Kurt von Schuschnigg

Der lange Weg nach Hause


Скачать книгу

Pension untergebracht. Dort machten wir uns nach kurzer Orientierung im Haus an die Erkundung der Umgebung. Rudi ließ sich bei einem Teich, in Wahrheit einem mit braunem Wasser gefüllten Loch, zu Boden fallen und erklärte Sistiana zum Altersheim. Zunächst warfen wir gelangweilt Kieselsteine ins Wasser, bis wir bemerkten, daß die Pfütze voller Kaulquappen war.

      »Arme Kleine«, sagte Rudi, »die sind in diesem Dreck gefangen. Wir sollten ihnen ein besseres Zuhause verschaffen« – nämlich in den Wasserkrügen der Gästezimmer. Die Idee war gut, aber mich störte die Angst, bei solcher Untat erwischt zu werden. Die Reaktion meines Vaters war nur allzu leicht vorhersehbar. Rudi hingegen war überzeugt, daß die Sache schlimmstenfalls nicht über das Kinderfräulein hinausgehen werde. Für ihn war das Risiko Teil des Reizes, zumindest solange sich seine Mutter nicht einschaltete, vor deren Zorn er großen Respekt hatte.

      Nachdem wir uns mit den örtlichen Gegebenheiten vertraut gemacht hatten, arbeiteten wir einen Plan aus. Die Zimmer wurden aufgeräumt, während die Gäste beim Frühstück saßen. Das war der entscheidende Moment. Nachdem wir keine Mahlzeit versäumen wollten, kamen wir am nächsten Morgen schon so früh ins Speisezimmer, daß wir gefrühstückt hatten, als die ersten Gäste auftauchten. Ich lief in unser Zimmer und griff mir den mit Wasser und Kaulquappen gefüllten Krug und ein Zahnputzglas zwecks »Überführung« der Tierchen – und rannte mit beidem direkt in den Bauch der Putzfrau. Irgendwie drängte ich mich an ihr vorbei, traf Rudi im Stiegenhaus, und hinter einem Vorhang auf dem Gang leerte ich das Wasser und ein paar Kaulquappen in das Zahnputzglas. Während die Zimmerfrau sich an ihrem Wäschewagen zu schaffen machte, schlüpfte Rudi katzengewandt an ihr vorbei in ein offenes Zimmer und leerte die Kaulquappen in den Krug auf dem Waschtisch. Zurück hinter den Vorhängen auf dem Gang, bogen wir uns zunächst vor Lachen und warteten auf die nächste Gelegenheit – und da ist es dann schiefgelaufen. Wieder war die Zimmerfrau auf dem Gang beschäftigt, als Rudi und ich mit einem weiteren Glas voll Kaulquappen in das offenstehende Zimmer schlichen. Nur leider: Vom Gang aus bemerkte die Bedienerin in einem großen Spiegel, der gegenüber dem Waschtisch in jenem Zimmer hing, wie ich die kleinen Wesen aus meinem Glas in ihr neues Heim verfrachtete. Obwohl nicht mehr jung, bewegte sich die Frau blitzschnell, und ebenso prompt brannten unsere Hintern. Dann schleppte sie uns, mit kräftigen Händen unsere Nacken fest umschlossen haltend, zu »la Signora«, der Besitzerin der Pension, und diese ließ unsere »Signorina« holen. Auch deren Reaktion fiel höchst unangenehm aus, immerhin zeigte sie uns aber nicht bei den von uns am meisten gefürchteten Autoritäten an.

      Wenn ich im großen und ganzen mit meinen Kinderfräuleins Glück hatte, gab es da doch eine Ausnahme. Frau Soundso, in dem »gewissen Alter« und absolut unerbittlich, war uns von den Nonnen des Katholischen Schulvereins empfohlen worden. Während ihrer dankenswert kurzen Herrschaft sah ich sie nie anders als in Schwarz. Nun ist an schwarzer Kleidung im Prinzip nichts auszusetzen, aber bei Frau Soundso verstärkte das noch ihre an und für sich schon unangenehme Ausstrahlung. Vom ersten Augenblick an wußte ich, dieser Mund mit den kaum sichtbaren Lippen würde nie Schlaflieder singen. Ihr Haar war so eng zusammengebunden, daß es wie aufgemalt aussah, und ihre Adlernase trug nicht dazu bei, den Eindruck von Strenge zu mildern. Als wäre das nicht genug gewesen, gab es da noch diese Augen: kleine, schwarze Knopfaugen mit schweren Lidern. Wenn Frau Soundso mit den Händen im Schoß und den Blick nach unten gerichtet dasaß, war kaum auszumachen, ob sie wach war oder schlief.

      Eines Nachmittags entdeckte ich sie in genau dieser Stellung. Auf dem Tisch neben ihr stand ein Teller Kekse. In der Meinung, sie sei eingenickt, näherte ich mich der regungslos Sitzenden. Nur das Ticken der Wanduhr war zu hören. Als ich aber nach den Keksen griff, schoß ihre knochige Hand schneller als ein Jagdfalke vor und packte mein Handgelenk. Ihr kalter, wimpernloser Blick wirkte auf mich wie der Schlangenbeschwörer auf die unglückselige Kobra. Sie sagte kein Wort. Da schlug die Uhr und weckte mich aus meiner kurzen Trance. Ich riß mich los und rannte so schnell aus dem Zimmer, daß hinter mir Papiere vom Tisch flogen. Sogar schon in Sicherheit glaubte ich noch immer, diese schrecklichen Augen zu spüren, die sich in meinen Rücken bohrten.

      Für Liesl, unsere Köchin, war Frau Soundso zu dünn, als daß in ihrem Körper Platz für ein Herz bliebe. Selbst gut gepolstert, hielt Liesl »dünn« und »unausstehlich« für Synonyme, und mit ihr zweifelte ich nicht, daß das im Fall der Frau Soundso zutraf. Ihre ganze Art war so unangenehm, daß selbst Vater sich in ihrer Gegenwart unwohl zu fühlen schien. Für meinen Teil hatte ich nur fürchterlich Angst vor ihr. Irgendwann machte Mutter, nachdem sie wochenlang still gelitten hatte, dem allen ein Ende und kündigte Frau Soundso, obwohl es ihr an sich schwerfiel, jemanden zu entlassen.

      Und dann erschien Fräulein Alice in unserem Leben, das einzige Kinderfräulein, an dessen Namen ich mich erinnere. Sie war eine von zwei Töchtern guter, hart arbeitender Eltern. Ihr Vater war ein erfolgreicher Tapezierer. Die Familie lebte in einer großen, sonnigen Wohnung in der Neubaugasse. Alice hatte das Sacré-Cœur-Gymnasium in Wien besucht, sprach außer Deutsch auch Französisch und Englisch und war schon in Belgien und England »im Dienst« gewesen. Mittelgroß und von sportlicher Figur, hatte sie kurzes, braunes Haar, das ihre großzügigen, immer leuchtenden braunen Augen betonte. Doch weder dieses ansprechende Äußere noch ihre Erfahrung, schon gar nicht die Empfehlung durch die Klosterschwestern war es, was Fräulein Alice so besonders machte. Sie hatte ein Herz aus reinem Gold. Scheinbar mühelos fügte sie sich in unser Leben ein. Niemand hätte vorhersagen können, wie sehr sie uns verbunden bleiben würde. Ihre außergewöhnlich guten Nerven wurden fast sofort nach ihrer Ankunft auf die Probe gestellt.

      Das schöne Augarten-Palais, Eigentum der Republik, war in Wohnungen für Regierungsvertreter umgewandelt und eine davon meinem Vater zugeteilt worden, der seit Mai 1933 neben dem Justizressort auch noch das Unterrichtsministerium übernommen hatte. Bei soviel Arbeit kam er immer erst spät nach Hause und war dort nie lang genug, um das großzügige Palais und den umliegenden Park zu genießen. Mutter, Fräulein Alice und ich taten das um so regelmäßiger. Nicht nur war die neue Wohnung doppelt so groß wie jene auf der Mariahilfer Straße, plötzlich gab es ringsherum Bäume und Gärten. Fräulein Alice und ich kamen endlich wieder an die frische Luft, während die Parkanlagen in der Nähe unserer früheren Wohnung seit den Konflikten zwischen Heimwehr und Schutzbund für uns zu verbotenen Zonen geworden waren.

      In den Gefilden der österreichischen Politik, die nicht gerade für ihre Objektivität und die Aufrichtigkeit der handelnden Personen bekannt war, hatte Vater einen unantastbaren Ruf. Sein unerschütterlicher Glaube und die Liebe zum Vaterland machten ihn immun für Einflußnahmen oder gar Korruption. Wie überall sonst, gab es auch in Österreich genügend Menschen, die einflußreiche Persönlichkeiten auf mancherlei Art in Versuchung zu bringen trachteten. Da bekannt war, daß Vater Geschenke entweder sofort zurückschickte oder gleich ablehnte, versuchte man es anders. Das Ergebnis blieb immer dasselbe. Auch Geschenke »für den kleinen Kurti« langten ein. Wäre ich nicht zufällig einmal im Büro meines Vaters aufgetaucht, hätte ich das nie erfahren: Fräulein Alice und ich kamen gerade in dem Moment herein, als der Sekretär meines Vaters höflich die Annahme eines glänzenden, mit Maschen versehenen Fahrrads verweigerte.

      Den Spendern von Pralinen und Schokoladen, die anscheinend kistenweise angeliefert wurden, dankte man im Namen derer, die sie letztlich erhalten würden, nämlich der Armen und Alten von Wien. Mutter arbeitete über den »Altwienerbund« ohne Unterlaß daran, das Leben dieser Benachteiligten zu verbessern. Es war die wichtigste ihrer vielen karitativen Aktivitäten. Die Armen und Alten waren für die Schokolade wirklich dankbar. Ich mochte Schokolade ungefähr so wie Lebertran, mit dem ich ständig zwangsbeglückt wurde. Hob man mich auf die Knie irgendeines Gratulanten, mußte ich mir fast immer eine Praline in den Mund stopfen lassen. Kein Mensch hat je gefragt, ob ich Schokolade überhaupt mochte.

      Vater war durch nichts zu erschüttern. Einmal kam eine Kiste Obst von seinem eigenen Schwager. Dieser Onkel war unter anderem Obstexporteur in der Südtiroler Stadt Bozen. Obwohl seit dem Ende des Ersten Weltkrieges italienisch, wurde Südtirol von Österreich noch immer mit finanziellen Unterstützungen bedacht. Subventionen gab es auch für Wirtschaftszweige in österreichischem Besitz oder unter österreichischer Leitung. Dazu gehörte der Obstanbau. Aus Sorge, die Gabe aus Südtirol könnte deshalb falsch interpretiert werden, selbst wenn sie von einem nahen Verwandten kam, ließ Papa die Kiste an