollte von Frau Kitzler wissen: »Wie war das mit der Familie, die Sie nie hatten?«
Diese seufzte. »Leider hat sich in meinem bisherigen Leben eine eigene Familie nicht ergeben. Immer nur arbeiten, kaum Zeit, auszugehen … und heute bin ich zu alt.«
»Sie sind doch nicht alt!«, widersprach Walter heftig.
»Für Kinder schon.«
»Aber nicht für einen liebenden Ehemann.«
»Und woher nehmen, wenn nicht stehlen?«
Darauf wusste Walter auch keine Antwort, denn er und Beate hatten sich in einer Disco kennengelernt und gleich darauf geheiratet, da waren sie beide gerade um die zwanzig gewesen. Wie man heutzutage jemanden kennenlernte, darüber konnte er am allerwenigsten Auskunft geben.
»Wie wäre es mit einer Anzeige bei der Singlebörse?«, schlug Tommy vor. »Das machen heute viele in Ihrem Alter.«
»Tommy!«, tadelte Beate ihren Sohn mit unterdrückter Stimme. »Verzeihen Sie bitte … die Jugend! Redet halt, wie ihr der Schnabel gewachsen ist.«
»Ich will doch nicht irgendeinen Mann!«, empörte sich Frau Kitzler. »Aber Sie, mit Ihren zwanzig Jahren, haben natürlich leicht reden!«
»Tommy ist schon fünfundzwanzig«, gab Beate zu und schämte sich ein wenig für ihren infantilen Sohn.
»Wenn Sie auf den Traumprinzen warten«, spöttelte Frau Rosenblatt, »dann friert eher die Hölle zu! Wer zu anspruchsvoll ist, bleibt über.«
»So wie Sie?«, fragte Margot Kitzler schnippisch zurück.
»Meine Beziehungslosigkeit beruht auf Freiwilligkeit, das ist ein riesengroßer Unterschied. Alleinsein ist nicht mit Einsamkeit gleichzusetzen, ich bin gern allein.«
»Selbstverliebt genug sind Sie ja.«
Walter bereute schon, mit diesem Thema überhaupt angefangen zu haben. Zum Glück wurde die Nachspeise serviert und die Aufmerksamkeit richtete sich auf das Kirschenkompott.
»Gibt es hier eigentlich auch etwas Handfestes zu essen?«, grollte er und schielte auf das Glas mit den losen Früchten, die in einem dünnen Saft schwammen.
»Wenn Sie Schokoladentorte mit Schlagsahne erwarten, dann haben Sie das falsche Hotel gewählt«, sagte Frau Professor Rosenblatt.
»Ich finde das Essen cool!«, rief Tommy. »Endlich mal kein Fleisch.«
»Und nichts, das dick macht«, freute sich Beate. »Iss, Schatz!«, feuerte sie ihren Mann an. Diesmal konnte er nicht ihr die Schuld am Essen geben, denn das Hotel hatten sie gemeinsam ausgesucht.
»Uns ist ganz kannibalisch wohl, als wie fünfhundert Säuen!«, zitierte Opa aus Goethes Lustige Gesellen und spuckte einen Kern quer über den Tisch.
Walter Schneider lernt das Fürchten