Wie sich zeigte, ist das Anliegen der Missionsbefehle, Kontinuität zwischen Jesu Wirken und dem seiner Gesandten aufzuweisen. Umso mehr fällt ein Aspekt der Diskontinuität auf: Wenn Jesus sich, von Ausnahmen abgesehen (v. a. Mk 5,1–20; 7,24–30 parr.; 7,31–37), mit seiner Mission nur an Israel wandte, wie kommt es, dass der Auferstandene die Seinen beauftragt, zu allen Völkern zu gehen? Die Erklärung dafür ist, dass die Missionsbefehle durchsichtig für nachösterliche Erfahrungen sind, die der Abfassung der Evangelien 80–90 n. Chr. vorangingen: Sie setzen „die bereits Faktum gewordene ‚heiden‘-missionarische Öffnung der neutestamentlichen Gemeinde […] voraus. Theologisch wird das nachösterliche heilshafte Wirken der Gemeinde von der Vollmacht des Auferstandenen und der Bemächtigung durch den Geist abgeleitet.“26
Es lohnt sich nachzuzeichnen, wie die Apostelgeschichte aus der Perspektive der dritten christlichen Generation „für die theologische Legitimität des Heidenchristentums“ und der Heidenmission plädiert, indem sie „auf den Weg zurückblickt, den Gott die Kirche geführt hat“27. Vom Gedanken der Kontinuität der Heilsgeschichte ausgehend, entfaltet Lukas eine reflektierte narrative Theologie der Mission.
3.2 Pfingsten: Die Sendung des Geistes als Voraussetzung der Mission
Der Geist als „Ersatz für die leibliche Gegenwart des Geistträgers Jesus“ ist im Konzept der Apostelgeschichte die bestimmende Wirklichkeit der Kirche. Er ermöglicht prophetische Rede, d. h. Zeugnis von Jesus, und bestimmt den Weg der Kirche an kritischen Wendepunkten.28 Die Geistsendung zu Pfingsten (Apg 2) erfüllt alttestamentliche Verheißungen (Joel 3,1–5; Jes 32,14 f.; Ez 36,26): Das für Israel angekündigte erneuerte Gottesverhältnis mit seiner unmittelbaren Nähe zu Gott ist verwirklicht. Es kann nicht auf die kleine Gruppe der Jesusjünger beschränkt bleiben: „Es greift aus nach dem gesamten Gottesvolk und, darüber hinaus, auf die jetzt noch außerhalb Israels stehenden Heiden. Die Apostelgeschichte beschreibt deshalb den mit Pfingsten einsetzenden Prozeß der sichtbaren Sammlung des Gottesvolkes als ein Geschehen, das in zwei Phasen […] abläuft: der Sammlung Israels folgt die Sammlung der Heiden.“29
3.3 Die Sammlung Israels mit dem Umkehrruf zum Messias Jesus
Die Sammlung Israels schildert Lukas in Apg 2–6. Sie nimmt mit in Jerusalem wohnenden Diasporajuden (Apg 2,5) ihren Anfang, deren Herkunft die Völkerliste nennt (2,9–11).30 Sie erscheinen als Vertreter des über viele Weltgegenden verbreiteten Judentums, vorausschauend auch als Repräsentanten der Weltvölker. Die Predigten des Petrus zu Pfingsten (2,14–36), am Tempelplatz (3,12–26) und vor dem Hohen Rat (4,9–12; 5,29–32) sind Umkehrpredigten an die Angehörigen seines Volkes mit einem dreiteiligen Schema:31 Der Unheilstat der Tötung Jesu wird die Heilstat seiner Auferweckung durch Gott gegenübergestellt32 und daraus folgend die Möglichkeit der Umkehr eröffnet: „Diese besteht in der Einsicht, daß Gott das Unheilshandeln des Volkes, das zur Kreuzigung Jesu führte, durch sein Eingreifen zum Heil gewendet hat, indem er Jesus von den Toten auferweckte und zum messianischen Herrscher Israels in der Nachfolge Davids einsetzte (2,23–34).“33 Lukas erzählt, dass – abgesehen von den Anführern – wesentliche Teile Israels dem Umkehrruf folgten (2,41; 4,4; 5,14; 6,1.7). So repräsentiert „die Jerusalemer Urgemeinde am Ende ihrer Gründungsphase […] die Erfüllung der Verheißung der Erneuerung Israels […]“34.
3.4 Die Sammlung der Heiden – wichtige Etappen der Heidenmission
Nachdem die Phase der Sammlung Israels in Jerusalem für Lukas zu einem gewissen Abschluss gekommen ist, schildert er ab Apg 6,1 ausführlich die Sammlung der Heiden und plädiert damit im Rückblick für die Legitimität der Heidenmission.
3.4.1 Die Hellenisten: Wegbereiter der Heidenmission
Die Hellenisten waren Rückwanderer aus der griechischsprachigen Diaspora, die sich in Jerusalem der Urgemeinde anschlossen.35 Nach dem Martyrium des Stephanus wurden sie in verschiedene Regionen zerstreut (8,1b–4) und missionierten Randsiedler des Judentums: Philippus wandte sich mit seiner Mission an die Samaritaner (8,5–13) und an einen Sympathisanten des Judentums aus Äthiopien (8,26–40). Einige Hellenisten kamen nach Antiochia, wo sie Juden, aber auch anderen Hellenisten, d. h. griechisch sprechenden heidnischen Einwohnern, das Evangelium verkündeten (11,19 f.).36 So begann in Antiochia die Heidenmission, ja die Gemeinde wurde zu ihrem Zentrum, wo auch Paulus einige Jahre wirkte (11,25 f.).37 Fragt man nach dem theologischen Grund, warum sich die Hellenisten mit ihrer Mission Heiden zuwandten, findet man in der Anklage gegen Stephanus den entscheidenden Hinweis. Es heißt dort, er habe Kritik an Tempel und Gesetz geübt (Apg 6,13 f.).38 Als Hintergrund dieser Kritik ist die Überzeugung der Hellenisten anzunehmen, dass nicht mehr Tempel und Tora Heil vermitteln, sondern Jesus durch seinen Sühnetod der entscheidende Heilsmittler, Ort der Gegenwart Gottes und Zeichen seiner Bundestreue ist und das Ostergeschehen den endzeitlichen Tempel der Jesusgemeinschaft konstituiert. Entscheidend ist nun für Juden und Nichtjuden, sich im Glauben Jesus anzuschließen.39
3.4.2 Petrus: Heidenmission als „Chefsache“
Für den Beginn der Heidenmission spielt in der Apostelgeschichte neben den Hellenisten Petrus die entscheidende Rolle. Für Lukas ist er sogar der erste Heidenmissionar, vor der Ankunft der Hellenisten in Antiochia. Petrus tauft den römischen Hauptmann Kornelius, der gottesfürchtig, d. h. Sympathisant des Judentums ist (Apg 10,1–11,18).40 Eindrucksvoll führt die Erzählung die Legitimität der Heidenmission vor Augen: Die „göttliche Regie“ zeigt sich in Visionen, die Petrus und Kornelius zusammenführen, und in der Sendung des Geistes auf Kornelius und seine Angehörigen, noch bevor Petrus sie tauft. Als Petrus das alles der Gemeinde in Jerusalem berichtet, bricht sich auch dort die Einsicht Bahn, dass Gott „den Heiden die Umkehr zum Leben geschenkt“ habe (11,18).
3.4.3 Paulus: „Auserwähltes Werkzeug“ der Heidenmission
Nach dem „Pfingsten der Heiden“, dem Geistempfang des Kornelius und seiner Familie (Apg 10,44–47), „kann die Heidenmission beginnen, wie nach dem Pfingsten in Jerusalem die Judenmission begonnen hatte“41. Der Protagonist steht schon bereit: Apg 9 hatte die Bekehrung des Paulus vom Christenverfolger zum Christusverkündiger und seine Berufung zum auserwählten Werkzeug Gottes erzählt, der seinen Namen „vor Völker und Könige und die Söhne Israels tragen“ solle (9,15). Paulus wird dieser Berufung gerecht: Er ist im Auftrag der antiochenischen Gemeinde, dann als selbstständiger Missionar unterwegs. Nach der Apostelgeschichte predigt er immer zuerst in den Synagogen. Als er dort auf Abweisung und Widerstand stößt, wendet er sich den Heiden zu (vgl. Apg 13,46), die sich freuen (13,48), dass Gott ihnen die Tür des Glaubens öffnet (14,27).42 Die Hinwendung zu den Heiden bedeutet, dass Paulus – wie die Missionspredigt in Lystra (14,15–17) und die Areopagrede (17,22–31) zeigen – zuerst zum Glauben an den einen Gott und Schöpfer hinführen muss, bevor er die Christusverkündigung entfalten kann.43
3.4.4 Das Aposteltreffen: Anerkennung der gesetzesfreien Heidenmission
Durch die paulinische Heidenmission, wie sie mit der ersten Missionsreise (Apg 13–14) ihren Ausgang nahm, kam es zu einer Konsolidierung heidenchristlicher Gemeinden. Dadurch wurde die „grundsätzliche Anerkennung einer gesetzesfreien Heidenmission und eines nicht mehr an die jüdischen Kult- und Speisegesetze gebundenen Lebens der Christen notwendig […]“44. Beim Aposteltreffen (Apg 15) heißen die Jerusalemer Autoritäten die Einbeziehung von Heiden in die Kirche als Heiden gut, d. h. ohne vom Judentum geforderte Verpflichtungen, vor allem ohne Beschneidung. Die Jakobusrede fasst programmatisch die Mission aus lukanischer Sicht zusammen (15,13–18): Es ist Gottes Heilsplan, nach der Aufrichtung der verfallenen Hütte Davids (vgl. Am 9,11 f.), d. h. nach der Sammlung Israels, aus den Heiden ein Volk für seinen Namen zu gewinnen.45 Deshalb soll man den Heiden, die sich bekehren, keine Lasten aufbürden. Die Jakobusklauseln (15,20) nennen nur rituelle Minimalforderungen, welche die Tisch- und Lebensgemeinschaft von Juden- und Heidenchristen ermöglichen sollen. Nicht zufällig