verhaßten Pralinen.
Eines Tages wurde ich zu den Ställen im Augarten beordert. Als Fräulein Alice und ich ankamen, gab mir einer der Stallburschen eine Karte mit der Aufschrift »Für Kurti«. Die Unterschrift war mir unbekannt. Dann bat mich der Bursche, die Augen zu schließen, und führte mich um eine Ecke. »Mach die Augen auf!«, schrie er dort und zeigte mir mit theatralischer Geste ein wunderschönes Pony, das an eine glänzende Kutsche angeschirrt war. Fräulein Alice war ebenso sprachlos wie ich. Nie mit Geschenken verwöhnt, überstieg so etwas meine Vorstellungskraft. Wir gingen um die »Erscheinung« herum. Ich berührte den Wagen. Er war fest und echt, keine Spur von Erscheinung. Obwohl außer mir vor Freude, überraschte mich doch, daß Vater hier nachgegeben hatte. Wir gaben dem Pony Karotten zu fressen und zermarterten uns den Kopf nach einem passenden Namen. Auch Mutter wußte nicht, wer der Spender war. Da aber ohne Vaters Erlaubnis nichts in den Augarten geliefert wurde, stimmte sie in unseren Jubel ein.
Am nächsten Tag wurde dieses großartigste aller braun-weißen Scheckponys ausgeführt. Es stolzierte vor uns und schüttelte die Mähne. Wir saßen in der wunderschönen, buttergelben Kutsche mit der schokoladefarbenen Verkleidung. Das dazupassende braune Dach über den beigefarben gepolsterten Ledersitzen war geöffnet worden. Bewundernde Blicke flogen uns zu. Der Stallbursche an den Zügeln nahm auf dem Weg zu meiner Schule absichtlich einen langen Umweg. Als wir ankamen, läutete gerade die Schulglocke und ich entging mit knapper Not einer Eintragung wegen Zuspätkommens. Einer aber kam wirklich zu spät: der hinkende, schnaufende Sicherheitsbeamte, mein Leibwächter.
Alle meine Freunde durften auf dem Schulgelände herumkutschiert werden. Schließlich kamen wir später als üblich zuhause an. Vater traf eben vom Ministerium ein, als wir unseren auffälligen Auftritt hatten. Fräulein Alice und ich hielten seinen höchst überraschten Blick zunächst für Bewunderung. Aber das Donnergrollen folgte auf dem Fuße. Wortlos machte er kehrt und stürmte, jeweils zwei Stufen auf einmal nehmend, in unsere Wohnung hinauf. Ich schaute Fräulein Alice an, die nichts sagte, auch wenn man ihr die Unsicherheit ansah. Ich wurde auf mein Zimmer gebracht. Obwohl Fräulein Alice die Tür hinter sich schloß, hätte man taub sein müssen, um die folgende Szene nicht zu hören.
»Was zum Teufel versucht ihr zu tun? Wollt ihr mich ruinieren? Was habt ihr euch gedacht, so ein Geschenk anzunehmen? Wo auch immer dieses Pony und die Kutsche hergekommen sind, schickt das sofort zurück!«
Dann knallte eine Tür. Vater war immer schon ein Türenknaller gewesen. Glücklicherweise hatten alle unsere Wohnungen solide Türrahmen. Fräulein Alices wußte fortan um die Besonderheiten unseres Familientemperaments.
Die strahlend gelb-braune Kutsche und das Pony mit dem glänzenden Fell verloren sich aus meinen Augen, wenn auch nicht aus dem Sinn. Die Sache wurde nie wieder erwähnt. Nur einer war erleichtert: mein beamteter Leibwächter.
Schockwellen
Am 30. Jänner 1933 war in Deutschland Hitler an die Macht gelangt.
Am 4. März 1933 wurde dem österreichischen Parlament ein für die Sozialdemokraten wichtiger Gesetzesentwurf vorgelegt. Der Parlamentspräsident hat kein Stimmrecht, seine beiden Stellvertreter jedoch schon. Es gab eine Pattsituation. Auf Anraten seines Parteikollegen Otto Bauer legte der Präsident, der Sozialdemokrat Karl Renner, sein Amt nieder. So würde das Amt an den Christlichsozialen Rudolf Ramek weitergereicht werden, und die Sozialdemokraten hätten zwei Stimmen mehr gehabt. Um das zu verhindern, trat auch Ramek zurück. Um nicht zum Spielball zwischen den zwei anderen Parteien zu werden, trat nun auch Sepp Straffner, Großdeutscher und zweiter Stellvertreter Renners, zurück. Dadurch hatte sich das Parlament de facto selbst aufgelöst.
Diese Verfassungskrise wurde durch Bundeskanzler Dollfuß gelöst. Er setzte die außer Kraft gesetzten kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetze von 1917 wieder ein. Wenn man Hitlers Machtergreifung, seine öffentlich geäußerten Ansichten über Österreich, wie sie in »Mein Kampf« zu finden sind, und die fast permanente Pattsituation im Parlament, die durch die fast vollständige Unfähigkeit der Parteien, sich auch bei den einfachsten Dingen zu einigen, bedingt war, berücksichtigt, war das eine glückliche Wendung für Bundeskanzler Dollfuß. Er glaubte nun in der Lage zu sein, wenigstens einige der gravierendsten Mißstände im Parlament beseitigen zu können. Zunächst wurde Ende März 1933 der Schutzbund, die sozialdemokratische Miliz, verboten, am 6. Mai die Kommunistische Partei und schließlich am 19. Juni die NSDAP.
Am 27. Mai 1933 verfügte Nazi-Deutschland eine Sondersteuer von tausend Reichsmark für jede Ausreise nach Österreich. Da die deutschen Feriengäste immer rund sechzig Prozent aller nach Österreich reisenden Touristen gestellt hatten, konnten die augenblicklich eintretenden Folgen, vor allem in den wirtschaftlich weitgehend auf den Fremdenverkehr angewiesenen Bundesländern Tirol, Vorarlberg, Salzburg und Kärnten, nur katastrophal sein. Genau das war beabsichtigt: die Sabotage der österreichischen Wirtschaft. Gleichzeitig mit der »Tausend-Mark-Sperre« überschwemmte eine Flut von Nazi-Terror die kleine Republik. Jeder verfügbare Sprengkörper wurde verwendet. Den ganzen Sommer hindurch fand man unzählige Verstecke mit Sprengmaterial. Doch die Bomben gingen weiter hoch, mit bis zu 125 Attentaten pro Monat. Das Land wurde systematisch durch Attentate auf Kraftwerke, Umspannwerke, Bahnhöfe, Brücken, Amtsgebäude und Polizeiposten geschwächt. Es gab auch einfachere Arten der Sabotage, wie das Durchtrennen von Telefonleitungen. Züge wurden oft gestört: Ein Teil der Oberleitung wurde beschädigt oder zerstört, oder es wurden Felsbrocken auf die Gleise gelegt. Es gab mehrere Attentatsversuche auf den Bundeskanzler, den Vizekanzler und den Justizminister.
Der Vertrag von St. Germain erlaubte Österreich, ein stehendes Heer zu unterhalten, doch eines mit nicht mehr als 30 000 Soldaten. Das war vollkommen unzureichend für die Verteidigung und Sicherung eines Gebiets von 84 175 km2. Es gab unzählige Möglichkeiten, Unruhe zu stiften und die Polizei in die Irre zu führen.
Auf der Suche nach wohlgesinnten Nachbarn setzte sich Bundeskanzler Dollfuß der Augusthitze Italiens aus. Dort wurde ihm der Empfang zuteil, auf den er gehofft hatte. Mussolini hatte für Hitler wenig übrig und versicherte Österreich seiner Unterstützung. Zusätzlich war da noch Österreichs Nützlichkeit als Pufferstaat. Die Aussicht auf deutsche Truppen am Brenner konnte für den italienischen Diktator nicht erstrebenswert sein.
Anfang Februar 1934 explodierten an nur einem Tag vierzig Bomben. Auf Regierungsmitglieder und andere österreichische Patrioten wurden Anschläge auch mittels Briefbomben verübt.
Der 12. Februar 1934 begann für uns mit der Meldung einer Explosion in unserer Innsbrucker Wohnung. Durch den Briefschlitz war eine Bombe hineingeworfen worden. Aber das war die weitaus unwichtigste aller schlechten Nachrichten an diesem Schicksalstag. Als hätte das Land mit dem Naziterror nicht genug zu tun gehabt, begann der ebenso kurze wie überaus blutige Bürgerkrieg zwischen militanten Sozialdemokraten und den von der Heimwehr unterstützten Ordnungskräften der Regierung.
Emil Fey, der Vizekanzler und Sicherheitsminister, hatte eine Durchsuchung des Hauptquartiers der Sozialdemokratischen Partei in Linz nach Waffen angeordnet. Während der Durchsuchung kam es zu einer Schießerei. Später wurden in Wien Kraftwerke beschädigt und Telefonleitungen gekappt. Der verbotene Schutzbund erhob sich. In Wien wurden mehrere Polizisten durch Heckenschützen umgebracht, was das Pulverfaß zur Explosion brachte, und so eskalierten die Kämpfe. Bundeskanzler Dollfuß beorderte Truppen in den Karl-Marx-Hof in Wien. Als militärisches Hauptquartier des Aufstands war der Gemeindebau schon lange vorher von allen verlassen worden, die nicht zum Schutzbund gehörten. Die Schlacht wütete. Endlich, nach drei Tagen, beruhigte sich die Situation.
Im Mai 1934, als Optimisten meinten, eine zaghafte Beruhigung der Lage zu erkennen, trat George Messersmith seinen Posten als neuer US-Gesandter in Wien an, einen Dienst, der äußerst kurz geworden wäre, hätte man im Hotel Bristol, wo er vorerst Quartier nahm, nicht rechtzeitig einen Sprengsatz entdeckt, mächtig genug, um das ganze Haus in die Luft zu jagen.
Dieser Sommer 1934 war besonders heiß. Wer immer konnte, entfloh der brütenden Hitze in der Stadt. Am 25. Juli fuhr Mutter mit ein paar Freunden ins Strombad bei Klosterneuburg, für uns Buben ein ganz besonderes Ereignis. Nach dem Mittagessen