Michael Donkor

Halt


Скачать книгу

       Dank des Autors

       Dezember 2002

      Der Sarg glich einem schönen Stück Hochzeitstorte. Silber- und pinkfarbene Schnörkel wanden sich wie Schönschrift um die Kiste, die jetzt neben der aufgeschlitzten Erde stand, in die die Männer sie hinabsenken würden. Schnalzend bewunderten die Trauergäste den Sarg. Belinda musste sich zwingen, hinzusehen. Ihr Handy vibrierte in der Handtasche, aber Belinda ließ es rumpeln. Sie stellte die Füße dicht nebeneinander, richtete ihr Kopftuch und strich ihr Kleid glatt, damit es sich um die Brust herum nicht so bauschte. Sie wischte sich über das geschwollene Gesicht und sah dann, dass der Eyeliner schwarze Striemen auf ihrer Handfläche hinterlassen hatte.

      Noch während Belinda ihre schmutzigen Hände betrachtete, rief einer der jungen Sargträger auf der anderen Seite des Grabes ein Kommando. Er und die anderen streiften die Tücher ab, die ihre Oberkörper bedeckt hatten, wirbelten damit durch die Luft und baten dann um Hämmer. Drei kleine Jungs um die sechs, sieben Jahre flitzten mit Werkzeug herbei, das schwerer war als ihre eigenen kleinen Glieder. Die Kinder eilten wieder davon, die Hände voll mit süßen chin chins, und fielen dabei fast in das Loch, das nicht ihnen zugedacht war, lachten aber nur vergnügt darüber, wie knapp sie einem Unfall entgangen waren. Belinda überlegte, ob sie damals in ihrem Alter jemals so gelacht hatte.

      Die Männer machten sich daran, die Griffe vom Sarg zu schlagen, jeder wollte ein Stück dieser glänzenden Deko, die ihnen auf dem Markt gutes Geld einbringen würde. Belinda wusste, dass es bei jeder Beerdigung so zuging, und dass das Hämmern und Demontieren nicht schlimmer war als alles, was sie in den letzten Stunden gesehen hatte – aber je länger das Hämmern der Männer gegen die Beschläge anhielt, desto mehr pochte es in Belindas Schädel. Ihr Kinn schob sich nach vorn, als würde daran gezogen, und ihr ganzer Körper verkrampfte sich. Belinda bohrte den Absatz ihres Pumps in die rote Erde, passend zum Blut, das durch ihre Adern rauschte. Als der Sarg aller Metallteile beraubt war, überzogen ihn viele tiefe schwarze Furchen.

      Jemand schubste Belinda, damit sie weiterging. Sie blieb stehen, wo sie war. Die Sargträger stolzierten herum und fassten sich an ihre Muskeln. Jemand forderte die Trauergäste auf, zu jubeln. Einige der älteren Trauernden jammerten etwas von Teilen, Verwandten und Fairness.

      »Schwester!«, sagte ein Mann aufgeregt und hielt Belinda einen Messingknauf hin. Sie ließ ihn zu Boden fallen, wo er zu ihren Füßen rollte. Er reichte ihr nicht.

FRÜHLING

       1

       Daban, Kumasi – März 2002

      Belinda wurde unruhig im Dämmerlicht. Sie setzte sich auf, zog die Knie an und das dünne Laken fest um sich. Draußen riefen die hohen Töne des Muezzins sämtliche Muslime der Stadt zum Gebet. Die Dämmerung nahm allmählich Schattierungen von Gold und Pfirsich an, und diese Farben ergossen sich durch die Jalousien, breiteten sich an den getünchten Wänden aus und über das Kind, das neben Belinda schniefte.

      So viele Monate war es her, dass man Belinda und Mary, als sie ihre Arbeit im Haus von Aunty und Uncle aufnahmen, das Dienstbotenquartier gezeigt und ihnen erklärt hatte, sie müssten sich ein Bett teilen. Zunächst war es Belinda unangenehm gewesen – so dicht beieinander zu schlafen, bei einer Fremden, bei jemandem, der nicht Mutter war. Aber sie gewöhnte sich bald daran, wie an so viele andere Dinge in diesem Haus, und irgendwann mochte sie sogar dieses pfeifende Schnarchen, in das Mary oft verfiel. Auf diesem Bett schlief Mary ausnahmslos jede Nacht in genau derselben Lage: Sie rollte ihren kleinen Körper ein und stopfte sich den Daumen in den Mund. Jetzt sah Belinda ihr dabei zu, wie sie sich noch fester einrollte und an etwas Unsichtbarem kaute. Sie überlegte, ob sie ihr das aufgelöste Zöpfchen aus der Stirn streichen sollte, das sich dorthin verirrt hatte.

      Belinda wandte sich von Mary ab und fuhr sich mit den Handflächen in langsamen, kreisenden Bewegungen über die Schläfen. Die Kopfschmerzen hatte sie bekommen, weil sie für zwei denken musste: einmal für Mary, einmal für sich selbst. Eine tägliche Pflicht, die weitaus anstrengender war als das Aufschütteln von Auntys und Uncles troddelngeschmückten Kissen, das Waschen ihres Unterzeugs, die Zubereitung ihres aufwendigen Frühstücks.

      Belinda ließ sich mit den Beinen zuerst aus dem Bett gleiten und tappte ins Bad, machte dabei einen Bogen um die Fernbedienung für die Klimaanlage, die sie nie benutzten, und die Reste der Moskitospirale. Sie streifte die Stange, an der ihre beiden Tabbards hingen. Belinda erinnerte sich an das erste Mal, dass Aunty diesen Begriff gebraucht hatte – »Tabbard« – und daran, wie verwirrt Mary plötzlich dreinblickte, weil das Wort so merkwürdig war, genauso merkwürdig wie die geblümte Uniform, die sie auf ausdrückliche Weisung von Aunty zum Putzen tragen sollten. Das würde Belinda fehlen – Marys Mienenspiel, wie schnell und wie drastisch es sich verändern konnte.

      Unter dem rostigen Duschkopf schrubbte sich Belinda mit der medizinischen Neko-Seife. Dampf stieg auf, Wasser spritzte. Im Geist hörte Belinda noch einmal die Sätze, die Auntys Überzeugung nach Mary versöhnlich stimmen würden. Sie zupfte an einem Haar, das aus ihrer linken, dunkleren Brustwarze spross, zog es aus den Schaumbläschen. Die Wurzel krümmte sich erschrocken zu einem Häkchen. Ein angenehmes Gefühl.

      Als sie ins Schlafzimmer zurückkehrte, gab sie im kleinen Spiegel eine lächerliche Erscheinung ab, mit dem aufgetürmten Handtuch als alberne Krone. Einen Moment lang vergaß sie die Herausforderungen des Tages und hüpfte auf dem dünnen Teppich herum. Ob das Amma gefallen würde? Ob man die junge Londonerin mit dem Seelenknacks durch Witze heilen konnte? Vielleicht wäre es Belinda aber auch zu peinlich.

      Mary schoss unter der Bettdecke hervor und warf sich an Belindas Brust. Belinda stieß sie zurück, Mary verlor das Gleichgewicht und fiel aufs Bett.

      »Was soll das? Bist du etwa –? Bist du so ein dummes –« Belinda zog das Handtuch höher. »Grabschst nach allem, was du haben willst, was?«

      »Was stellst du dich so an?« Mary hob eine Augenbraue. »Hab ich alles schon mal gesehen. Dafür musst du dich nicht schämen. Und wir wissen beide, dass die Tür zur Dusche unten ein gutes Stück freilässt und ich mache auch nie ein Geheimnis draus, wenn ich gucke. Du hast mich sicher gehört, wenn ich mal wieder glotzen wollte. Vielleicht hast du sogar mein Äuglein gesehen, wie es hochblickt« – Mary kniff ihr Auge zusammen – »und du hast kein Wort gesagt, nie. Kannst dich also ruhig entspannen. Ich« – Mary drehte den Kopf nach links, nach rechts, wieder nach links – »wollte bloß sehen, ob deine anders sind als meine.« Sie zog ihr Unterhemd hoch und Belinda zog es gleich wieder runter. In ihren Ohren ließ ein Klingeln nach.

      »Eigentlich wollte ich erzählen, was für schöne Dinge dir winken«, hob Belinda an.

      »Was für Dinge? Miss Belinda?« Mary verschränkte die Arme. »Adjei! Was stehst du so stumm da und bist unfair zu mir. Adɛn? Ich will mehr hören. Was für Dinge? Erzähl’s mir!«

      »Nicht so laut, Mary! Du weißt doch, dass Aunty und Uncle noch schlafen.«

      »Verrate mir das Geheimnis, dann spreche ich mit meiner süßesten, sanftesten Stimme.«

      Belinda trat auf den Spiegel zu und rückte ihn leicht zurecht. »Erstens: Wir bekommen den Tag frei.«

      »Wa bo dam! Tag frei?!«

      »Aane.«

      »Tag. Frei. Ewurade. Das gab’s ja noch nie.« Mary rieb sich die Hände. »Heute müssen wir also nicht eklige Fäden aus dem Abfluss in der Spülmaschine pulen? Müssen nicht schon wieder den Kaffeefleck auf Uncles Sonntagshemd rubbeln, wo doch jeder weiß, dass dieser Fleck für immer und bis in alle Ewigkeit fortleben wird, Amen!«

      Mary lachte und hörte jäh auf, um mit ihren dicken Fingerchen zu zählen. »Du hast gesagt: Erstens.