Catherine Cusset

Hockneys Leben


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über seinen Wunsch, mithilfe der Malerei eine Realität darzustellen, über die er Stillschweigen bewahren musste? Sein älterer Bruder war verheiratet, der jüngere verlobt. Keiner fragte David, ob er eine Freundin habe. Das Thema wurde einfach ausgeklammert, so als besitze ein Künstler keinen Körper – oder als wüssten alle Bescheid, wollten es aber nicht wahrhaben.

      Doch David hatte einen Körper. Und ein Herz.

      Eines Tages führte einer seiner Mitstudenten am Ende eines feuchtfröhlichen Abends am Royal College einen neuen Tanz vor, der sich Cha-Cha-Cha nannte. David sah ihm von seinem Stuhl aus zu, und als Peter ihn anlächelte und die Hand ausstreckte, um ihn zum Tanzen aufzufordern, ging ihm dieses Lächeln durch und durch. Es traf ihn mitten ins Herz. Liebe auf den ersten Blick. Er war aufgewühlt und wie benommen, seine Ohren brannten. Er hatte keine Lust zu tanzen. Er sah lieber zu. Er verlangte noch eine Demonstration, und noch eine, und konnte den Blick nicht von dem grazilen Körper wenden, den Hüften, die abwechselnd laszive Schwünge nach rechts und nach links vollführten, und den sinnlichen, wie zum Kuss aufgeworfenen Lippen, mit denen der junge Mann für ihn sein «cha-cha-cha» sang. Peter war aufreizender als Marilyn, aufreizender als die lebendige Puppe aus dem Song von Cliff Richard, den David so mochte. Living Doll. Eine Jungen-Puppe. Doll Boy. David hätte ein Königreich für einen Kuss gegeben, aber er war höflich und schüchtern und wagte es nicht, und vor allem wusste er, dass Peter eine Freundin hatte. Monatelang verfolgte ihn die Erinnerung an diesen Anblick. An den Abend, an dem Peter mit seinen geschmeidigen Hüften und aufgeworfenen Lippen für ihn getanzt hatte. Dieses brennende Verlangen, diese Sehnsucht nach Peters Verlangen, nach seinem Körper hätte er gern in seinen Bildern ausgedrückt; es war ein Verlangen, das ihn zerriss, denn auf der einen Seite gab es den Sex, auf der anderen die Liebe, und beides ließ sich nicht in Einklang bringen. Er erlebte es nur dann, wenn er vor seiner Staffelei stand und sich beim Malen von The Cha Cha that was danced in the Early Hours of 24th March 1961 quicklebendig fühlte und vor innerer Erregung bebte, wenn er auf dem Hintergrund von kräftigem Rot, Blau und Gelb die Bewegungen von Peters Körper nachempfand und in winzigen Buchstaben an verschiedenen Stellen «I love every movement», «penetrates deep down» und «gives instant relief from» einfügte. Das war kein Gemälde. Das war das Leben.

      Er hatte im Herbst so viel gemalt, dass er, wie die Grille, die den ganzen Sommer über gesungen hat, im Winter keinen Penny mehr für Leinwand und Farben besaß. Glücklicherweise gab es die Abteilung Grafik, die den Studenten kostenlos Material stellte. David hatte keine Wahl. Doch bei seinen Radierungen ging er nicht anders vor als bei den Gemälden, er tat, was ihn interessierte, er ritzte seine ureigenen, von Whitman oder Kavafis inspirierten Visionen in die Platte. Im April bot ihm ein Kommilitone für vierzig Pfund ein Flugticket nach New York an, das er selbst nicht nutzen konnte. Vierzig Pfund für einen Flug nach New York? Das war ein Angebot, das man nicht ablehnen konnte. David schwor sich, das Geld aufzutreiben. Er würde es sich erarbeiten.

      An einem regnerischen Apriltag hatte er, als er die Tür seines Gartenhäuschens am Earls Court hinter sich zuzog, gerade noch zehn Shilling in der Tasche – seine gesamte Barschaft. Es goss in Strömen. Auf der anderen Straßenseite stand ein Taxi. Die Fahrt zum Royal College kostete fünf Shilling, die Hälfte seines Vermögens, die nicht weit entfernte U-Bahn dagegen nur wenige Pence, aber in diesem Fall stünde ihm noch ein zehnminütiger Fußweg zur Hochschule bevor. Plötzlich überkam ihn der heftige Wunsch, das zu tun, was für viele Londoner ganz normal war: die Straße überqueren, die Taxitür öffnen, sich in die trockene, bequeme Fahrgastkabine setzen und mit selbstverständlicher Autorität sagen: «Zum Royal College, bitte.» Und das tat er denn auch.

      In der Hochschule erwartete ihn ein Brief. Als er den Umschlag aufriss und ein dreifach gefaltetes Blatt herauszog, flatterte ein Stück Papier zu Boden. Er hob es auf. Es war ein Scheck über einhundert Pfund, ausgestellt auf seinen Namen. Verblüfft starrte er darauf, in der festen Überzeugung, seine Phantasie spiele ihm einen Streich. In dem beigefügten Brief beglückwünschte ihn ein gewisser Mr. Erskine, von dem er noch nie etwas gehört hatte, zu einem Preis, der ihm für seine Radierung Three Kings and a Queen zuerkannt worden war. David hatte in der Tat eine Radierung mit diesem Titel angefertigt, aber er hatte sie nie zu einem Wettbewerb eingereicht. Er verstand es nicht. Es war ein Rätsel, oder ein Scherz der Götter. Gerade eben hatte er aus einer Laune heraus, ohne einen Gedanken an die Zukunft, seine letzte Barschaft ausgegeben, und nun belohnte ihn eine gute Fee mit hundert Pfund. Später, als er bereits auf Reisen war, erfuhr er, dass es sich bei der guten Fee um einen Professor des Fachbereichs Grafik handelte, der Davids Radierung auf einem Regal gefunden und sie, ohne ihn zu fragen, der Jury zugeschickt hatte. Doch für David war diese Information zweitrangig – aus seiner Sicht spielte das Taxi die entscheidende Rolle.

      Kurz vor Sommeranfang gelang es ihm, mehrere Bilder und einige Grafiken zu verkaufen. Im Juli setzte er sich mit dreihundert Pfund in der Tasche ins Flugzeug nach New York. Er war gerade vierundzwanzig geworden. Am Kennedy Airport nahm ihn Mark in Empfang.

      Eine solche Hitze hatte David noch nie erlebt. Sie war feucht, drückend, unerträglich, und er schwitzte so stark, dass sein Hemd ständig an der Haut klebte, aber er war in der Stadt, von der er geträumt hatte, einer Stadt voller Lichter, Lärm und Lebendigkeit, in der man um drei Uhr nachts ein Bier oder die Zeitung kaufen konnte. Und wie viele Schwulenbars es hier gab! Und wie viele vegetarische Restaurants! Museen auch, gewiss, und er besuchte sie natürlich. Doch dazu war er nicht hergekommen. Times Square, Christopher Street, East Village. Die Kinos, die Sex-Shops, die Clubs, die Pontons am Hudson River, wo die Männer mit nacktem Oberkörper umherliefen, diese ganze Saloppheit eines brütend heißen Sommers. Er wohnte bei Mark, dessen Eltern ein Haus auf Long Island besaßen, und lernte einen Freund von Mark namens Ferrill kennen, der sein Liebhaber wurde. Sein erster Liebhaber, mit dem er sich nicht verstecken musste. Es gab nun zwei Stadtführer, die ihm halfen, das schwule New York zu entdecken.

      Eines Nachmittags erweckte ein TV-Werbespot das Interesse des Trios. Er zeigte ein junges Mädchen mit goldblond gefärbtem Haar, das aus einem Flugzeug stieg, sich in die Arme eines Mannes warf, Billard spielte und mit einem Hund an der Seite, einem strahlenden Lächeln auf den Lippen und wehenden Haaren durch die Sonne lief, während eine weibliche Stimme fragte: «Stimmt es, dass Blondinen mehr Spaß haben?» Dann unterbrach ein männlicher Erzähler die Musik: «Clairol-Blond ist ein Lebensgefühl. Genießen Sie es!» Die drei jungen Männer, die allesamt für den Film Some Like it Hot schwärmten, auf den der Spot offensichtlich anspielte, wechselten vielsagende Blicke.

      Eine Viertelstunde später verließen sie den nächstgelegenen Drugstore mit einer Tüte, die das magische Produkt enthielt. Unter Gekicher lasen sie die Anweisungen, mischten im Badezimmer die Bestandteile zusammen, zogen sich aus und shampoonierten sich unter der Dusche. Dann konnten sie zusehen, wie sich die Metamorphose vollzog. Sie verwandelten sich in drei große Wasserstoffsuperblonde. Sie lachten, bis ihnen die Tränen über die Wangen liefen, besonders als Marks Vater gegen Abend aus seinem Geschäft kam, die drei Gestalten auf seinem Sofa erblickte und fast einen Herzanfall bekam. Kein Zweifel, Blonde hatten mehr Spaß im Leben.

      David betrachtete sich im Spiegel und war fasziniert. Es war wie mit dem Taxi in London. Reine Magie. Man handelte aus einer Laune heraus, ohne die Folgen zu bedenken, nur so aus Spaß, und man wurde belohnt. Darin bestand das Geheimnis des Lebens. Er war blond geworden, wie die Models in Physique Pictorial. Bis dahin hatte er sich weder schön noch hässlich gefunden – andere bezeichneten ihn gelegentlich als hübsch –, und nun hatte er sich innerhalb kürzester Zeit in einen frappierend blonden Mann verwandelt, den man nicht übersehen konnte. Er war sehr angetan von seiner neuen Haarfarbe, nicht weil «Blonde mehr Spaß haben», sondern weil er sich neu erschaffen hatte. Er war seine eigene Erfindung. Es war wie eine zweite Geburt. Die neue Haarfarbe kündete von seiner Identität als Schwuler – sein wahrstes, intimstes Ich –, und gleichzeitig war sie ein Kunstgriff, eine Maske, eine Täuschung. Natur und Künstlichkeit waren demnach keine Gegensätze, ebenso wenig wie Gegenständlichkeit und Abstraktion, Poesie und Graffiti, Zitat und Originalität, Spiel und Realität. Man konnte alles miteinander kombinieren. Das Leben war, wie die Malerei, eine Bühne, auf der man spielte.

      Ein außergewöhnlicher Sommer. Er zog aus dem Haus von Marks Eltern aus, die von dem exzentrischen Gehabe der Freunde ihres Sohnes allmählich