Kurt von Schuschnigg

Der lange Weg nach Hause


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einem letzten Lacher. Sein Schweif war verschwunden und wir hatten uns langsam wieder dem Saal zugewendet, als ein ungewöhnlich bestialisches Geräusch uns an die Fenster zurücktrieb. Unten tauchten zwar weder Nikolo noch Krampus noch einmal auf, dafür aber drehte der Polizeitransporter viel schneller als üblich um und fuhr mit heulender Sirene in rasender Fahrt davon. Es war für uns fast eine Zugabe. Tags darauf, wir fuhren wieder in ein Altersheim, begrüßte uns unser Fahrer Tichy mit der Nachricht, daß es Feldwebel Schmidt viel besser gehe und er Mutter für ihre Anteilnahme danken lasse.

      »Wovon redet Tichy, Mutter?« fragte ich, weniger aus Neugier als wegen des Vergnügens, mit meiner Mutter ein Gespräch zu führen.

      »Er bedankt sich für meine Sorge. Ich hatte mich nach Feldwebel Schmidts Zustand erkundigt, Kurti.«

      »Wieso, gestern ging es ihm doch gut.« Ich wußte, daß Feldwebel Schmidt den Krampus gespielt hatte. Er half auch dem Tichy manchmal.

      »Naja, nach der Vorstellung hatte Feldwebel Schmidt eine Art Unfall. Anscheinend war sein Krampus-Schweif mit einem langen Nagel hinten an seiner Strumpfhose befestigt. Er hätte sich in dem Kostüm nicht hinsetzen dürfen. Leider hat er das vergessen.«

      Ich saß einen Augenblick still da und sah sie an. Dann schüttelte ich mich vor Lachen. »Ich wette, diesen Fehler macht er nie, nie wieder.« Mutter bemühte sich kurz, ernst zu bleiben, doch dann platzte auch sie heraus. Vor Lachen fast am Ersticken, meinte sie, daß Schmidt sich nächstes Jahr kaum noch einmal freiwillig für den Krampus melden werde. Sie trocknete ihre Augen mit einem Taschentuch. »Der arme Mann«, seufzte sie und kämpfte um ihre Fassung. Dann fuhren wir los, um die alten Leute zu unterhalten.

       Katastrophe

      Die Lage in Österreich war das Ergebnis komplexer Zusammenhänge und politischer Ereignisse, die bis in die Zeit vor dem Krieg zurückreichten. Langsam erholte sich Österreich von der katastrophalen finanziellen Lage, in der sich das Land seit dem Jahr 1918 befunden hatte. Die Rückzahlung des Völkerbundkredits und die von Deutschland verhängte Tausend-Mark-Sperre bereiteten große Schwierigkeiten, doch die Inflationsplage war zurückgegangen, und die wirtschaftliche Situation verbesserte sich langsam.

      Das Jahr 1935 fing mit großen Fanfarenklängen an: Der Kanzler gab bekannt, daß der Wiener Opernball vom Staat gefördert werden würde. Dies hob nicht nur den unschätzbaren Beitrag österreichischer Musiker und Komponisten für die Musikwelt hervor, sondern sollte auch dem Tourismus, von dem das Land so abhängig war, zu einem Aufschwung verhelfen. Wenig, was das Regieren des Landes anbelangte, war so unkompliziert wie der Opernball.

      Reifen quietschen. Metall verbiegt sich. Körper fliegen durch die Luft. Rauch. Ein Albtraum.

      »Wach auf, Kurti!«

      Rufe und Weinen. Alles ist durcheinander.

      Mein Gesicht fühlt sich im Wind feucht an. Wahrscheinlich versucht Purzel, mich zu wecken. »Runter mit dir, geh weg!«, höre ich mich sagen. Dann: »Kurti, Kurti!« Fräulein Alices Stimme ruft mich leise. Gott sei Dank! Ich öffne die Augen, schaue in den blitzblauen Himmel, aus dem die Sonne herunterbrennt. Ich blinzle. Mein Kopf liegt auf Fräulein Alices Schoß. Aber wo ist das Auto? Was tun wir da im Gras und was redet sie mit mir? Natürlich geht’s mir gut. Ach, da ist ja auch Vater. Doch er ist sehr blaß, düster. »Papa, was fehlt dir? Bist du krank?« Er wischt mein Gesicht ab. Blöder Purzel. Doch das Taschentuch ist rot. Der Himmel dreht sich. Nein, vielleicht bin ich das. Und da ist Liesl. »Laß ihn sich nicht bewegen, Alice.« Aber genau das will ich. Ich fühle mich nicht wohl. Liesl dreht sich um und stöhnt auf. Auch ich drehe mich um und sehe, daß zwei Männer etwas tragen.

      Nein, nicht etwas, jemanden.

      Zwei Beine unter einem weißen Leinenrock. Ich halte den Atem an, mein Herz setzt kurz aus. Mutter!! Doch ihre Augen sind geschlossen. Sie bewegt sich nicht. Genauso blaß wie Vater. In den Armen der Männer schaut sie wie eine kleine Puppe aus. Er sollte bei ihr sein. Wo ist er? Die Männer legen sie vorsichtig in den Rettungswagen. Ich sehe Fräulein Alice an. Auch sie kann sich nicht von der Szene losreißen. Sie weint. Ich habe Fräulein Alice noch nie weinen sehen. Ich drehe mich zu Liesl. Auch sie weint. Jetzt schauen mich beide an.

      Voll Angst drehe ich mich noch einmal zum Rettungsauto.

      Und dann weiß ich es.

      Ich schließe die Augen und gebe dem Schwindelgefühl nach. Starke Arme heben mich auf. Als ich meine Augen wieder öffne, liege ich in einem anderen Auto. Fräulein Alice legt einen Arm um mich und hält mir ein Taschentuch gegen eine Gesichtshälfte. Dem Vater helfen sein Adjutant, Major Bartl, und ein Staatspolizist ins Auto. Er greift nach mir und streicht meine Haare zurück. Sein Gesichtsausdruck ist grauenvoll und seine Augen … seine Augen sind tot. Er nimmt meine Hand und hält sie mit beiden Händen. Dann fühle ich nichts mehr.

      Viel später wachte ich im Linzer Krankenhaus der Barmherzigen Brüder wieder auf. »Du warst so ein tapferer Bub«, sagte Fräulein Alice, die zum hundertsten Mal in zwei Wochen mein Bettzeug richtete. »Bald fahren wir nach St. Gilgen. Liesl sagt, daß es dort einen See voller Fische gibt, die nur darauf warten, von dir herausgeholt zu werden, damit sie sie zum Abendessen kochen kann. Du kannst deinen eigenen Fisch essen.« Endlich ein glücklicherer Gedanke als die meisten anderen, seit ich mich wieder konzentrieren konnte. Die Schnittwunden auf meiner Stirn und meiner Wange sahen schon ein bißchen besser aus. Mein Gesicht war zwar unbeweglich, tat aber nicht sehr weh. Der Primarius stand an meinem Bett. Nachdem er wieder einmal sein eiskaltes Stethoskop an meine widerstrebende Haut gedrückt hatte, erklärte er sich mit meinen Fortschritten zufrieden. »Ich bin sehr erleichtert, daß keine wichtigen Muskeln durchtrennt wurden. Dir ist klar, daß du ein kleiner Bub mit großem Glück bist. Diese Glastrennwand, die auf dich draufgefallen ist, hätte viel mehr Schaden anrichten können. Dein Schutzengel muß auf deiner Schulter gesessen sein, junger Mann.« Er war ein netter Arzt, und er wollte mich aufmuntern. »Herr Doktor«, sagte ich, »mir wäre lieber gewesen, er wäre auf der Schulter meiner Mutter gesessen.«

      Von uns sechs, die wir an dem Morgen im Auto gesessen hatten, waren nur Vater und Fräulein Alice relativ unverletzt geblieben. Ihre Engel hatten anscheinend Überstunden gemacht. Fräulein Alice hatte nur Genickschmerzen und zerrissene Kleider. Vater war aus dem Wrack hinausgeschleudert worden. Außer ein paar Prellungen hatte er keine Verletzungen davongetragen. Seine Wunden waren in seinem Inneren. Der Schmerz um Mutter überwältigte ihn. Der Verlust des Glanzes, den sie ausgestrahlt hatte, setzte ihm mehr als alles andere zu. Nach außenhin ließ er sich nichts anmerken und ging weiter seinen Regierungsgeschäften nach. Die schwarze Armbinde, die er trug, war das einzige öffentliche Zugeständnis an seine privaten Gefühle. An den Wochenenden brachte er seine unermeßliche Trauer mit nach St. Gilgen. Nur selten schluchzte er auf, wenn er nachts allein in seinem abgedunkelten Zimmer saß. Über den Unfall sprach er nicht, aber aus den schwarzen Ringen um seine Augen kam immer dieselbe, unausgesprochene und unmöglich zu beantwortende Frage, die auch ich mir stellte: »Warum sie?«

      Von Fräulein Alice hörte ich, daß die Polizei bei der Untersuchung des Unfalls mit dem Fahrer begonnen hatte, mit Tichy, der wie der Staatspolizist, der neben ihm im Auto gesessen hatte, noch im Krankenhaus lag. Man wußte, daß Tichy einen tadellosen Lebenswandel führte. Er war ein Gewohnheitstier, sein Tagesablauf änderte sich nie, außer wenn er krank war. War Tichy je krank gewesen? In den beiden Jahren, seit er bei uns war, hatte er keinen einzigen Arbeitstag ausgelassen. Er schien bei bester Gesundheit. Am Nachmittag vor dem Unfall, auf dem Heimweg vom Kriegsministerium, war er im selben Gasthaus wie an jedem anderen Tag eingekehrt und hatte sich laut dem Wirt das übliche eine Glas Bier genehmigt. Der freundliche, verläßliche, besonnene und höfliche, einfach gute Mensch war auch in dem Gasthaus beliebt. Tichy kam also am späten Nachmittag des 12. Juli in die Wirtschaft, trank ein Bier, verließ sie aber erst um drei Uhr in der Nacht. Der Wirt sagte aus, das Bier wäre ihm von einem Fremden spendiert worden. Nachdem er bemerkt hatte, daß Tichy wie bewußtlos auf dem Tisch lag, habe der Wirt wiederholt aber erfolglos versucht, ihn zu wecken. Schließlich ließ man ihn ungestört bis zur Sperrstunde schlafen. Und dann noch mußte das Personal zu harten Mitteln greifen: Man begoß ihn mit