Hans-Peter Bärtschi

Schweizer Bahnen


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Direktoren und Verwaltungsräte fürstlich entschädigt. Beim Zusammenbruch der Eisenbahnspekulation sinkt der Kurs der Nordostbahnaktie von 670 Franken im Jahre 1871 auf 53 Franken im Jahre 1879. Derjenige der VSB sinkt sogar auf 37 Franken. Nach Karl Bürkli belastet der Wertpapierverlust der Schweizer Bahnen, dividiert durch die Einwohnerzahl, die Schweizer stärker als die Reparationen, die Frankreich nach dem verlorenen Krieg 1871 an Deutschland zahlen muss: «Dieses Landesunglück kann kaum mit einem verlorenen Krieg verglichen werden, namentlich für den Kanton Zürich, der so stark betheiligt ist.»25 Bürkli lanciert 1878 die Volksinitiative für die Eisenbahnverstaatlichung. Zwar ohne Erfolg; immerhin wird festgeschrieben, dass im Falle eines «Rückkaufs» keine übertriebenen Abgeltungen zu entschädigen sind.

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      Bereits sechs Jahre vor dem Eisenbahnkrach kann die NOB für ihre Tochtergesellschaft «Bülach—Regensberg-Bahn» keine Dividende auszahlen. Die in Richtung Koblenz und Deutschland geplante Bahn wird nie vollendet.

      HPB Stiftung Industriekultur.

      Die Finanzinstitute und die öffentliche Hand retten die alten Bahnkonzerne vor dem Konkurs mit verschiedenen Massnahmen. Eine ist das Moratorium für ihre vertraglich festgelegten Investitionen. Weitere neue Linien würden die Ertragslage noch mehr verschlechtern. Die NOB hat ihre Netzlänge verdoppelt, doch die Verkehrsleistungen sinken um einen Drittel, die Kosten für «Verschiedenes» steigen zwischen 1860 und 1877 um 462 Prozent. Nichts von alledem weiss der 30-köpfige Verwaltungsrat, dem auch die fünf Direktoren angehören. Alfred Escher sucht heimlich Kapitalhilfe in Paris, erhält sie zu knechtenden Bedingungen, gründet dann allerdings zwecks Rückzahlung der Obligationen mit der SKA und anderen Banken die Schweizerische Eisenbahnbank. Diese kann nach der wirtschaftlichen Erholung Mitte der 1880er-Jahre aufgelöst werden. Die Verluste sind sozialisiert, die Gewinne können erneut privatisiert werden.

      Zürich im Zentrum des Bahnspinnennetzes

      Der Eisenbahnbau mischt die Wirtschaftspolitik auf. Sie stösst nicht nur die allseitige Konkurrenz zwischen Bankhäusern und Bahngesellschaften an, der Kampf dehnt sich zur Rivalität zwischen Städten, Regionen und Nationen aus. Wo verschiedene Bahngesellschaften eine Stadt erreichen, entstehen mehrere Kopfbahnhöfe an verschiedenen Orten. London erhält deren zwölf, Paris neun, Berlin ebenfalls neun, Wien sieben. Der Bahnbau wird im Kampf um Zentralität zum städtebaulichen, zum regionalen und zum nationalen Politikum. Da sich in der Schweiz regionale Monopole bilden, erhalten die Städte in der Regel nur einen Hauptbahnhof. In Zürich ist der Bau eines Kopfbahnhofs der Nationalbahn verhindert worden, die Nordostbahn wertet die Zentralität ihres Hauptbahnhofs auch nach dem Tod von Alfred Escher weiter auf. Am Ruder ist nun der Zürcher Oberländer Textilfabrikantensohn Adolf Guyer-Zeller. Am 2. Juni 1894 lässt er mit Ausnahme zweier Günstlinge und wichtiger Regierungsvertreter alle Direktionsmitglieder und Verwaltungsräte absetzen – die Vertreter der Kreditanstalt werden durch solche der späteren UBS aus Basel ersetzt. Die Neue Zürcher Zeitung berichtet von brutalster Interessenwirtschaft. Guyer lässt Bauprojekte nur noch unter seiner Aufsicht bewilligen. Eines seiner Ziele ist es, Zürichs Vorherrschaft zu festigen. So spitzt sich die Städtekonkurrenz weiter zu, und sie verändert die Rangfolge der Wirtschaftszentren grundlegend. Unter dem Ancien Régime besass Bern das grösste Territorium der Schweiz. Die Einwohnerzahl der Stadt Bern wird dann in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von Genf übertroffen. Nach Basel folgt an vierter Stelle Lausanne. Zürich muss sich bis zur ersten Phase der Eingemeindungen von 1893 mit dem fünften Rang begnügen, gefolgt von La Chaux-de-Fonds, St. Gallen und Luzern. Winterthur liegt bezüglich der Einwohnerzahl weit hinten, holt aber mit der Industrialisierung auf. Alfred Escher und sein Nachfolger Adolf Guyer-Zeller machen mit ihrer Wirtschafts- und Eisenbahnpolitik die Limmatstadt trotz ihrer nicht zentralen Lage zum Verkehrszentrum der Schweiz. Die seit 1893 gültige Rangliste ist vor allem eine Folge des Eisenbahnpolitik: Zürich, Basel, Genf, Bern, Lausanne, Winterthur.26

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      Helvetia, auf einem Flügelrad balancierend, bündelt in ihren Adern die Lebensströme von London und Berlin über den Gotthard nach Italien. Zürich wird der Bauchnabel des Weltverkehrs.

      H. P. Bärtschi 2016

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      Für die Rampenstrecken der Gotthardbahn entstehen die aufwändigsten und teuersten Tiefbauten: unterste, mittlere und – über den Dampfloks – die obere Stufe der Linienentwicklung mit den Kehrtunneln bei Wassen.

      H. P. Bärtschi 2016.

      Grossartige Tiefbauten der Haupt- und Nebenbahnen, sparsam erstellte Hochbauten

      Bahnbauten sind, wenn man auf Steilrampen und Abtreppungen verzichtet, Hunderte von Kilometern lang, sie durchdringen oder überschienen Berge und Täler mittels Kunstbauten. Während Land- und Wasserstrassen natürliche Elemente wie harte Bodenflächen oder Flüsse und Seen in ihre Linienführung einbeziehen können, bedingen eiserne Schienenbahnen einheitlich durchgehende Unterbauten mit geringen Steigungen, damit beim kleinen Reibungskoeffizient zwischen Stahlschiene und Stahlrad Züge gezogen und gebremst werden können. Das ermöglicht den Transport grosser Personen- und Gütermengen, es erfordert aber hohe Anlagekosten.

      Der Bahnbau bedingt hohe Anlagekosten

      Die Baukosten der im einfachen Gelände erstellten Strecke Zürich—Baden sind in der Abrechnung von 1848 mit 3,23 Millionen Franken ausgewiesen. Fast 30 Prozent davon hat der Unterbau mit Erdarbeiten, Sprengungen, Brücken, Mauern, Fluss- und Strassenkorrektionen gekostet. Der Oberbau mit Schienen, Schwellen, Schotter, Unterlagsplatten mit Nägeln und Schrauben macht inklusive Einfuhrkosten 24 Prozent des Budgets aus. Gegen 18 Prozent müssen für Landenteignungen und Gerichtskosten ausgelegt werden. Bei den Hochbauten schlagen die Anlagen in Zürich und Baden, ferner die Wärterhäuser mit 16 Prozent zu Buche. Ganze 9 Prozent machen der Kauf der Lokomotiven und Wagen aus, den Rest beanspruchen die Aktienemission und Managementauslagen. Im Verlaufe von 100 Jahren sollten sich die Anlagekosten pro gebautem Bahnkilometer verzehnfachen.27 Entsprechend höher werden die Schulden und die Kapitalkosten. Der Kapitalertrag sinkt und dementsprechend auch das Interesse für private Investitionen.

      Der Bahnbau wühlt die Landschaft auf

      Die politische Grundlage für die gewaltige Landschaftsveränderung ist das in der Bundesverfassung und im Eisenbahngesetz 1848–1852 verankerte Enteignungsrecht. Dieses mit der Unantastbarkeit des Privateigentums eigentlich unvereinbare Gesetz rechtfertigt sich mit dem übergeordneten Landesinteresse, welches letztlich der neuen Form des Privateigentums von anonymen Aktiengesellschaften dient. Nur so kann die Linienführung von Eisenbahnen nach den notwendigen technischen Grundsätzen festgelegt werden: Die Eisenbahn ist ein starres, zusammenhängendes System von Achsgewicht, Meterlasten, Zuglänge und Zughakenkraft der Lokomotiven in Übereinstimmung mit den Kunstbauten, dem Unter- und Oberbau inklusive Schotterbett, Schwellen und Schienen. Die Verwirklichung dieses Systems beschleunigt die Vermessung der Landschaft und das Denken in Richtung einer dreidimensionalen Geometrisierung des Raumes. Die entsprechenden Techniken sind vor allem für den Bergbau entwickelt worden.

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      Unterschiedlich belastbare Schienenprofile, Musée du fer et du Chemin de Fer Vallorbe.

      Foto H. P. Bärtschi 1996.

      Der Stolz der Nation Schweiz auf ihre Eisenbahn rührt gerade auch daher, dass die Überschienung des Juras und der Alpen besonders aufwändige Bauwerke erfordert: «der längste Tunnel der Welt», die «höchste Eisenbahnbrücke», «die höchste durchgehende Bahn Europas» und die «höchste Bergbahn Europas» prägen rückblickend und teilweise bis heute den nationalen Mythos des Landes. Die Überschienung von Gebirgen