Verena Themsen

Elfenzeit 4: Eislava


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hoher, klagender Ton empfing ihn, der seine Härchen sich aufstellen ließ. Zuerst hielt er es für ein Geräusch des Windes, der sich an einer Mauerverzierung fing. Doch je weiter er durch die Mauer drang, umso deutlicher wurde der Laut, und umso mehr fuhr er ihm in die Knochen.

      Wie die Klage einer Banshee, dachte er.

      Schließlich erreichte er das Ende des Tunnels. Er streckte den Kopf hinaus und sah sich um, doch die Wandfläche war hier so geneigt, dass sich ihm lediglich eine Ecke des düsteren, von flackerndem Licht erfüllten Raums offenbarte. Die Schlitze waren offensichtlich Teil eines Reliefs, das er nicht genau erkennen konnte. Es schien jedoch genug Halt zu bieten, dass er nicht in den Raum fallen würde.

      Mühsam zwängte Ainfar sich durch die Öffnung, die gerade groß genug war für seinen Körper, und fand sich in der Darstellung eines Käfigs wieder, in dem Skelette und halb verweste Kadaver mit gebrochenen Knochen und schwärenden Wunden hingen. Der Anblick ließ in ihm Übelkeit aufsteigen, und sein erster Impuls war, sich wieder zurück in den Gang zu schieben.

       Was für ein Wesen kann derartige Freude an Grausamkeit haben, dass es solche Bilder in seinen Gemächern haben will? Hat Bandorchu etwa ebenso viel Freude am Leid anderer, wie man es dem Getreuen nachsagt? Ich dachte immer, sie sei nur so hart wie es erforderlich ist, um ihre Herrschaft aufrechtzuerhalten … doch das hier ist mehr als das!

      Der Ton, der Ainfars Weg durch den Tunnel begleitet hatte, war in ein leiseres Wimmern übergegangen. Er löste den Blick von den Schreckensbildern um ihn herum und drehte den Kopf zum Raum, um herauszufinden, welches gequälte Wesen diesen Laut hervorbrachte.

      Er sah direkt in die schreckgeweiteten Augen Bandorchus.

      Ainfars Herz setzte für einen Schlag aus, dann begann es vor Angst zu rasen.

       Sie sieht mich …

      Doch es wirkte nicht, als würde die Königin ihn wahrnehmen, denn sie zeigte keinerlei Reaktion. Es war Zufall gewesen, der seinen Blick dem ihren hatte begegnen lassen. Ihre Augen huschten durch den ganzen Raum, während ihre Hände immer wieder tastend über ihr Gesicht glitten.

      »Was ist nur aus mir geworden«, flüsterte sie. »Wer bin ich … was bin ich …«

      Der Sack, den sie vom Getreuen erhalten hatte, lag zu ihren Füßen, leer, soweit Ainfar das beurteilen konnte. Sie taumelte ein wenig, trat darauf und geriet ins Rutschen, fing sich jedoch sofort wieder. Ein Ausdruck schierer Panik breitete sich auf ihrem Gesicht aus, als sie auf das schwarze Tuch hinunter sah.

      »Seit wann brauche ich das? Wann bin ich so geworden? Wie konnte das geschehen?«

      Es war der reine helle Klang von Bandorchus Stimme, doch es war, als würde eine andere sie benutzen. Niemals hatte Ainfar die Stimme in dieser Art zittern oder brechen hören. Niemals zuvor hatte er Verzweiflung oder vielmehr abgrundtiefen Horror darin gehört.

      »Was für ein … Unding bin ich geworden?«

      Erneut fuhren ihre Finger über ihre Wangen, krümmten sich und hinterließen rote Striemen. Ihre Augen quollen so sehr hervor, dass Ainfar glaubte, sie müssten im nächsten Moment als grüne Kristalle herausfallen. Doch stattdessen löste sich lediglich glasklares Wasser, rann über ihre Haut und fiel in glitzernden Tropfen zu Boden, um dort aufzuplatzen und in winzigen Spalten und Rissen zu versickern.

      »Was für ein Monster frisst Seelen, um die eigene Macht zu erhalten?«, flüsterte sie.

      Kälte fuhr in Ainfars Knochen, als stünde der Getreue neben ihm.

       Seelenfresser?

      Wenn es das war, was Bandorchus Macht erhielt, dann hatte sie wirklich die letzte Grenze überschritten. Dann war sie nicht mehr als ein Monster.

       Aber was geschieht hier?

      Bandorchus Kopf fuhr herum. Sie musterte die Steinwächter, die als bedrohliche Schatten in den Ecken standen, und die umherschwirrenden Kristallwespen, mit denen Bandorchu kürzlich die Herztöter ersetzt hatte. Sie verhielten sich unruhig, als spürten sie, dass mit ihrer Herrin etwas nicht stimmte. Einen Angriff wagten sie jedoch nicht.

      Bandorchus Blicke streiften die Wände, irrten weiter, als wolle sie nicht sehen müssen, was sich ihr dort bot. Schließlich warf sie den Kopf zurück, legte die Hände an die Ohren und schloss die Augen, als sei ihr alles um sie herum unerträglich. Die Perlen auf ihrem hochgetürmten Haar lösten sich und fielen wie ein milchiger Regenschauer zu Boden, während die gelöstem goldenen Strähnen ihnen wie ein Sturzbach folgten. Erneut stieg der Klagelaut aus ihrer Kehle auf.

      »Ich will das nicht … das bin nicht ich! Ich bin Gwynbaen … ich bin Gwynbaen …«

      Ainfars Magen zog sich zusammen. Gwynbaen! Wie lange hatte er diesen Namen nicht mehr gehört?

      Seit sie im Schattenland lebten, hatte die Königin sich nur noch Bandorchu nennen lassen, die Dunkle Frau. Ainfar erinnerte sich vage an die Frau, die sie vor dem Krieg gewesen war. Er hatte sie nur einmal gesehen, doch damals hatte sie Güte und Weisheit ausgestrahlt, und eine Wärme, die nichts mit dem Begehren zu tun hatte, das jetzt so viele an sie band. Er war stets der Meinung gewesen, er wäre damals einer Täuschung erlegen, einer bewussten Illusion. Doch nun verdichtete sich die Annahme, dass es die wahre Gwynbaen gewesen war. Was hatte sie so sehr verändert? Was hatte sie in den Krieg getrieben, der so viele Elfen das Leben gekostet hatte?

      Ein Knurren ließ ihn aus seinen Gedanken aufschrecken. Bandorchu hatte den Kopf wieder gehoben, und ihr Gesicht hatte sich erneut verändert, strahlte Winterkälte aus. Ihre Finger tasteten über die Kratzer, die sie sich selbst zugefügt hatte, die Haut schloss sich darunter und nahm wieder die gewohnte blasse Tönung an. Sie schnaubte verächtlich.

      »Warum muss einem jeglicher Genuss verleidet werden!«, fragte die Königin mit schneidender Stimme den leeren Raum. Sie hob die Hand, und eine der Kristallwespen ließ sich mit zufriedenem Surren darauf nieder. »Egal. Ein wenig Ruhe noch, um zu genießen, dass ich endlich wieder satt bin … und dann werde ich meinen treuesten Diener belohnen.«

      Ainfar hatte genug gesehen. Bandorchu würde bald den Raum verlassen und sein Fehlen bemerken. Hastig drückte er sich durch den Schlitz, rannte und schlitterte durch die Schächte zurück in den Vorraum und ließ sich auf den Boden hinunter fallen. Direkt an das rote Stofffutter gedrückt begann er die Verwandlung und stoppte, als er merkte, dass der Kopf noch nicht richtig durch das Halsband gedrückt war. Er schob den Kopf in Position und setzte die Verwandlung fort. Dann ließ er sich erschöpft sinken. Wellen von Schwindel trieben über ihn hinweg, die nicht nur von der Anstrengung kamen, sondern auch von dem, was er gesehen hatte.

      Die Tür zu Bandorchus Gemach öffnete sich, und sie kam heraus. Ihre Haare waren wieder in verschlungenen Flechten hochgesteckt und mit Perlen und Smaragden verziert, die mit ihren Augen um die Wette leuchteten. Eine spürbare Aura der Macht umgab sie, und die Sattheit, die sie ausstrahlte, ließ Ainfars Magen sich zusammenziehen, als sie sich hinunterbeugte, um ihn zu kraulen.

      »Du musst noch etwas warten«, gurrte sie. »Ich erwarte Besuch und muss mich gebührend darauf vorbereiten. Sobald er sich verabschiedet hat, bist du wieder mein einziger Schatz.«

      Ainfar zwang sich, in gewohnter Weise seine Nase an ihrer Hand zu reiben. Sie lächelte ihn an, erhob sich und verschwand in ihr Schlafgemach. Der Tiermann hatte keine Zweifel, wer sie dort bald besuchen kommen würde. Vorsorglich verkroch er sich unter einem der Schränke. Das Letzte, was er jetzt ertragen konnte, war eine weitere Begegnung mit dem Getreuen.

      Gwynbaen, dachte er. Sie lebt, irgendwo unter all der Kälte und Grausamkeit, die Bandorchu ausmachen. Und der Seelenfraß hat sie geweckt. Vielleicht gelingt es mir, sie das nächste Mal dauerhaft wach zu halten. Wenn es gelingt, die Veränderung rückgängig zu machen … und wenn ich Regiatus das mitteilen kann, dann nimmt es doch noch ein gutes Ende.

      Erschöpfung überwältigte Ainfar, und er sank in einen unruhigen Schlaf.

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