Leonhard F. Seidl

Fronten


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dann nicht stören. »Roja«, sagte Vater. »Du kennst doch den Mann, der einmal zum Teetrinken bei uns gewesen ist und dir Märchen erzählt hat.«

      Roja nickte. Sie mochte ihn, er lachte häufiger als Vater.

      »Er wird ab sofort bei uns wohnen.«

      Sie dachte an die Geschichte vom Ferkel im Hundestall, die ihr der Onkel erzählt hatte, und bekam eine Gänsehaut.

      Jetzt schlenderte Roja neben den eiligen Autos den Berg hinab, ihren Schulranzen auf dem Rücken. Die Sonne kämpfte sich durch die zotteligen Wolken, kündete von einem warmen Sommertag. Ein Spatz saß auf einem Jägerzaun. Roja blieb stehen, holte ihr Pausenbrot aus dem Schulranzen und bröselte Krümel vom Fladenbrot.

      »Roja!«, schrie ihre Mutter, aus dem Fenster der Wohnung gelehnt. »Beeil dich bitte, sonst kommst du wieder zu spät zur Schule.«

      Roja stopfte das Pausenbrot in ihren Schulranzen, hastete den Berg hinunter, überquerte am gefährlichen Eck die Straße. Dort, wo die Autos erst kurz bevor sie um die Kurve rasten zu sehen waren.

      An der Bäckerei Steigele lockte der Geruch von Frischgebackenem. Roja blieb vor dem Schaufenster mit den vollbeladenen Blechen stehen, ihr Magen knurrte. Da läutete die Kirchenuhr achtmal. Sie schreckte zusammen, griff nach den Trägern ihres verschlissenen Schulranzens und rannte los. Erst die Gasse an einem weiteren Jägerzaun entlang, die lange Treppe hinab. Links der steile Berg, den sie im Winter hinunterrodelten, an den Reihenhäusern vorbeischossen. Gegenüber die Schule, der Betonklotz, in den sie sich jeden Morgen quälte. Schwungvoll riss sie die große Tür auf, tauchte ein in die eigentümliche Welt aus Brezen, Sunkist und Negerkusssemmeln. Ihr Klassenzimmer befand sich am Ende des Gangs, der trotz des Sonnenscheins im Dunkeln lag. Zögerlich klopfte sie und trat ein. Die grauhaarig-gelockte Lehrerin teilte gerade Blätter aus. »Setz dich hin. Wir schreiben eine Probe.«

      Roja wühlte im Schulranzen, griff in etwas Klebriges. »Kar«, entfuhr es ihr, was niemand gehört hatte und niemand verstanden hätte. Sie Esel hatte vergessen, das Brot wieder in das Papier einzuwickeln, bevor sie es in den Schulranzen gepackt hatte. Langsam zog sie ihre verpappten Hände heraus, sah sich um, sah, wie sich Traudel erhob und zum Abfalleimer wackelte. Sie widerstand dem Impuls, die klebrigen Hände an ihrer abgewetzten Jeans abzuwischen, die sie von Serhat vererbt bekommen hatte. Im Gegensatz zu Traudels Jeans war ihre Hose bleich, wie Vater, wenn er nicht aus dem Bett kam. Sie wischte ihre Hand mit einem Stofftaschentuch ab. Dann zog sie ihr Federmäppchen aus dem Rucksack, es rutschte ihr aus den Händen und fiel zu Boden. Die Lehrerin warf ihr einen strengen Blick zu.

      Roja beugte sich über die Matheaufgaben. Darauf war ein Würfel mit schwarzen Punkten abgebildet. Sie sollte die Punkte aufteilen, in zwei andere Würfel. Sie stellte sich vor, wie jeder aus ihrer Familie einen Punkt darstellte. Der Gedanke an den Märchenonkel ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. Gerade schob Traudel den Rucksack, der zwischen ihr und Vroni stand, beiseite und schaute auf Vronis Probe.

      Sie zögerte, ihre Hand fuhr nach oben. Flüsternd rief sie die Lehrerin auf.

      »Traudel hat gespickt.«

      Ein Raunen ging durch die Klasse.

      Auf dem Nachhauseweg holten Traudel und Vroni sie ein.

      »Hast dich heut noch rasieren müssen? Und bist deswegen zu spät gekommen?«, frotzelte Traudel, die ein Jahr älter war als die anderen und zwei größere Schwestern hatte.

      Vroni kicherte. Roja spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss.

      Roja stieß sie zur Seite und rannte davon. Auf halber Strecke musste sie anhalten. Keuchend stützte sie sich auf ihre Oberschenkel. Dann ging sie langsam nach Hause.

      Mutter kam von der Arbeit, drückte Roja zehn Mark, einen Einkaufszettel und den Korb in die Hand. Vor dem Kramerladen trottete ihr Traudel entgegen.

      »Traudel«, sagte Roja.

      »Was willst?«

      »Es tut mir leid, dass ich dich heute verpetzt habe.«

      Traudel schaute in den Korb und entdeckte den Zehnmarkschein. »Gibst ein Eis aus?«

      »Okay«, sagte Roja und Traudel folgte ihr in den Kramerladen.

      Am Stadtbrunnen knackten sie die Schokolade des Magnum-Eises. Eine Biene schwirrte um ihre Köpfe. Das Wasser plätscherte hinter ihnen in das vermooste Becken. Wolken schoben sich vor die Sonne.

      »Soll ich dir ein Geheimnis verraten?«, fragte Roja.

      »Sag.«

      »Nur, wenn du’s nicht weiterverrätst.«

      Traudel schüttelte den Kopf. Biss in die Schokolade. Ein Stück blieb an ihrer Lippe kleben.

      »Ein Onkel wohnt jetzt bei uns.«

      Ein Eichhörnchen flitzte am Stamm der Eiche gegenüber hinunter, dass es aussah, als würde es fallen.

      Am Abend lag Roja in ihrem Bett, das Asthmaspray griffbereit neben ihrem Kopfkissen. Die Äste der Bäume kratzten an den geöffneten Fenstern. Ihre Schatten glichen dürren Armen, die versuchten, nach ihr zu greifen. Sie faltete ihre Hände. »Bitte lass mich heute durchschlafen.«

      Aus dem Wohnzimmer drang Licht durch die mit Kinderbildern abgeklebte Glastür. Eines davon hatte Roja noch im Kindergarten gemalt. Es zeigte einen blauen Drachen, der Feuer spie. Darunter ein Bild ihres Bruders Serhat, auf dem ein Pirat über einen Berg kletterte. Berge wie in ihrer Heimat. Das Licht bewegte sich, wechselte die Farben. Ausnahmsweise liefen im Fernsehen die deutschen Nachrichten, was allemal besser war als das Streiten ihrer Eltern, das sie mit Tränen in den Schlaf begleitete. Wenn Mutter vom Elternabend zurückkam und nichts verstanden hatte. Oft war das Kopfkissen, das sich Roja auf Gesicht und Ohren gedrückt hatte, am Morgen feucht. Dann wünschte sie sich, ihr Bruder würde lauter schnarchen, um die Stimmen nicht mehr hören zu müssen. Serhat kümmerte das Geschrei seiner Eltern wenig. Wenn er mit den anderen Jungs gebolzt hatte, mit grünen Knien und aufgeschlagenen Beinen nach Hause kam, schickte ihn die Erschöpfung sofort nach dem Abendessen in den Schlaf. Auch Mutter kümmerte ihn wenig, die versuchte, mit Waschbrett und Seife seine Hose zu retten. Die Flecken aus dem Stoff schrubbte und Löcher mit Stoff aus zerschnittenen, abgetragenen Anziehsachen übernähte. Ihr Vater erklärte, dass Jungs Fußball spielen müssten, um stark zu werden. Mutter erzählte oft von den starken Frauen in ihrer Heimat, die für die Freiheit kämpften. Wenn Roja nachfragte, Namen oder Orte wissen wollte, zog sich Mutter das bunte Kopftuch mit den Blumen fester über die langen dunkelbraunen Haare. Sprach über die nächste Mahlzeit oder flocht Roja ihre Zöpfe neu.

      »Wenn du älter bist, erzähle ich es dir«, sagte sie ausweichend. Insgeheim wünschte sich Roja, dass ihr Vater davon erzählen würde.

      Roja wollte Ärztin werden, die Geister aus der Vergangenheit und Krankheiten wie Asthma vertreiben.

      Heute war der Onkel da und die Eltern stritten nicht. Vor dem Zubettgehen hatte er ihr die Geschichte vom Newrozfest erzählt. Jetzt saß er mit Vater und Mutter im Wohnzimmer und sie tranken Ça. Da läutete es.

      Freitag, 4. März 2016

      Auffing (Oberbayern)

      Ayyub Zlatar

      Der Motor seines alten Fords röhrt seltsam blechern, als er auf dem Parkplatz der Polizeiwache den Schlüssel zieht. Er steigt aus, dreht sich nicht um, schließt nicht ab. Bummbumm. Bummbumm. Bummbumm. Dafür schließt er seine Jacke. Darunter sein Rollkragenpullover. Geht direkt auf die Eingangstür der Wache zu. Der Geruch von verbranntem Holz. Die Narbe. Das Nach-vorne-Sehen strengt an. Der Kiefer spannt. »21, 22.« Die Treppe hinauf. Stufe für Stufe. Das blaue Schild mit weißer Schrift: Polizei. Verräter. Goldene Strahlen. Gefüllt mit blau-weißen Rauten. Die kalte Türklinke. Wie der Griff seines Colts. Die Aufrechten. Die Patronen. Metall, stark, auf ewig gegossen in Metall. Bumm … Bumm … Bumm … »23, 24.« Die Tür schwankt, er tritt trotzdem ein. Ein Hund bellt. Hinein, bevor sie das Tier auf ihn hetzen. Bummbumm. Bummbumm. Bummbumm. »25, 26.« Hinter der Glasscheibe ein Wächter in Uniform, funkt. Rauschen dringt zu Ayyub durch die durchsichtige