Kurt von Schuschnigg

Der lange Weg nach Hause


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in St. Anton ausstiegen und in eine Winterlandschaft wie im Märchen traten, soweit das Auge reichte von Schnee bedeckte Berge und Bäume. Der Bahnhof und die wartenden Schlitten waren mit Stechpalmenzweigen festlich geschmückt. Schnüre mit Glöckchen an den Geschirren der Pferde klingelten, sooft eines mit dem Huf aufstampfte oder die Mähne schüttelte. Über den Eingangstoren des legendären Hotels Post hingen Girlanden aus Tannenzweigen mit breiten roten Schleifen. Nach nur wenigen Minuten, die ich zum Auspacken in der Dependance des Hotels brauchte, machte ich mich auf die Suche nach Rudi. Schnell um eine Ecke biegend, rannte ich fast in ihn hinein.

      »Jemand hat sich bei den Reservierungen sehr bemüht. Ich bin im Zimmer neben dir.« – Nichts, was auch im entferntesten wie eine Begrüßung klang. Typisch Rudi!

      »Ich weiß. Und Fräulein Alice ist auf der anderen Seite.«

      »Was? Brauche ich ein Kinderfräulein?«

      »Du weißt, Rudi, daß man uns nicht allein in der Dependance wohnen läßt. Was hast du erwartet?«

      Fräulein Alices Dazutreten unterbrach unser Gespräch. Sie hatte wohl alles gehört, ließ es sich aber nicht anmerken.

      »Da bist du ja, Rudi. Gut. Jetzt werden wir dich gleich in deinem Zimmer einrichten.« Rudi sah mich von der Seite an. Ich erwiderte seinen Blick und hob die Augenbrauen. Wir würden ja sehen.

      Fräulein Alice hatte für uns einen Skikurs mit zwei jungen Skilehrern vereinbart, die gerade anfingen, sich als Rennläufer einen Namen zu machen, Hannes Schneider und Rudi Matt. Der graziöse aber schwierige »Telemark«-Stil der Generation von Oberstleutnant Bartl galt inzwischen als altmodisch. Auch er mußte sich dem Trend zum schnellen Skifahren anpassen. Und noch eine neue Entwicklung gab es: Skijöring. Fräulein Alice hatte das Thema von sich aus angeschnitten und uns klar gemacht, daß das a) gefährlich sei und b) unsere Teilnahme daran nicht in Frage komme. Rudi widersprach sofort: »Sogar Hirnlose können ein Seil halten. Das Auto macht die Arbeit und zieht die Ski.«

      »Nein!«

      Ohne mit der Wimper zu zucken, änderte Rudi seine Taktik: Dürfte er wenigstens allein nach Hause gehen? Unser Kurs ende praktisch neben dem Hotel. Deswegen hatte wohl auch Fräulein Alice der unschuldig scheinenden Bitte nichts entgegenzusetzen.

      Am folgenden Nachmittag, wir schulterten gerade unsere Ski, hielt ein brandneues amerikanisches Auto neben uns, ein glänzender Buick Kombi mit Holztäfelung. Wir bewunderten ihn noch, als Graf Ludwig Salm und seine Frau, die amerikanische Erbin Millicent Rogers, ausstiegen.

      »Onkel Ludi!«, brüllte Rudi und winkte mit seiner freien Hand.

      Onkel Ludi winkte zurück. »Grüß dich, Rudi, grüß dich, Kurti! Warum rennt ihr da herum, anstatt Ski zu fahren?«

      Ohne zu zögern, bastelte Rudi eine Geschichte zusammen.

      »Lustig, daß du fragst, Onkel Ludi. Wir warten auf jemanden, der mit uns Skikjöring machen soll, aber der kommt nicht daher.«

      Mir blieb vor Schreck der Mund offen.

      »Ist das so?« – Es war mehr ein Kommentar als eine Frage. Onkel Ludi schaute mich an. Ich konnte nur nicken.

      »Wir sind auf dem Weg nach St. Christoph zum Tee. Wollt ihr euch nicht ans Auto anseilen und mitfahren?«

      »Nichts lieber als das!«

      Hier schaltete sich Onkel Ludis Frau ein. »Ludi Darling«, warf sie ein, »hältst du das für eine gute Idee? Es ist doch ein ziemlich gefährlicher Sport.«

      Er sah seine Frau an, dann uns, dann wieder sie.

      »Aber mein Engel, Rudi sagt, sie haben das schon einmal gemacht. Nicht wahr, Burschen?«

      »Oft, Onkel Ludi!«

      Rudi reagierte prompt. Für meinen Teil war ich nicht so geschickt im Schwindeln und konnte bloß weiter nicken.

      »Gut«, sagte Onkel Ludi und klopfte jedem von uns auf den Rücken. »Siehst du, Schatz? Sie sind praktisch Profis und möchten sich nur ein bißchen amüsieren. Wie können wir da nein sagen?«

      Den gesunden Menschenverstand seiner Frau ignorierend, drehte er sich zu uns: »Schnallt eure Ski an.« Er verknotete die Seile an der hinteren Stoßstange. Warum er Seile im Kofferraum mitführte? Ich konnte mir Tante Millicent nicht recht beim Skijöring vorstellen und vor allem nicht, daß sie Onkel Ludi das erlaubt hätte. Rudi und mich mußte man nicht zweimal auffordern. Schnell schnallten wir die Ski an. Ich hatte ein eher mulmiges Gefühl bei der Sache. Was, wenn Fräulein Alice davon erführe? Zu Rudi meinte ich nur: »Fräulein Alice würde dich einen geschickten Manipulanten nennen.« Vollkommen unbeeindruckt sah er mich an: »Und wer profitiert davon?«

      »Seid ihr bereit, Burschen?«, rief Onkel Ludi aus seinem Fenster.

      »Bereit, Onkel Ludi!«, hallte es im Duett zurück.

      Schneller als man »Dummheit« sagen kann, ging es los. Tante Millicent hatte sich in ihrem Sitz umgedreht und schaute besorgt nach hinten. Ich ignorierte das, schon deshalb, weil ich alle Konzentration aufbringen mußte, das Gleichgewicht zu halten. So sehr Onkel Ludi im Schneckentempo fuhr, kam es uns doch vor, als ginge es mit mindestens 100 km/h durch die Kurven. Ich begann gerade, mich ein bißchen wohler zu fühlen, als Rudi absichtlich und ohne Vorwarnung seitlich in mich hineinfuhr, um mit lautem Lacher wieder auf seine Seite zurückzurutschen. Hätte ich riskieren können, eine Hand vom Seil zu nehmen, hätte er eine Ohrfeige bekommen. Nur unter größter Anspannung blieb ich aufrecht. Während ich auf Rache sann, hörten wir Tante Millicent. »Stop that!«, rief sie nach hinten und drohte uns mit dem Finger. Ausnahmsweise folgten wir. Als das Auto vor dem Hotel in St. Christoph hielt, waren die Seile in meinen Händen steif gefroren. Lag es nur an der Kälte oder doch am Schrecken, der uns noch im nachhinein packte? Immerhin stellte ich mit Genugtuung fest, daß es Rudi nicht anders erging. Und dennoch, es war die Fahrt unseres Lebens gewesen.

      »Siehst du, Millicent, Skijöring-Profis!«

      Onkel Ludi sprang aus dem Auto.

      »Gut gemacht, Burschen! Hat es euch gefallen?«

      Aus unseren gefrorenen Lippen kam soviel Zustimmung wie möglich, aber unser Enthusiasmus war nicht zu übersehen.

      »Kommt«, sagte er lachend, während er die Seile aufknotete und uns aus den Skiern half. »Legt alles ins Auto, dann kommt herein zum Tee.« Er nahm Tante Millicents Arm und führte sie ins Hotel. In einem war ich sicher: zurück im Auto!

      Als wir dann in St. Anton beim Hotel Post vorfuhren, hoffte ich nur, unentdeckt in mein Zimmer schleichen zu können und hatte deshalb Onkel Ludi gebeten, uns beim Haupteingang aussteigen zu lassen, nicht bei der Dependance. – Umsonst. Schon von weitem sahen wir Fräulein Alice. Unser Skikurs, in dem sie uns vermutet hatte, war seit zwei Stunden zu Ende. Ich wollte nicht raten, wie lange sie schon in der Kälte gewartet hatte. Rudi und ich sahen uns an und Fräulein Alice stellte sich den Salms vor.

      »Das war ein sehr schöner Nachmittag, nicht wahr, Burschen?«

      »Oh ja«, antworteten wir und bemühten uns, unsere Ski aus dem Kofferraum herauszuholen. Jetzt tat ein Wunder not, eines, in dem Fräulein Alice nichts von unserem Skijöring erfahren würde.

      Tante Millicent entschuldigte sich: »Wie gedankenlos von uns, daß wir die Buben nicht angehalten haben, Sie anzurufen. Es tut mir so leid.«

      In der Hoffnung, auch das kürzeste Gespräch zwischen den Salms und Fräulein Alice zu verhindern, sprudelte es aus mir heraus: »Fräulein Alice, Onkel Ludi und Tante Millicent haben uns nach St. Christoph zum Tee mitgenommen. Rudi und ich haben drei verschiedene Sorten Kuchen gegessen, aber das macht nichts, wir könnten noch immer eine ganze Kuh essen, so hungrig sind wir.« Klapper, klapper – in meinem verzweifelten Ablenkungsmanöver ließ ich Ski und Stöcke fallen. Fräulein Alice bückte sich, um mir zu helfen, als Onkel Ludi sich unglücklicherweise entschloß, mit unseren Heldentaten anzugeben. »Ich wette, Sie wußten nicht, was für Skijöringexperten die Buben sind.«

      Schneller als ich blinzeln konnte, sagte