Hans-Peter Bärtschi

Schweizer Bahnen


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Abschnitt zwischen Uerikon am Zürichsee und Bauma im Tösstal rentiert nie, er wird 1947 teilweise von den SBB übernommen, schliesslich ganz stillgelegt und ab 1978 als Museumsbahn genutzt. Eine Variante der nie gebauten Ostalpenbahn kommt schliesslich als dritte schweizerische Alpentransversale mit der Rhätischen Bahn zu Stande – in Meterspur und mit Maximalsteigungen von 35 Promille, auf der Berninabahn gar mit doppelt so grossen Steigungen. Mit dem sparsamen Bahnbau wachsen die Vielfalt und der Wirrwarr an Bahnlinien, zu denen jetzt noch Berg- und Trambahnen kommen.

      Bergbahnen kurbeln den Tourismus an

      Die ersten touristischen Bergbahnen müssen auf Grund des Eisenbahngesetzes von 1852 noch in Normalspur gebaut werden. So erhält der Rigi-Kulm ab 1871 die erste Zahnradbahn Europas in dieser Spur. Ihr Konstrukteur Niklaus Riggenbach feiert sich als Erfinder der Zahnradbahn. Erst viel später kommt ein Dossier zum Vorschein, das eine Dokumentation über die wirklich erste Zahnradbahn auf den Mount Washington in den USA enthält, in Auftrag gegeben von Riggenbach.32 Doch die beiden Bahnen von Vitznau und Arth-Goldau aus sind ein Erfolg, sie verdreissigfachen die Besucherzahl auf dem zentralschweizerischen Aussichtsberg in den kommenden 140 Jahren auf jährlich 1,3 Millionen. Die neuen Bergbahnen bringen in Hochkonjunkturzeiten hohe Renditen, in Krisenzeiten auch hohe Verluste: Als Ergänzung zu den Rigi-Gipfelbahnen erstellt die Rigi—Scheidegg-Bahn eine meterspurige Aussichtsbahn für 1,35 Millionen Franken. Nach ihrem Konkurs geht sie für 10000 Franken an die Vitznau—Rigi-Bahn, in deren Verwaltungsrat der Basler Bankier Rudi Kaufmann sitzt. Die Gläubiger erwirken vor Bundesgericht schliesslich eine Abgeltung von 60000 Franken.

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      Niklaus Riggenbach konzipiert die erste Zahnradbahn Europas zum Rigi-Kulm. Probefahrt 1875. Nachlass Fam. Riggenbach.

      Slg. H. P. Bärtschi.

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      Nach Mürren führt eine der frühen elektrischen Bahnen, ursprünglich erschlossen durch eine Standseilbahn.

      Foto H. P. Bärtschi 2006.

      Die Industrie fördert die «Bergbahnisierung» der Schweiz und eines Teils der Welt mit weiteren Zahnrad-, Standseil- und Luftseilbahnen. Als «Panorama-Casino» bezeichnet Mark Twain 1878 die «Königin der Berge»; er habe bei seiner Rigiwanderung dem zehnten am Wegrand stehenden Jodler einen Franken gegeben, damit er nicht jodle: «Die Schweiz ist nur noch ein Panorama-Casino, das von einer ungeheuer reichen Compagnie mit Millionen Milliarden ausgebeutet wird – ein wahres Heidengeld hat es natürlich gebraucht, um dieses Gebiet zu pachten, sauber herauszuputzen und zu schmücken, um ein ganzes Volk von Angestellten und Statisten zu besolden.» Der amerikanische Autor des sozialkritischen «Huckleberry Finn» trifft mit dieser Schilderung den Nerv des aufblühenden Luxus- und Massentourismus.33 Die Kommerzialisierung der Alpen macht nicht Halt am Rigi. 1888 erhält das Berner Bauunternehmen Pümpin & Herzog die Konzession für den Bau einer meterspurigen Bahn von Interlaken-Ost nach Lauterbrunnen und Grindelwald. Auf den Steilstrecken kommen Riggenbachsche Zahnstangen zum Einsatz. 1890 eröffnet die «Berner Oberland-Bahn» BOB ihren Betrieb. Sie wird 1914 mit 1500 Volt Gleichstrom elektrifiziert. Noch vor der BOB erhielt die Mürrenbahn 1887 eine Konzession zugunsten von Bieler Bauunternehmern im Verein mit dem Winterthurer Maschinenlieferanten Fritz Marti. Ihr Ziel ist der Bau einer Hotelstadt in Mürren. Von der geplanten BOB-Endstation in Lauterbrunnen wird die Standseilbahn zur Grütschalp gebaut und von dort auf der Talschulter die grossartige, meterspurige Aussichtsbahn nach Mürren. Drei Jahre nach der ersten elektrischen Trambahn Vevey—Chillon ist die Mürrenbahn 1891 zusammen mit der Bahn Sissach—Gelterkinden die erste elektrische Überlandbahn der Schweiz. Sie wird mit 550 Volt Gleichstrom betrieben. 1894 bis 1945 besteht in Mürren auch eine Pferdestrassenbahn mit der Spurweite eines halben Meters. Der letzte Wagen ist in der Station Mürren ausgestellt. 1912 vervollkommnet die Standseilbahn auf den Allmendhubel die Aussichtsmöglichkeit auf die Dreiergruppe Eiger, Mönch und Jungfrau. In diesem Jahr eröffnet auch die höchste Bergbahn Europas, die Jungfraubahn, ihren Betrieb bis zum Joch. Der bereits erwähnte Adolf Guyer-Zeller hat das Projekt während eines Ferienaufenthalts 1893 von Mürren aus skizziert. Für die Finanzierung gründet er seine Guyer-Zeller-Bank. Die Bahn wird nie bis zum Jungfraugipfel vollendet, aber immerhin 13 Jahre nach Guyers Tod bis zum Jungfraujoch, in Meterspur, mit Strubscher Zahnstange und mit Drehstrom von 50 Hertz.34

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      Die Brienz—Rothorn-Bahn führt ab 1892 als typische Bergbahn vom See zum Hotel mit der grossartigen Aussicht auf das Berner Oberland. Die Bahn mit maximal 250 Promille Steigung wird als eine von zweien in der Schweiz nie elektrifiziert.

      H. P. Bärtschi 1977.

      Bis zum Ersten Weltkrieg wächst die Zahl der Übernachtungen in der Schweiz auf 22 Millionen, die Rigi-Hotels bleiben mit 2500 Betten die führende Goldgrube. Auch andere Orte erreichen in der «Belle Epoque» um 1900 ihren Höhepunkt. Interlaken und Montreux wachsen mit entsprechendem Bergbahnangebot zu Tourismusstädten an. Das Bündnerland schliesst mit Davos und St. Moritz auf. Zur Wirtschaftsbasis wird der Tourismus ferner am Vierwaldstättersee um Luzern und an den Tessiner Seen um Lugano und Locarno. Neben dem Zahnstangensystem von Riggenbach patentieren Abt, Strub und Locher Kletterstangen für Bergbahnen, letzterer für die 480 Promille steile Pilatusbahn. Bis 1913 entstehen 51 Bergbahnen. Für das Gastgewerbe arbeiten 80000 Menschen, viele sind Frauen oder Ausländer. Der Erste Weltkrieg bringt das Ende dieses Booms; einer kurzen Erholung in den «goldenen Zwanzigerjahren» folgen die Weltwirtschaftskrise und der Zweite Weltkrieg. Erst 1955, nach 40 Jahren, empfangen die Touristenorte wieder gleich viele Besucher wie zu ihrer Glanzzeit; die wirtschaftliche Bedeutung von 1914 erreichen sie nie mehr.

      Trambahnen ermöglichen die «Vergrossstädterung»

      Bis zum industriellen Zeitalter genügen Gassen und Schiffsanlegestellen zur Bewältigung des Verkehrsaufkommens. Innerhalb der Städte ist in Gehdistanz alles leicht zu erreichen. Mit der Industrialisierung dehnen sich die Städte aus. Ausschlaggebend für die Nutzung und die Bodenpreise der zentralen Lagen einer Stadt ist nun die Erreichbarkeit. Dazu sind zuverlässige öffentliche Verkehrsmittel nötig. Die ersten schienengebundenen Trambahnen in den Städten entstehen noch in Normalspur, Pferde ziehen die Wagen, später Dampflokomotiven, bis die Technik so weit ist, dass die Städte nicht mehr verrusst werden müssen. Elektrische Strassenbahnen bilden nun das Rückgrat des innerstädtischen Verkehrs. Das früheste und umfangreichste Strassenbahnnetz bauen in der Schweiz private Gesellschaften ab 1862 in Genf. Strassenbahnen erschliessen den ganzen Stadtkanton bis in die französischen Nachbardörfer. Die maximale Netzlänge beträgt am Jahresende 1923 fast 120 Kilometer. Früh schon, ab 1877, entsteht auch in der Industriestadt Biel ein Netz von Strassenbahngleisen. Zürich realisiert auf die erste Schweizerische Landesausstellung 1883 hin nicht nur eine bessere Energie- und Wasserversorgung, sondern auch neue Strassen und 1882 das erste Pferdetram bis in die Nachbargemeinden hinaus. Ab 1894 fahren erste elektrische Tramwagen, ab 1896 beginnt die Stadt die privaten Strassenbahngesellschaften aufzukaufen. Alle Tramwagen erhalten nach und nach die Stadtfarben blau und weiss und werden so zum öffentlichen Werbeträger für Zürich. Bern experimentiert ab 1890 mit Dampfund mit Luftdruckstrassenbahnen. In Neuenburg verbindet ab 1892 ein Dampftram die seenahen Stadtquartiere mit dem hoch gelegenen Normalspurbahnhof. Schliesslich holt Basel 1895 mit einer Grossinvestition für eine elektrische Strassenbahn auf. Mit den Überlandstrassenbahnen entsteht dort langfristig das grösste Tramnetz der Schweiz – es erschliesst auch Nachbargebiete in Deutschland und Frankreich. Es folgen die Eröffnungen von Trambahnen in Lausanne, Lugano, St. Gallen, La Chaux-de-Fonds, Fribourg, Winterthur, Luzern, Schaffhausen und Locarno. Die Entwicklung der Stadt zur Tramstadt verläuft allerdings nicht geradlinig. Der Erste Weltkrieg stoppt einen weiteren Ausbau; danach werden bereits erste Linien stillgelegt.35 Das eigentliche Tramsterben findet zugunsten der autogerechten Stadt dann in den Jahren um 1960 statt.36

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