die Habsburger mit der Nation recht schwer. Das Reich muss ja definitionsgemäß mehr sein als ein Dutzend dynastisch durch Heirat und/oder Kriegführung erworbener Landstriche samt Bevölkerung unter einer Herrschaft. Der Wiener Kongress 1814/15 versucht das Rad der Zeit zurückzudrehen, und es gelingt ihm immerhin für drei Jahrzehnte. Statt einer Nation gibt es »Nationalitäten«. Das sind viele Minderheiten, politisch und kulturell von einer knappen Mehrheit dominiert: den Deutschen. Immerhin wird 1816 nach den Napoleonischen Kriegen als Folge eines Beinahe-Staatsbankrotts die »Österreichische Nationalbank« gegründet.
Das Ringen um die Gleichberechtigung der »Nationalitäten« nimmt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an Dramatik zu, es prägt den politischen Diskurs in der Monarchie, wächst zur Existenzfrage, die nach dem Ersten Weltkrieg mit dem Auseinanderbrechen einer obsolet gewordenen Staatsform beantwortet wird. Was das »alte« Österreich war, das wird Millionen durch den Verlust bewusst. Was das »neue« Österreich sein soll, muss in ideologischen Konflikten – auch blutig – erstritten werden, bis ein gebürtiger Österreicher den Begriff selbst ausradiert, die Nennung des Namens gar unter Strafe stellt.
Und doch ist irgendwie immer klar: wer, was, und wo Österreich ist.
Das Unbestimmbare wird zum bestimmenden Element.
Dieses Buch versucht historische Ereignisse und ihre nachhaltige Wirkung zu beschreiben. »Sternstunden« leuchten am Himmel, strahlen zur Erde, sie verändern den Lauf der Geschichte und bedeuten für Menschen Wichtiges, Gutes, manchmal auch Schönes.
»Sternstunden« sind Ereignisse, Entscheidungen, Entdeckungen, manchmal auch Träume. Sie leiten einen zivilisatorischen Fortschritt ein und sind daher für ihre Zeit relevant. Der Sieg einer österreichischen Fußballnationalmannschaft im argentinischen Córdoba gegen Deutschland gilt als »Sternstunde«, war aber eher eine »Sternschnuppe«. Der knappe Erfolg in einem bedeutungslosen Spiel verfehlt unsere strengen Aufnahmekriterien. Hans Krankls Tor hat den Stürmer berühmt gemacht, aber nichts nachhaltig verändert.
Ist der Erfolg des Travestiekünstlers Thomas Neuwirth in seiner zweiten Identität als »Conchita Wurst« beim Eurovision Song Contest eine »Sternstunde« für Österreich, gar eine Lehrstunde für Toleranz? Wir werden es in ein, zwei Jahrzehnten wissen.
Meist wird die Geschichte eines Landes und/oder seines Volkes entlang von Krisen, Konflikten, Kriegen in der Kategorie von Siegen und Niederlagen erzählt. Das ist ein Teil der Wahrheit.
Wenn wir heute, weitgehend unwiderlegbar, in der besten aller Welten – und zwar für die größte Zahl von Menschen auf allen Kontinenten – leben, dann muss uns der Weg dahin nicht nur durch eine unüberschaubare Folge von Katastrophen geführt haben. Es muss auch eine zumindest ebenso große Folge kleinerer und größerer Schritte und Weichenstellungen zum »Besseren« gegeben haben. Wir Optimisten behaupten das. Entgegen einer weitverbreiteten Stimmungslage: Nie haben mehr Menschen so lange in Frieden, Sicherheit, Wohlstand und Freiheit gelebt wie heute. Dieser zivilisatorische Fortschritt wurde langsam zwar, quälend langsam und immer wieder mit katastrophalen Rückschritten und ungeheuren menschlichen Opfern erkauft, aber er ist da.
Dieses Buch beschreibt die helle Seite unserer Geschichte. Dunkle Seiten gibt es ohnehin genug.
Knapp drei Dutzend historische Ereignisse – wichtigere und scheinbar weniger bedeutende – leuchten in diesem Buch auf. Es sind »Sternstunden Österreichs«, die gar nicht selten auch zu »Sternstunden der Menschheit« wurden.
Wenn Ignaz von Semmelweis den Zusammenhang von Hygiene und Kindbettfieber erforscht, dann rettet seine Entdeckung das Leben von Millionen Frauen, erspart Leid und Tod. Wenn Sigmund Freud in der kühlen Luft des Wiener Cobenzl schläft und beim Frühstück seinen nächtlichen Traum analysiert, dann schafft er eine Grundlage der Psychoanalyse. Wenn der Kochlehrling Franz Sacher am Hofe des Fürsten Metternich ein Rezept für eine Schokoladentorte erfindet, versüßt er Millionen das Leben und mischt Wahrheit und Legende zu einer »typisch« wienerischen Melange. Wenn der Mathematiker Kurt Gödel in einem Café neben dem Rathaus einen mathematisch-logischen Beweis zur Existenz Gottes führt, dann blitzt ein heller Strahl menschlichen Genies auf, auch wenn er selbst nicht an seine Beweisführung glaubt. Und wenn in einer kleinen Kapelle in Oberndorf an der Salzach ein Pfarrhelfer und ein Volksschullehrer in einer kalten Weihnachtsnacht des Jahres 1818 auf ihrer Gitarre die ersten Akkorde des Weihnachtsliedes »Stille Nacht« anstimmen, dann kommt eine Harmonie in die Welt, die im Herzen von Hunderten Millionen Menschen auch zweihundert Jahre später noch nachschwingt.
Und für ein paar »Stern(en)minuten« Wärme spendet.
1156
»Zwei Fahnen für ein Herzogtum«
Die Geburtsstunde Österreichs
Österreichs Geburtsstunde ist eine Niederlage. Es ist der Spatz in der Hand statt die Taube auf dem Dach. Am 8. September des Jahres 1156 verzichtet Markgraf Heinrich II. Jasomirgott auf das mächtige Herzogtum Bayern. Jahrelang hat der Babenberger mit dem Welfen Heinrich, Beiname »der Löwe«, um das Herzogtum gerittert. Der Welfe siegt und herrscht in der bayerischen Landeshauptstadt Regensburg. Heinrich Jasomirgott weigert sich, seine untreue Hauptstadt auch nur zu betreten. Er, seine byzantinische Frau Theodora und das Gefolge schlagen ihr Lager rund drei Kilometer östlich der Mauern von Regensburg auf. Die Stadt im Blick. Ein Herzogtum verloren. Ein Herzogtum in Aussicht.
Der Babenberger vor der Stadt, sein Rivale hinter den Mauern. Beide Herren warten auf die Ankunft des Kaisers. Friedrich I. Barbarossa will den Streit zwischen Lehensmännern endlich schlichten. Während der vergangenen Monate haben seine Berater einen Kompromiss ausgearbeitet. Der Welfe soll sein angestammtes Bayern zurückbekommen, der Babenberger mit dem neu zu schaffenden »Herzogtum Österreich« abgefunden werden. Die Markgrafschaft ist nicht viel mehr als der östliche Teil des Herzogtums Bayern, ein Grenzland: Teile des heutigen Oberösterreichs und Niederösterreich. Den Kompromiss haben der Kaiser und die deutschen Fürsten auf dem Hoftag zu Regensburg beraten, verhandelt und schließlich beschlossen. Kaiser Friedrich I. Barbarossa ist an einem Ausgleich der Spannungen interessiert. Heinrich der Welfe und Heinrich der Babenberger haben beide gute Argumente für ihre jeweilige Rechtsposition. Es wird eine salomonische Lösung gefunden, die beiden Streitparteien einen gesichtswahrenden Ausstieg ermöglicht.
Besiegelt soll der Friedensschluss für alle sichtbar mit einer lehensrechtlichen Zeremonie werden: Samstag, der 8. September 1156, wird zum Geburtstag Österreichs.
Die Teilung des Herzogtums Bayern wird öffentlich erfolgen. Bischof Otto von Freising, ein Sohn des österreichischen Markgrafen Leopold III. aus dem Hause der Babenberger und der salischen Kaisertochter Agnes, Zisterziensermönch und größter Geschichtsschreiber der salisch-staufischen Zeit, ist der Chronist von Österreichs Geburtsstunde als eigenständiges Herzogtum. In seinen Gesta Friderici I imperatoris beschreibt er als Augenzeuge das Ereignis: »Mitte September kamen die Fürsten in Regensburg zusammen und erwarteten die Ankunft des Kaisers. Als dann die Begegnung des Kaisers mit seinem Oheim stattfand – dieser blieb nämlich zwei Meilen vor der Stadt in einem Zeltlager – wurde in Gegenwart aller Vornehmen und Großen die Vereinbarung, die man seit geraumer Zeit geheim gehalten hatte – veröffentlicht.« Das große Fürstentreffen findet im Lager Heinrichs »Jasomirgott« statt, der sich mit seinem Gefolge in den Barbinger Wiesen breitgemacht hat. Markgraf Heinrich empfängt seinen Onkel, Kaiser Friedrich I. Barbarossa, vor seinem Zelt. Im Gefolge des Kaisers sind alle deutschen Fürsten aus der Stadt ins Lager geritten. Sie bilden die bunte Kulisse eines mittelalterlichen Staatsaktes: Otto Bischof von Freising ist ebenso anwesend wie sein Amtsbruder Eberhard, Bischof von Salzburg, und der Patriarch von Aquileja. Die weltliche Macht ist durch den Kärntner Herzog Heinrich, Konrad, den Bruder des Kaisers, und Dutzende Markgrafen des Reiches vertreten.
Heinrich »Jasomirgott« übergibt dem Kaiser als Lehensherrn sieben Fahnen, die die Grafschaften Bayerns symbolisieren. Dieser reicht fünf Standarten an Heinrich den Löwen weiter, zwei gibt der Kaiser dem Babenberger Heinrich »Jasomirgott« zurück. Die Sensation des Augenblicks wird von den anwesenden Fürsten mit Erstaunen registriert: Nicht nur der zum Herzog beförderte Markgraf darf die Lehensfahnen berühren, Kaiser