Kurt von Schuschnigg

Der lange Weg nach Hause


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sind. Ich frage mich, warum die Baronin Schildenfeld nichts gegen ihre grauen Haare tut. Sie schaut älter aus als meine eigene Mutter.« Da hatte Liesl recht. »Wenn du mich fragst, ist der kleine Rudi Fugger ein perfekter Vorwand, um hier auf Besuch zu kommen.« Liesls Gedanken, vom Teigkneten abgelenkt, sprangen herum wie Frösche. »Da gibt es keinen Zweifel. Am Ende macht die Gräfin Fugger das Rennen. Merk dir das. Sie liegt ganz klar vorne.«

      Fräulein Alice fühlte sich provoziert, zeigte ihren Ärger zwar noch nicht, aber ich kannte sie. Es fehlte nicht viel. Wie wir alle mochte sie Liesl. Trotzdem ließ sich am Ton ihrer Stimme ihr Unwillen erkennen, über dieses Thema zu diskutieren. Ich kannte den Ton. Sie schlug ihr Notizbuch zu und sagte nur: »Genug davon!«

      Liesl verstand, das Thema war erledigt. Sie zuckte mit den Schultern und konzentrierte sich auf ihren Teig. Lautlos, wie ich gekommen war, verschwand ich wieder. Im übrigen empfand ich es höchst ärgerlich, solche für mich immerhin lebenswichtige Informationen nur so zufällig erhascht zu haben.

      Anders als in den vergangenen Jahren nahm ich Weihnachten und Neujahr nur verschwommen wahr, obwohl Vater, Großvater, Fräulein Alice und Liesl alles versuchten, um uns zu beschäftigen und von traurigem Grübeln abzuhalten. Ein Termin jagte den anderen. Tagsüber tollte ich mit meinen Freunden herum, am Abend fiel ich todmüde ins Bett. Meistens wachte ich mit einem Salamibrot in der Hand oder auf dem Nachtkastl auf. Wenn ich Vater manchmal tagelang nicht zu Gesicht bekam, war dieses Brot doch der Beweis, daß er nach mir gesehen hatte, und ich betrachtete es als Gegengabe für die Fische, die ich für ihn in St. Gilgen gefangen hatte.

       Herumgereicht

      An einem der ersten Frühlingstage des Jahres 1936 holte mich Fräulein Alice mit einer großen Überraschung von der Schule ab. Am selben Morgen, ich war schon auf dem Weg in die Schule, war ein Trupp Möbelpacker im Kriegsministerium eingefallen und hatte unseren Haushalt ins Belvedere übersiedelt, genaugenommen in das ehemalige Gärtnerhaus, nicht in das Palais. Der Eingang lag schräg gegenüber dem Südbahnhof am Landstraßer Gürtel. Dort bogen wir ein und folgten der Auffahrt bis zu einem schönen, einstöckigen Haus, dessen unauffällige Fassade in bemerkenswertem Widerspruch zum beeindruckenden Interieur stand. Zunächst kam man in ein ovales Foyer mit schwarzweißem Marmorboden. Die mit gelbem Damast bespannten Wände wurden von Pilastern unterbrochen, die den hohen Plafond trugen. Geflügelte Steinfiguren bewachten den Eingang. Fragend sah ich Fräulein Alice an. »Warte nur, bis du den Rest siehst«, sagte sie lachend und führte mich in den nächsten Raum. »Wir fangen nicht ohne Grund hier an. Ich möchte dir etwas ganz Besonderes zeigen.« Ein Flügel, der fast das ganze Parkett bedeckte, stand auf einem Perserteppich von ungeahnten Dimensionen.

      Durch eine Reihe französischer Fenster hinter dem Klavier schien die Sonne herein, das Licht spiegelte sich im Luster und fiel auf eine Empire-Sitzgarnitur und Tische mit marmornen Platten. »So symmetrisch und schön das hier auch ist, was ich dir zeigen möchte, ist dort.« Sie ging zu einem stattlichen, alten Wandschrank und öffnete mit einer feierlichen Geste eine der Türen. Dahinter war … nichts. Sie stieg in den Schrank. »Kurti, jetzt mach die Tür gut zu und zähl bis zehn. Schau nicht weg, blinzle nicht einmal. Wenn du bei zehn bist, öffne die Tür wieder. Verstanden?« Es hätte ein Schlüsselloch in der Tür geben müssen, doch konnte ich keines sehen. »Da ist kein Schlüsselloch, dummer Kerl.« Schrecklich, wie genau sie oft wußte, was ich gerade dachte. »Also vergiß nicht! Zähl zuerst bis zehn. Laut.«

      Ich schloß die Tür, zählte wie befohlen bis zehn und öffnete sie wieder. Der Kasten war leer. Ratlos stand ich da, stieg hinein, griff in die Luft und betastete die Innenwände, bis mir auf die Schulter geklopft wurde. Ich drehte mich um. Da stand sie, breit grinsend. Sie nahm meine Hand und legte sie auf etwas, das sich wie Metall anfühlte, einen Hebel, der aus der hinteren Ecke des Kastens hervorschaute und den ich in der Eile übersehen hatte. Ich drückte ihn hinunter, eine Wand sprang auf und dahinter lag der Garten. Jetzt war auch ich von Fräulein Alices Fröhlichkeit angesteckt, als sie mich zum angrenzenden Biedermeiersalon zog. Sofas und Sessel mit grün-weiß gestreiften Seidenüberzügen waren im Zimmer verteilt, dazwischen Kredenzen und Kommoden in satten Brauntönen. »Die Sachen deiner Mutter schauen doch wunderschön aus in diesem Zimmer. Hier kannst du soviel Zeit verbringen, wie du möchtest.« Sie fuhr mir durchs Haar und ergänzte: »Hier ist ja auch wenig Zerbrechliches, und das ist schon an dich gewöhnt.«

      Als nächstes kamen wir ins Eßzimmer. Ein kurzer Griff zu einem Schalter und ein riesiger Luster mit hunderten Kristallprismen erwachte zum Leben. Direkt darunter stand ein runder, glänzend polierter Eßtisch. Weniger gut schienen mir die beleuchteten Glasvitrinen an beiden Enden des Zimmers dazuzupassen. Sie waren voll alten Porzellans, dem eine Reinigung gut getan hätte. Aber Fräulein Alice meinte, altes Porzellan solle so ausschauen. Es war wirklich unglaublich, wie sie meine Gedanken las.

      In Vaters Arbeitszimmer bemerkte ich als erstes den in einem Feld reifen Getreides seine Sense schwingenden Bauern von Egger-Lienz. Das Bild war mir vertraut, dank seiner fühlte ich mich weniger als Eindringling in einem fremden Haus. Ich setzte mich an Vaters Schreibtisch. Vor mir standen die in Silber gerahmten Fotos von Mutter und mir und das von meinen Großeltern. Das waren also die ersten Dinge, die Vater sah, wenn er sich hinsetzte. Wir waren immer alle da, alle zusammen. Ich warf noch einen Blick in das angrenzende Schlafzimmer und Bad. Die Bürsten, Kämme und anderen Dinge, die Vater benützte, beruhigten mich, sie versprachen seine tägliche Anwesenheit.

      Auch mein Zimmer war riesig. Es schien mir doppelt so groß wie jenes, das ich erst am Morgen verlassen hatte, und das war großzügig dimensioniert. »Fräulein Alice, ich glaub es nicht. Da ist meine ganze Modelleisenbahnanlage, mit Schienen, Tunnels, Bäumen und dem Rangierbahnhof, und das alles füllt nicht einmal diese eine Ecke aus. Hier kann ich sogar Radfahren oder Rollschuhlaufen.« Mit einem unterdrückten Lächeln runzelte sie die Stirn. »Damit eines klar ist, junger Mann, in diesem Zimmer wird weder Rad gefahren noch Rollschuh gelaufen.« Ich öffnete die Türen der Kleiderkästen und schaute aus jedem Fenster in die Gärten. Das würde alles gut klappen.

      Großvaters Zimmer und Bad war gleich nebenan. So würde er leicht zu meiner Eisenbahn kommen, die er genauso mochte wie ich. Am anderen Ende des Hauses lag Oberstleutnant Bartls Quartier.

      »Fräulein Alice, das muß schon ein besonderer Gärtner gewesen sein, wenn der so gelebt hat.« Das brachte sie zum Lachen. »Zur Zeit des Gärtners des Prinzen Eugen, der diese großartige Palastanlage erbauen ließ, hat das nicht so ausgeschaut, Kurti. Seither wurde in den zweihundert Jahren hier wohl einige Male umgebaut, und zuletzt haben viele Leute hart gearbeitet, damit daraus ein so schönes Zuhause für deinen Vater und dich wird. Die Räume im Kriegsministerium waren doch nur eine Übergangslösung. Das hier ist viel besser geeignet.«

      »Trotzdem. Ich möchte wetten, daß der Gärtner weinen würde, wenn er sein altes Haus jetzt sehen könnte«, sagte ich und war glücklicher denn je, seit wir uns zum ersten Mal in Richtung Wolfgangsee aufgemacht hatten.

      »Kurti, komm her! Es geht noch weiter.«

      Wir nahmen den Weg durch das Musikzimmer. Draußen erwartete uns eine wahre Farbenpracht. Die riesigen Blumenbeete standen in voller Blüte. Rote Geranien, so groß wie kleine Bäume, Rosensträucher in verschiedenen Farben, lila Gladiolen, rosa Begonien. Der hintere Teil des Gartens wurde von einer dichten, hohen Buchsbaumhecke umrahmt. »Wer wohnt hier hinten?«, fragte ich. Sie winkte mich weiter.

      »Komm!«

      Die Hecke verdeckte eine Tür. Fräulein Alice schritt hindurch. Vor uns lag ein anderer Teil der Gärten des Palais Belvedere, nicht mehr streng angelegt, ein natürlich bewaldetes Areal. Im Vordergrund stand eine riesige Ulme, dahinter Eichen und Linden. Es gab Gruppen von blaßvioletten Rhododendren und Grasteppiche mit Fußwegen. An einem großen, runden Seerosenbecken vorbei gingen wir auf das eigentliche Belvedere zu. Fräulein Alices Freude an allem, was wir sahen, war entzückend kindlich. Sie platzte fast vor Aufregung.

      »Kannst du dir vorstellen, daß wir das alles nur mit den Nonnen vom Kloster nebenan teilen müssen?«

      »Da wohnen Nonnen nebenan?«

      »Es