Patricia Vandenberg

Dr. Norden (ab 600) Jubiläumsbox 8 – Arztroman


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      »Ich hatte heute fünf Operationen, drei Besprechungen und eine Unmenge an Telefonaten. Mal abgesehen von meiner Sprechstunde und den Patienten, die mich darüber hinaus sehen wollten«, erklärte sie das, was Andrea als ihre Assistentin längst wusste. »Stellen Sie sich vor: Auch ich habe ein Zuhause und bin froh, wenn ich irgendwann einfach nur mal gehen kann.«

      Doch Andrea hatte nicht vor, sich auf eine Diskussion einzulassen.

      »Sie haben es versprochen«, wiederholte sie.

      »Wenn ich damals gewusst hätte, wie grausam Sie sind, hätte ich Sie nicht eingestellt!«, bemerkte Jenny düster.

      »Doch, das hätten Sie!« Selbstbewusst, wie sie war, ließ sich die pflichtbewusste Assistentin nicht beirren.

      Sie zwinkerte ihrer Chefin zu und verließ das Zimmer.

      Seufzend ließ sich die Klinikchefin wieder auf den Stuhl fallen und starrte auf die Mappen. Endlich hob sie die Hand. Aber nicht etwa, um sie zu öffnen, sondern um nach dem Telefonhörer zu greifen und eine Nummer zu wählen.

      »Ich bin’s, Fee«, sagte Jenny, als sich ihre langjährige Freundin und Kollegin meldete, die seit einiger Zeit ihre Ausbildung zur Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie in der Behnisch-Klinik machte. »Du musst mir einen Gefallen tun.« In knappen Worten erläuterte sie ihr Dilemma, und Felicitas stimmte lachend zu.

      Die Klinikchefin legte auf und spitzte die Ohren. Gleichzeitig schlug sie eine der Mappen auf und nahm einen Füller zur Hand. Sie hatte den ersten Brief noch nicht ganz durchgelesen, als tatsächlich Andrea Sanders Telefon klingelte. Jenny konnte nicht genau verstehen, was gesprochen wurde. Aber das war auch nicht nötig, denn gleich darauf klopfte es. Schnell beugte sie sich über die Unterschriftenmappe.

      »Tut mir leid, wenn ich nochmal stören muss«, erklärte Andrea Sander sichtlich zerknirscht. »Frau Dr. Norden war dran. Die Eltern eines kleinen Patienten wollen Sie unbedingt sprechen.«

      »Unmöglich!« Ohne den Blick von der Mappe zu heben, schüttelte Jenny entschieden den Kopf. »Ich habe mindestens für die nächsten zehn Jahre zu tun.«

      Andrea lachte schuldbewusst auf.

      »Vielleicht haben die Unterschriften doch noch bis morgen Zeit«, gab sie nach.

      Innerlich gratulierte sich Jenny Behnisch zu ihrer gelungenen List. Doch nach außen hin trug sie eine bedauernde Miene zur Schau.

      »Na gut!«, seufzte sie ergeben und legte den Füllhalter zur Seite. »Dann bis morgen!« Sie griff nach Mantel und Aktentasche und ging an Andrea vorbei aus dem Büro.

      Auf dem Weg zum Wagen traf sie Fee, die sich auch auf den Nachhauseweg machen wollte. Die beiden Frauen tauschten einen verschwörerischen Blick, ehe sie Seite an Seite weitergingen.

      »Du hast mir den Feierabend geret­­tet«, bedankte sich Jenny. »Wenn ich noch eine Verabredung absagen muss, steigt mir Roman aufs Dach.«

      »Aber er ist doch selbst im Augenblick gut beschäftigt.« Fee dachte an die kleine Bäckerei, die die Freundin ihres ältesten Sohnes führte.

      Roman Kürschner hatte sich bereit erklärt, das Geschäft mit dem angeschlossenen Café nach gemeinsamen Plänen umzugestalten und ein kleines Paradies daraus zu machen.

      »Das schon«, stimmte Jenny ihrer Freundin bekümmert zu. »Aber erstaunlicherweise bringt er es immer fertig, sich die Termine mit mir freizuhalten. Irgendwas scheine ich falsch zu machen.«

      »Vielleicht sind dir eure Verabredungen nicht so wichtig wie ihm«, entfuhr es Felicitas spontan.

      Fast sofort bereute sie ihre Gedankenlosigkeit.

      »Was soll denn das schon wieder heißen? Im Gegensatz zu mir hat Roman viel mit Papier zu tun, und das ist ja bekanntermaßen geduldig.« Jennys Stimme war erstaunlich schroff, und Fee zuckte erschrocken zusammen. »Zumindest geduldiger als Patienten.«

      Felicitas wusste, dass sie zu weit gegangen war. Jenny war eine mehr als engagierte Ärztin, die sich für ihre Patienten aufopferte, und auf keinen Fall wollte sie ihre Freundin verletzen.

      »Tut mir leid. Ich wollte dir nicht zu nahe treten.«

      Doch Jennys Gedanken waren längst weiter geeilt. Sie schüttelte den Kopf.

      »Es liegt an Andrea. Sie kann einfach nicht ›Nein‹ sagen, wenn jemand ein Anliegen an mich hat, und stopft meinen Terminkalender dermaßen voll, dass ich nicht mehr weiß, wo links und recht ist.« Es war einfach, die Schuld komplett auf ihre Assistentin zu schieben. Jenny wusste das und schämte sich ein bisschen.

      Inzwischen waren die beiden Frauen an Fees Wagen angelangt und blieben stehen.

      »Warum sprichst du nicht mit ihr darüber?«, erkundigte sich die Ärztin, während sie in ihrer Handtasche nach dem Autoschlüssel suchte.

      »Das nützt doch eh nichts«, tat Jenny entschieden ihre Meinung kund.

      Doch Fee war anderer Ansicht und machte trotz der vorangegangenen Ablehnung keinen Hehl aus ihrer Ansicht.

      »Könnte es auch sein, dass du einfach den Konflikt scheust?«, fragte sie und ließ die Schlösser des Wagens aufschnappen.

      Um nicht wieder ausfallend zu werden, lachte die Klinikchefin unfroh.

      »Du bist mit Sicherheit die Erste, die das von mir behauptet. Aber sag, wie machen Daniel und Danny das mit ihren Assistentinnen?«

      Felicitas stellte die Aktentasche auf den Rücksitz und schlug die Wagentür zu.

      »Hin und wieder setzen sie sich gemütlich zusammen, essen was Schönes und trinken ein Glas. Bei diesen Gelegenheiten werden solche Dinge geklärt. Im entspannten Rahmen geht das alles«, wusste sie aus dem weitgehend harmonischen Praxisalltag zu berichten.

      »Und das hilft?« Jenny dachte nicht daran, einen Hehl aus ihrer Skepsis zu machen.

      »Na ja, nicht immer«, gestand Fee und erinnerte sich an das heutige Telefonat mit ihrem Mann, in dem er seinen Unwillen über die vielen zusätzlichen Termine sehr deutlich zum Ausdruck gebracht hatte. Im Gegensatz zu Jenny Behnisch hatte sich Daniel aber vorgenommen, so bald wie möglich ein ernstes Wort mit seinen Assistentinnen zu reden. »Aber immer öfter«, fügte sie daher lächelnd hinzu.

      Skeptisch wiegte Jenny Behnisch den Kopf.

      »Ich werd es bei Gelegenheit ausprobieren«, gab sie sich geschlagen. »Viel wichtiger erscheint es mir allerdings im Augenblick, was ich mit Roman mache. Wie stimme ich ihn versöhnlich?«, kehrte sie zum Ausgangspunkt ihres Gesprächs zurück. »Denn so, wie es im Augenblick ist, geht es offenbar nicht weiter.«

      »Lass ihn eine Hauptrolle in deinem Leben spielen!«, empfahl Felicitas, ehe sie in den Wagen einstieg. »Sonst sucht er sich womöglich doch irgendwann eine andere Bühne mit einer anderen Hauptdarstellerin.« Sie zwinkerte Jenny zu und startete dann den Motor.

      Auch Fee hatte eine Verabredung mit ihrem Mann und wollte nicht länger darauf warten, dass sie Daniel endlich wiedersah, um die letzten kostbaren Stunden des Tages mit ihm und ihrer Familie zu teilen. Ihr oberstes Interesse galt ihrem Liebsten und ihrer Familie, und trotz allem Stress versuchte Felicitas, ihn das jeden Tag aufs Neue spüren zu lassen.

      *

      »Hey, das sieht ja schon richtig gut aus hier!« Danny Norden stand mitten in der kleinen Bäckerei und drehte sich um die eigene Achse. »Wenn die Handwerker hier fertig sind, hast du ein richtiges kleines Paradies.« Tatsächlich hatten die Arbeiter, die Roman Kürschner engagiert hatte, innerhalb kürzester Zeit ganze Arbeit geleistet, und die beiden ehemals tristen, schmucklosen Räume waren nicht wiederzuerkennen. Wände waren gewichen, Rohre und Leitungen modernisiert und neu verlegt worden. Die hässliche Decke war unter mit Ornamenten verzierten, silbernen Metallplatten verschwunden, die den Räumen einen magischen Glanz verliehen. Sie bildeten einen schönen Kontrast zum dunkel gebeizten Holzboden und den Tischen und Stühlen in allen erdenklichen Formen, die wie die Kronleuchter vom Flohmarkt stammten. Tatjanas Mitarbeiterin,