auf, jeder für sich eine Scercen-Eisnase.“23
Doch der Expeditionsleiter ließ sich nicht die Schneid abkaufen. Am 13. September, nach einem rund sechswöchigen Anmarsch, hatte sich die Expeditionsmannschaft unter dem Steilabbruch des Nordostsporns in etwa 5200 Meter Höhe im Lager 6 in Stellung gebracht. Als es am folgenden Morgen zur Sache geht, ist Peter Aufschnaiter ganz vorn dabei: 5 Uhr aufstehen. 6 Uhr 30 Abmarsch. Bauer, Fendt, Karli und ich. Kuli: Lewa, Ketar, Pasang, Gami. Wir gehen mit Überschuhen und Steigeisen auf dem hartgefrorenen Schnee. Am Eisbruch kehrt Fendt wegen Unwohlsein um. Auf dem Gletscher ist es ungewöhnlich heiß. 12 Uhr Rotlager. Das Klepperzelt ist vollkommen eingeschüttet. Wir richten uns ein schönes Lager her. Der Witterungscharakter hat sich jetzt vollkommen geändert. Es ist den ganzen Tag schön. Kein Nebel. Heute sah man zum ersten Mal die Sonne etwas nördlich vom Kanchen untergehen. Abends ganz eigenartige Farbstimmung des Himmels und der Wolken über dem Zemugap. Die Windfahnen auf dem Kanchen deuten auf Wind von NW. Sollte die Monsunzeit vorerst vorbei sein? 7 Uhr im Schlafsack.24
Am 16. September erreichten Beigel, Kraus und Bauer die Gratschneide des Sporns und hackten sich dann zwei Tage lang einen Weg um und über die Eistürme des horizontalen Gratstücks. Bauer und Beigel kämpften sich den darüber liegenden Steilaufschwung hinauf. Weiter oben sah sich selbst der hartgesottene Eugen Allwein – damals einer der weltbesten Eiskletterer – einem unlösbar scheinenden Problem gegenüber:
Die Ostwand des Kangchenjunga. Der Nordostsporn zieht schräg rechts hoch zum Nordgrat.
„Als wir am 23. September am 4. Turm standen, waren wir zunächst eine Weile vollkommen ratlos, senkrecht oder überhängend war die Kante, ebenfalls überhängend war die rechte Flanke und auch die linke; in ihr führte aber ein schmales Band überdacht von mächtigen Überhängen in die Wand hinaus und in eine tief ins Eis eingelassene Gufel hinein. Bald danach endet das Band unter ungangbaren Eisüberhängen. Es blieb nichts anderes übrig, als von der Gufel aus einen Schacht senkrecht nach oben zu treiben. Kraus machte sich an die Arbeit, er schlüpfte in die Gufel und begann, sich mit dem Pickel in das Dach hineinzuarbeiten. […] Den ganzen Tag nahm diese Arbeit in Anspruch, und als wir uns um 16 Uhr wieder zum Lager zurückzogen, war der Tunnel noch nicht vollendet.“25
Beigel gelang dies dann am folgenden Tag in einstündiger Arbeit, er erreichte ein schmales Band unter Firnüberhängen. Von hier aus hackte Thoenes nach rechts gegen die Schlusswechte hinauf, die Eugen Allwein schließlich überwinden konnte.26 Solche Schwierigkeiten waren im Eis in jener Zeit selbst in den Alpen nur selten geklettert worden.
Die Expeditionsmannschaft (v. l. n. r.): Peter Aufschnaiter, Wilhelm Fendt, Paul Bauer, Joachim Leupold, Alexander Thoenes, vorne: Eugen Allwein, Col. Tobin, Karl von Kraus.
In diesem Abschnitt der Besteigung war die Mannschaft gezwungen, einige Übernachtungsplätze „höchst luftig“27 anzulegen: „Wir mussten den Platz erst aus einem Wächtenkopf herausgraben. Durch den Boden unseres Zeltplatzes konnte man an einer Stelle hinunter auf den Twinsgletscher fast senkrecht unter uns sehen. Aber die Schnee- und Eisgebilde hatten sich bis jetzt stets als so fest erwiesen, dass die unbehaglichen Gefühle nicht die Oberhand bekommen konnten.“28
Derartige Kühnheit war im Höhenbergsteigen ein Novum: Paul Bauer und seine Freunde lösten die Probleme im Himalaya mit derselben Unverfrorenheit, mit der sie daheim in den Alpen die abweisendsten Eiswände angingen. Dazu kam, dass jeder Meter des Aufstiegs für die Träger begehbar gemacht werden musste. Das bedeutete mühsamen Wegebau auf einer Meereshöhe von 5500 und 6500 Metern! Fixseile wurden keine eingesetzt. Deshalb wurden die Träger durch ihre „Sahibs“ sowohl im Auf- als auch im Abstieg sorgsam gesichert.
Am 26. September hatten Paul Bauer und seine Freunde den letzten, 60 Meter hohen Steilaufschwung gangbar gemacht und tags darauf auf 6600 Meter das Lager 9 eingerichtet.29 Am 2. Oktober konnten Allwein, Aufschnaiter, Kraus und Thoenes das Lager 10 in 7000 Meter Höhe auf dem breiten Rücken des Spornes beziehen.
Damit waren die großen technischen Schwierigkeiten des Aufstiegs überwunden. Peter Aufschnaiter notierte, wie es dann weiterging:
Mittwoch, 2. Oktober
Wir gehen alle mit Ketar und Pasang ohne Bauer nach Eislager III. Der Lawinenhang ist tief verschneit. Alisi [Allwein] geht voraus. Ich gehe sehr langsam. Im EL III starker Wind. Zelt aufschlagen. Gleich in die Schlafsäcke.
Donnerstag, 3. Oktober
Kraus und Alisi gehen nach oben, kehren bei 7400 m um und kommen ganz kaputt zurück. Eishöhlenbau. Nachmittag kommt Bauer, Beigel mit Lewa und Cheten. Wir ziehen in die Eishöhle um. Sie mussten ganz neu spuren.
Zwei Tage harren Aufschnaiter und seine Freunde in der Eishöhle aus.
Sonntag, 6. Oktober
Windig. Unten dichte Wolkendecken, oben Schleier. Beigel und ich gehen nach unten. Beigel soll nach Nepal. Ich soll Proviant nachschieben. Es ist ziemlich windig und neblig. Tiefes Spuren. Besonders am Horizontalstück vor dem Steilhang. Der Steilhang bricht ab, als Beigel mit den Überschuhen hineinsteigt. […] Im EL II ist kein Proviant außer etwas Tee und Schokolade. In der Nacht schneit es die Höhle zu.
Montag, 7. Oktober
Es hat schrecklich viel Schnee gemacht. Am Twinsturm springt Beigel 10 m ab. Ich halte ihn und folge in der Flanke nach. Bei der Karwendeltreppe stürzt Beigel. Ich halte ihn, aber sein Rucksack fällt ihm von den Schultern gegen die Kanchenseite. Mein Rucksack wird abgeseilt. Das EL I ist von einer Lawine eingedeckt. Nach längerem Suchen und Graben dringen wir ein. Kein Proviant. […] Beigel und ich beschließen, nach Adlerhorst abzusteigen. Obwohl es schon ein Uhr ist. (Heute 2. Tag ohne Essen). Der Grat ist tief verschneit. Wir tragen abwechselnd Rucksack. Vor dem Felsquergang nimmt Beigel den Rucksack. Ich gehe voran und räume den Fels vom Schnee. Beigel folgt nach und stürzt. Es reißt den Pickel um. Ich stürze mich auf die andere Seite [des Grates] hinab. Mit größter Mühe arbeite ich mich wieder auf die Schneekante empor (circa 15 Meter) und helfe Beigel wieder herauf. Es wird dunkel, und ich mache noch einen Versuch in der Abstiegsrichtung, sehe aber nichts mehr. […] Beigel stürzt wieder. Ich halte ihn aber ziemlich rasch. Beigel hat keinen Rock [Jacke]. Wir sitzen meist gegen Rücken, singen Lieder, erzählen. Die Schneewand, die vor der Steilseite liegt, wächst zusehends, denn es schneit unentwegt weiter. […] Am Morgen sind wir noch ganz gut beisammen. Der Schnee reicht dem Spurenden bis an den Hals. Nachmittag kommen wir auf den Adlerhorst, wo wir von Kraus und Thoenes gepflegt werden. Beigel hat Krämpfe und die Füße stark erfroren. Trotzdem herrscht fröhliche Stimmung im Zelt.30
Dass der Rückzug der Expedition nach diesem furchtbaren Wettersturz geordnet vollzogen wurde und ohne Unfall über die Bühne ging, ist eine der größten Leistungen im Himalaya-Bergsteigen.
Die Engländer hatten sehr gut erkannt, was Paul Bauer und seine Leute am Kangchenjunga vollbracht hatten, und feierten die deutsche Mannschaft, als hätte sie den Gipfel erreicht. Bedeutende britische Blätter wie die London Times und der Manchester Guardian hatten ausführlich und an prominenter Stelle über das Unternehmen berichtet.
Die Engländer waren nicht nur vom technisch versierten, strategisch klugen und hartnäckigen Umgang der Deutschen mit den außerordentlichen Schwierigkeiten am Berg beeindruckt, sondern auch von ihrer Fürsorglichkeit gegenüber der einheimischen Bevölkerung und den Hochträgern. Das renommierte Alpine Journal veröffentlichte im November 1930 einen ausführlichen Bericht Paul Bauers von dem Unternehmen. Der Schlusskommentar des Schriftleiters, Oberstleutnant Edward Lisle Strutt, spricht für sich: „Wir möchten uns ein weiteres Mal bei Dr. Bauer dafür bedanken, dass wir den Bericht von einer Unternehmung veröffentlichen durften, zu der es in der Geschichte des Bergsteigens vielleicht keinen Vergleich gibt.“31
Der