Catherine Cusset

Hockneys Leben


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      CATHERINE CUSSET

      HOCKNEYS LEBEN

      Roman

      Aus dem Französischen

      von Maja Ueberle-Pfaff

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      INHALT

       Prolog

       I. Ein großer Blonder im weißen Anzug

       II. Der Kummer währt drei Jahre

       III. Das innere Kind

       IV. Der Tod wird überschätzt

       V. Weißdornblüte

       Dank

       Ausgewählte Literatur

      Dieses Buch ist ein Roman. Alle Fakten sind wahr und belegt. Erfunden habe ich die Gefühle, die Gedanken, die Dialoge. Dabei handelt es sich streng genommen eher um Intuition und um Rückschlüsse als um Erfindung: Mein Ausgangspunkt waren die zahlreichen Aufsätze, Biografien, Interviews, Kataloge und Artikel, die über David Hockney veröffentlicht wurden. Ich habe nach dem Zusammenhang gesucht und die Puzzleteile kombiniert. Das Porträt, das ich hier zeichne, spiegelt meine eigene Sicht auf sein Leben und seine Person wider, auch wenn mich seine Person, seine Werke und seine Worte dazu inspiriert haben. Ich hoffe, dass der Künstler dies als eine Hommage verstehen wird.

      Warum Hockney? Ich bin ihm nie begegnet. Es mutet eigenartig an, sich der Existenz einer lebenden Person zu bemächtigen und sie zu einem Roman zu verarbeiten. Doch in Wahrheit hat die Person sich meiner bemächtigt. Was ich über Hockney gelesen habe, hat mich begeistert. Seine Freiheit hat mich fasziniert. Ich hatte das Bedürfnis, dokumentarisches Material, das den Leser ausschließt, in eine Erzählung zu verwandeln, die den Weg des Künstlers von innen her beleuchtet, indem sie sich der existenziellen Fragen annimmt, jener Fragen also, die um Liebe, Kreativität, Leben und Tod kreisen.

      I

      EIN GROSSER BLONDER IM WEISSEN ANZUG

      Sein Vater war überzeugter Pazifist. Ken Hockney hatte gesehen, was der Erste Weltkrieg bei seinem älteren Bruder angerichtet hatte, der nach einem Giftgasangriff als Gespenst, geradezu zerstört nach Hause zurückgekehrt war. 1939 widersetzte er sich dem neuerlichen Krieg. Er verlor seine Arbeit und das Recht auf staatliche Unterstützung, machte sich viele Feinde und wurde von Nachbarn geringschätzig behandelt. «Kinder, kümmert euch nicht darum, was die Nachbarn denken» – so lautete die wichtigste Lektion, die er an seine vier Söhne und seine Tochter weitergab.

      Ken hatte kein Geld, aber an Phantasie mangelte es ihm nicht. Er holte kaputte, ausrangierte Kinderwagen von der Müllhalde und reparierte und bemalte sie, sodass sie aussahen wie neu. Nach dem Krieg wandte er dieselbe Methode auf Fahrräder an. Als kleiner Junge konnte sich David nichts Schöneres vorstellen als den Moment, in dem der Malerpinsel des Vaters auf den Rahmen eines Fahrrads traf. In Sekundenschnelle wurde das rostige Material wie durch Zauberkraft leuchtend rot. Die Welt wechselte die Farbe.

      Er war stolz auf seinen Vater, den seine Mutter stirnrunzelnd einen «wahren Künstler» nannte. Erfinderisch, wie er war, konnte Ken sich elegant kleiden, ohne einen einzigen Penny auszugeben. Er beklebte seine Krägen und Krawatten mit Papier, das er mit bunten Tupfen und Streifen bemalt hatte. David bewunderte seine Pfiffigkeit. Wenn Ken die Fahrräder wiederhergerichtet hatte, setzte er eine knappe Anzeige mit der Nummer der nächsten öffentlichen Telefonzelle in die Zeitung, trug einen Sessel auf die Straße und machte es sich neben der Zelle bequem, bei Regen unter einem Schirm. Das war sein Laden. Als ihm einmal die Idee kam, das Haus müsse dringend renoviert werden, nagelte er Bretter auf die Türen und malte Sonnenuntergänge darauf. Der kleine David konnte sich daran gar nicht sattsehen.

      David erinnerte sich später vage an die Flugzeuge, die über ihre Köpfe hinwegflogen, und an den Tag, an dem er mit seinen beiden Brüdern, seiner älteren Schwester und seiner im neunten Monat schwangeren Mutter evakuiert wurde. Keine Erinnerung aber besaß er an das Entsetzen seines großen Bruders, der während der Bombenangriffe die Hand der Mutter vor Angst fast zerquetschte – «Bitte, Mama, bete für uns» –, oder an die Bombe, die mehrere Häuser in ihrer Straße in Trümmer legte und die Fenster aller übrigen, außer ihrem, zerbersten ließ. Seine Kindheit bestand aus Spielen im Freien mit seinen Geschwistern, Streifzügen durch den Wald, Fahrradausflügen auf den Landstraßen der Umgebung, ruhigen Stunden in der Sonntagsschule, in denen die Kinder auf die ausgeteilten Papierbögen das zeichneten, was sie an jenem Tag in der Messe gehört hatten: Jesus, der über das Wasser wandelte, Jesus, der von den Toten auferstand. Bei Pfadfinderlagern führte er das Logbuch, in dem er die Aktivitäten in Form von Bildern festhielt. Samstags nahm der Vater die Kinder ins Kino mit, wo sie sich Superman, Charlie Chaplin oder Laurel und Hardy ansahen. Er kaufte Plätze für Sixpence, die billigsten, in den ersten drei Reihen, und manchmal hatte David, weil die Leinwand so nah war, das Gefühl, als tauchte er in die Welt des Films ein. An Weihnachten ging die Familie in das Alhambra und sah sich eine Panto an, eine unterhaltsame Mischung aus Komödie, Märchen und Musical, bei der sie sich vor Lachen ausschütteten. Sonntags durften David und seine Geschwister ihre Freunde zum Tee einladen, den ihre Mutter zubereitete. Ein appetitlicher Duft nach frisch gebackenem Kuchen durchzog das Haus, der Tisch bog sich unter Scones, Mini-Sandwiches und Marmelade, durch die Küche schallte das Gelächter der Kinder, die sich so oft nachnehmen durften, wie sie wollten, vier, fünf oder sechs Mal.

      David wusste nicht einmal, dass die Familie arm war. Sein größtes Vergnügen war ohnehin gratis: Er nahm den kostenlosen Doppeldecker, stieg die Stufen in die obere Etage hinauf und versuchte, einen Platz ganz vorne zu ergattern, mal neben einem Mann, der ihm seinen Zigarettenrauch ins Gesicht blies, mal neben einer alten Dame, die er mit höflichen Entschuldigungen dazu nötigte, ihre Einkaufstasche auf den Boden zu stellen. Durch die breite Fensterscheibe blickte er auf die Straße hinab oder ließ die Landschaft in der Ferne an sich vorüberziehen. Dasselbe Vergnügen empfand er als Heranwachsender, wenn er sein Fahrrad von dem Bauernhof, auf dem er zwei Sommer lang aushalf, bis zum Gipfel des Garrowby Hill schob. Von dort oben konnte er die ganze Tiefebene um York überblicken, ein Panorama von 160 Grad, ohne jedes Hindernis. Was gab es Schöneres?

      Ihm mangelte es an nichts, außer an Papier. Für einen Jungen, der so gern zeichnete, stellte die Papierknappheit der Nachkriegszeit ein echtes Problem dar. David zeichnete auf alles, was er in die Finger bekam: die Ränder von Schulbüchern und Schulheften, Zeitungen, Comics. Manchmal rief einer seiner Brüder wütend: «Jetzt hast du die Sprechblasen aber genug vollgeschmiert. Man kann sie ja kaum noch lesen!» Konnte man vom Zeichnen leben? Ja, wenn man ein Künstler war. Was war ein Künstler? Jemand, der Weihnachtskarten entwarf oder Filmplakate. Es gab vierzig Kinos in ihrer Stadt und überall hingen Plakate. Auf einem war ein Mann abgebildet, der sich über eine Frau beugte, im Hintergrund glühte ein Sonnenuntergang. David studierte es eingehend. So etwas konnte er auch, sogar noch besser. Und am Abend oder sonntags nach der Kirche würde er zeichnen können, wonach ihm der Sinn stand, ganz für sich allein. Wenn dann die Rechnungen bezahlt waren und etwas Kleingeld übrig blieb, würde er sich Papier kaufen können. Es wäre ein gutes Leben.

      Der kleine David träumte.

      Er war aber nicht nur ein Träumer, sondern auch ein guter Schüler. Er hatte ein Stipendium für die beste Grammar School erhalten. In der Schule war er beliebt, weil er