Macht gekappt und stattdessen die zwischen Macht und Individuum geknüpft wurde; die ökonomische Ungleichheit versuchte er dadurch zu lindern, dass er politische Gleichheit förderte; und vor allem versuchte er zu erreichen, dass die Freiheit nicht mehr eine Unterkategorie von Besitz war. Damit legte er den Grundstein für etwas, das zu einer ewigen Herausforderung werden sollte: das Streben nach sozialer Gerechtigkeit, den ethisch motivierten Kampf gegen die von niederen Instinkten, roher Gewalt, ja vom Schicksal und der Natur selbst erzeugte Ungleichheit; ein großmütiger Einsatz des Menschen für den Menschen, der seinen Schwächen und Stärken gleichermaßen Rechnung trägt.
Die Seisachtheia, die mutige Entscheidung also, die auf Schulden beruhende Sklaverei abzuschaffen, war zweifellos eine jener Taten, die der Idee der Menschenwürde, Zivilgesellschaft und Demokratie den Weg ebneten. Heute, zweitausendsechshundert Jahre später, ist die auf Schulden beruhende Knechtschaft noch immer nicht abgeschafft, im Gegenteil: Es gibt immer noch Mächte in der Welt, politische wie wirtschaftliche, die es geradezu darauf anzulegen scheinen, die Menschheit mit Hilfe von Schulden de facto in sklavischer Abhängigkeit zu halten.
»Warum denn sollte ich, weswegen ich das Volk
zusammenbrachte, davon lassen vor dem Ziel?
Bezeugen soll es bei dem Richterspruch der Zeit
die größte Mutter, die der Götter des Olymp,
die beste schwarze Erde, der ich einst entfernt
den Grenzstein, überall in ihren Leib gerammt;
war sie vorher versklavt: jetzt aber ist sie frei.
Auch hab ich viele nach Athen zurückgeführt,
vom Gott erbaute Vaterstadt; verkauft mit Recht
der eine, ohne Recht der andre; Schuldenlast
die einen trieb, der Heimat Sprache hatten sie
nicht mehr gekannt, sie irrten überall umher.
Die andern litten Schmach und Knechtschaft hier,
die Launen der Despoten fürchtend. Sie hab ich
gemacht zu Freien. Nur mit des Gesetzes Kraft
– Gewalt und Recht: ich brachte sie zur Harmonie –
vollbracht’ ich dies, und mein Versprechen wurde wahr.
Für Gute wie für Schlechte schrieb Gesetze ich
in gleicher Weise, fügte jedem gleiches Recht.
Ein andrer, hätte er wie ich die Macht erlangt,
ein schlechtgesinnter Mann, der nur auf Beute aus,
er hätte nie das Volk bezähmt; denn hätte ich
gewollt, worum sich meine Gegner einst bemüht,
oder die Pläne derer, die mit diesen feind,
die Stadt, sie hätte dann Verluste ohne Zahl,
deshalb beschafft’ ich mir von allen Seiten Schutz
und wandte mich wie in der Hundeschar der Wolf.«7
DURCH MELITE, ZUR PNYX
Wenn man auf dem kahlen Plateau des Nymphenhügels von Stein zu Stein hüpft, bekommt man ein gutes Gefühl dafür, dass der Berg ein einziger Felsen ist, ein riesiger, kompakter, von Wasser und Zeit geschliffener Stein mit Spalten, die ein geheimnisvolles Schnittmuster zu bilden scheinen. Einst standen hier die Häuser des Stadtviertels Melite, und darin wohnten Themistokles, Miltiades, Kimon … So seltsam ist diese karge Gegend, dass einem scheinen will, sie wären noch immer hier.
Ein verlassenes Wachhäuschen erinnert heute noch an den Ort, an dem einst das Eingangstor stand. Ein Stück weiter den Weg entlang, vorbei an Pinien, Johannesbrot- und Olivenbäumen, eröffnet sich plötzlich, direkt und unverhofft der schönste Blick auf die Akropolis überhaupt: wie von innen her leuchtend, über einem Wald, der sie kraftvoll in den Himmel zu stemmen scheint. Hier ist der Ort, den die antiken Griechen schlicht »die Felsen« nannten, ein hohes Plateau, das vermutlich schon in den Anfängen Athens für Versammlungen genutzt wurde. Heute ist es fast immer menschenleer, eine merkwürdige Oase aus Luft und Stein, fast so etwas wie ein Krater auf der höchsten Erhebung der Stadt. Hier trat die Volksversammlung zusammen, die Gesamtheit aller Bürger mit Sitz und Stimme. Wenn es einen konkreten Ort gibt, an dem die Demokratie geboren wurde, dann ist es dieser, das Felsenplateau der Pnyx.
Oben, an dem der Stadt zugewandten Hang, ist ein langes Stück sauber aus dem Felsen geschnitten. Erfolgt ist dieser Schnitt Ende des vierten Jahrhunderts vor Christus, als die Arbeiten an diesem Ort der Begegnung in den letzten Zügen lagen. Zum Abschluss wurde aus dem Stein eine Rednertribüne gemeißelt, und diese Tribüne gibt es heute noch, eine von Menschenhand geschaffene Modulation des Geländes. Dahinter, ebenfalls auf dem Felsen, stand ein Altar zu Ehren von Zeus Agoraios, dem Beschützer der öffentlichen Redner. Die Cavea, auf der die Bürger Platz nahmen, reichte damals bis zu den Zypressen dort unten. Heute wachsen Bäume auf den riesigen Quadersteinen der Stützmauer, die seinerzeit errichtet wurde, um dem Halbrund ein Gefälle hierher zu verleihen, hin zur Tribüne. Es handelte sich um die Erweiterung einer früheren Cavea aus der Zeit der Dreißig Tyrannen, und auch dieses Halbrund hatte der Stadt den Rücken zugekehrt. Davor aber, in den Tagen des Themistokles und des Perikles, setzte sich das Volk wie heute direkt auf den Hang, mit Blick auf Athen. Die Tribüne war ein simpler Stein, etwas weiter unten gelegen, umgeben von einigen Holzbänken für die Prytanen. Alle anderen brachten wahrscheinlich ein Kissen oder einen Hocker mit oder machten es sich auf dem Boden bequem, auf diesem Felsen, der wie jetzt auch die Wärme speicherte. Der Redner hatte seine Mitbürger direkt vor Augen und sah, wenn er den Blick hob, nur die Bäume und den Himmel. Die Bürger hingegen sahen ihre Häuser, ihre Felder, zur Linken den Parnitha, zur Rechten den Hymettos, in der Mitte den Pendeli, den Lykabettus, den Areopag und die Akropolis. Und im Hintergrund säuselten der Wind und die Zikaden. All dies ist heute noch hier, als wären nur die Menschen verschwunden. Nikias hat es auf den Punkt gebracht: »… und ihr Athener werdet die große Macht eurer Stadt, mag sie auch jetzt erschüttert sein, wieder aufrichten; denn Männer machen eine Stadt, nicht Mauern und nicht Schiffe ohne Männer.«8
Dieser erste Versuch, einen Ort zu schaffen, an dem Gerechtigkeit möglich war und die Menschen ihr Schicksal selbst bestimmen konnten, war geprägt davon, dass die Bürger selbst die Stadt waren, ergo der Staat. Es gab keine Trennung zwischen Staat und Bürgern. Mit seiner mutigen Maßnahme, bei Entscheidungen alle Bürger zu beteiligen, machte Solon den Staat zu einer Organisation, deren Aufgabe darin bestand, das Gemeinwohl und die Rechte des Einzelnen gegen die Willkür und die Privatinteressen mächtiger Familien und ihre Herrschaftsinstrumente zu verteidigen. Mit anderen Worten: Der Staat war von Anfang an konzipiert als ein WIR gegen SIE.
Jene damals hier oben versammelten Athener erfanden etwas Neues: den Bürger. Bis dahin war der Mensch noch nie Bürger gewesen. Es gab nur hierarchisch organisierte Kulturen, bei denen die Macht sich in den Händen eines Gott-Königs konzentrierte oder auf eine Kaste verteilt war, aber es gab keine Kultur des Bürgertums. Das Bürgertum entstand an diesem Ort, bei jenen Menschen, die sich zum ersten Mal gegenseitig anerkannten als Teilhabende einer »unbegrenzten Macht«, einer ἀόριστος ἀρχή (aóristos arché),9 die der politischen Essenz der Gesellschaft selbst entströmt, die stets wirksam ist in der Gesamtheit ihrer Mitglieder und die jeden zu einem legitimen Ausübenden macht, der in der Volksversammlung und den Gerichten mitwirkt.10 Dieser bewusste Pakt ist die Geburtsstunde der Demokratie. Die konventionelle Geschichtsschreibung jedoch wird nicht müde zu behaupten, dass es die Siege über die Perser und der anschließende ökonomische und moralische Aufschwung gewesen seien, die der Demokratie den Weg geebnet hätten. Wie einfältig! Dabei wissen wir doch alle, dass es in der Welt unzählige Siege gegeben hat, die Euphorie und materiellen Wohlstand nach sich zogen, aber mitnichten etwas Vergleichbares in die Welt brachten. Die Demokratie entsprang der Seele der Griechen, die seit Homer und Hesiod begriffen hatten, dass das Leben eines jeden Menschen einzigartig ist und mehr wert als