Pedro Olalla

Die ausgegrabene Demokratie


Скачать книгу

Jahrhunderts vor Christus beschlossen, diese Gesetze hier, in der Königsstoa, festzuhalten, Drakon, Lykurg und die alten Gesetzgeber aus anderen Regionen Thesmotheten, »Stifter von Normen«, also Gesetzen, die durch ein Orakel oder von einem Rat der Götter diktiert worden waren; Solon hingegen behielten sie im Gedächtnis als Nomotheten, als einen »Verfasser von Normen« (νόμοι), also von Gesetzen, die das Volk überzeugt hatten und in die es sich fügte wie in eine »gute Ordnung«, eine Eunomia.

      Solon schaffte Drakons eiserne Bestimmungen ab – mit Ausnahme derer zu Mord – und führte stattdessen Gesetze ein, die dazu dienen sollten, Missbrauch bei Schulden, Erbschaften, Aussteuern, Beleidigungen und anderen Dingen des alltäglichen Lebens zu verhindern; daneben nahm Solon aber auch strukturelle Reformen vor, die das Machtgefüge tiefgreifend veränderten. Er brach das Machtmonopol der adligen Familien, unterteilte die Gesellschaft in vier Klassen22 auf der Basis ihre Einkünfte und nicht ihrer Herkunft, gab über die Volksversammlung und die Volksgerichte allen Bürgern Teilhabe an der Macht und übertrug ihnen entsprechend ihres Vermögens Rechte und Pflichten. Darüber hinaus schuf er einen Rat aus vierhundert gewählten Mitgliedern – je hundert pro Klasse – und begrenzte damit die ausufernde Macht des alten Areopags. Außerdem erließ er ein Gesetz, das jeden Bürger verpflichtete, bei allen das Volk betreffenden Entscheidungen Stellung zu beziehen, andernfalls verlor er seine Bürgerrechte. Und zu guter Letzt eröffnete er allen Bürgern die Möglichkeit, Teil eines Geschworenengerichts zu werden, und verankerte das universelle Recht, jegliche Ungerechtigkeit vor einem Geschworenengericht zur Anzeige bringen zu können, in der Überzeugung, dass man so der Unmoral am besten Einhalt gebot.

      Mit dieser und anderen Reformen gab Solon Athen nicht nur geschriebene Gesetze; er gab der Stadt auch zum ersten Mal eine echte Verfassung. Für den Dichter waren es nicht die besten Gesetze schlechthin, sondern nur »die besten, die sie sich gefallen ließen«.23 Weil sich im Anschluss trotzdem immer wieder Athener persönlich an ihn wandten wie früher an den Tyrannen, damit er ihre Streitigkeiten beilegte, entschloss Solon sich zu einem radikalen Schritt: Er zog aus der Stadt fort und ließ die Bewohner mit den Gesetzen allein.

      Hier, vor der Königsstoa, stand jahrhundertelang eine Bronzestatue Solons. Von ihr hat sich jegliche Spur verloren; sehr wohl aber fand man unter den Trümmern, nur wenige Meter von dem Ort entfernt, an dem seine Gesetze zur Schau gestellt waren, einen verstümmelten Torso der Themis, der Göttin der Gerechtigkeit, der Tochter des Himmels und der Erde.

      AN DER STOA DES ZEUS ELEUTHERIOS

      Ein Schauder durchläuft jedes Mal die Erde, wenn ein Zug mit hohem Tempo über die antiken Quadersteine rattert. Hier liegt das Fundament dessen, was einmal die Stoa des Zeus Eleutherios war, ein Bau, der um einiges größer war als die Königsstoa (wobei sein linker Flügel heute durch die Bahnlinie abgetrennt ist). Errichtet wurde er zu Ehren des obersten Olympiers als »Garanten der Freiheit«.

      Eine efeuumrankte Pappel wirft ihren Schatten auf die Stelle, an der einst die Statue des Gottes stand. Als die Athener nach dem Sieg über die Perser bei Plataiai diesen Kult einführten, wählten sie als seine Stätte keinen Tempel, sondern lieber einen offenen Raum, nämlich diese Stelle der Agora. Später erbauten sie dort eine Galerie, in der sie auf Gemälden nicht nur die zwölf Götter, sondern auch Theseus, die Demokratie und das Volk darstellten. Es ist dieser nördliche Flügel – in dem Euphranor Theseus als Symbol für politische Gleichheit malte und die Demokratie, wie sie dem Volk die Hand reicht –, der unter den Zuggleisen begraben wurde. Heute bilden nur noch zwei Schäfte einer dorischen Säule einen Anhaltspunkt, um sich die Kolonnade vorzustellen, der Boden hingegen ist ein Teppich aus trockenen, von den Aleppokiefern abgefallenen Nadeln. Kaum zu glauben, dass einst Sokrates hierherkam, um sich mit seinen Schülern zu unterhalten, und Diogenes, um sich irgendwo in eine Ecke zu legen und in seinen Umhang gehüllt zu schlafen …

      Diese elegante Stoa zu Ehren von Zeus dem Befreier diente auch zum Andenken derer, die im Kampf für die Freiheit Athens umgekommen waren: wie der junge Leokritos, der auf dem Musenhügel im Kampf gegen die Mazedonier gefallen war; oder der junge Kydias, dessen Schild an der Mauer hängt, darauf in Bronze gestochen die Inschrift: »Dem Zeus geweiht vermisse ich dich, des Kydias Schild, hier die strahlende Jugend des glänzenden Helden, der damals die Linke erstmals in die Armbeuge steckte, als der verderbende Ares gegen den Galater kämpfte.«24

      Doch darüber hinaus war die Stoa des Zeus Eleutherios auch der Sitz jenes besonderen Organs, mit dem die Stadt – mit Klugheit, nicht mit Waffengewalt – die Freiheit gegen Korruption und Tyrannei zu verteidigen versuchte. Hier walteten die sechs Thesmotheten ihres Amtes, deren Aufgabe es nicht nur war, all diejenigen, die per Los oder Wahl für ein Amt bestimmt worden waren, einer Prüfung zu unterziehen, sondern auch das Verfahren zur Absetzung derjenigen einzuleiten, deren Verbannung von der Macht die Volksversammlung für klug erachtete, gleichgültig, ob es sich dabei um einen einfachen Beamten, den Förderer eines Gesetzes zum eigenen Vorteil oder einen in vielen Schlachten bewährten General handelte.

      BEI DEN SCHUTZGÖTTINNEN DER IONIER

      Geht man ein Stück weiter, stößt man, kurz vor dem Weg, der hinauf zum Theseion, dem Hephaistostempel, führt, auf Steine, die ihr Geheimnis nur zum Teil enthüllt haben. Oben auf dem Hang zum Beispiel ragen vier schiefe, zerbrochene Quader aus dem Boden wie die Stufen einer Treppe. Vermutlich gehörten sie zu einem Gelände, das Synhedrion genannt wurde. Genutzt wurde es für kleinere Versammlungen und weniger bedeutende Prozesse, als die Agora noch nicht der später so belebte Platz war. Gegenüber dieser Tribüne sind zwei Omphaloi zu sehen, wahrscheinlich Bestandteile der Apollonkulte, die in der Nähe abgehalten wurden, an der Stoa des Zeus, wo heute zwischen Ruinen wilder Lorbeer wächst.

      Bis vor kurzem dachten manche Archäologen, dass diese Ruinen – das Fundament eines säulenbewehrten Gebäudes mit zwei kleineren Anbauten seitlich – die Überreste jener berühmten Königsstoa seien. Spätere Funde legen eine andere Deutung nahe – womöglich auch diese nur vorübergehend –, nämlich dass sie zum Tempel des Apollon Patroos und dem kleinen Heiligtum des Zeus Phratrios und der Athena Phratria gehörten, in ihrer Funktion als Schutzgottheiten der alten ionischen Geschlechter. Die schlanke Statue des Apollon kitharoidos, die Euphranor für diesen Tempel schuf, wurde eines Tages – ohne Kopf und ohne Arme – in einem Säulengang entdeckt, den man zwanzig Meter weiter südlich ausgegraben hatte, dort, wo auch die Omphaloi gefunden worden waren. Ebenfalls entdeckt wurde am anderen Ende der Agora, bei der Stoa des Attalos, ein Quaderstein mit der Inschrift: VON ZEUS PHRATIOS UND ATHENA PHRATRIA, der heute wieder hier liegt, an der Schwelle jenes Tempels zu ihren Ehren.

      Phratrios und Patroos: so hießen die olympischen Götter, wenn ihre Rolle als Beschützer der Phratrien betont werden sollte, jener jahrhundertealten Bruderschaften, die aus untereinander verwandten Familienclans bestanden. Unter diesem Beinamen wurde Apollon in besagtem Tempel als Stammvater der Ionier verehrt, denn wie es hieß, hatte er dort oben, in einer der Höhlen des heiligen Felsens, Ion gezeugt, den Stammvater der Athener. Daher feierte die Stadt nach dem Äquinoktium im Herbst, im Monat Pyanopsion, die fröhlichen Tage der Apaturia: das panhellenische Fest des Ioniertums. Die Feier wurde damit eröffnet, dass alle Phratrien ein abendliches Festmahl der Verbrüderung abhielten; am nächsten Tag brachte man den Schutzgottheiten in den Tempeln ein Opfer; und am dritten Tag wurden dem Clan alle Kinder vorgestellt, die im Laufe des Jahres geboren worden waren, und neue Mitglieder zugelassen, wenn die Phratrie sich darauf einigte, mit ihnen das Opferfleisch zu teilen.

      Gegen diese Phratrien und andere althergebrachte Clanstrukturen richteten sich im Sommer des Jahres 508 vor Christus die mutige Sozialreform von Kleisthenes, den viele für den wahren Vater der Demokratie halten. Phratrien und Clans waren durch und durch klassengebundene Strukturen, über die der Blutadel traditionell seine Macht ausübte und sicherte. Schon Solon hatte gegen diese Strukturen angekämpft, indem er das politische Leben um vier Klassen herum organisierte, die sich eben nicht auf Abstammung gründeten; indem er allerdings Besitz zum Kriterium dafür erhob, wie groß die Teilhabe war, blieb Macht weiterhin sehr stark an Abstammung geknüpft und damit an Klasseninteressen. Kleisthenes hingegen begriff,