Petra Reategui

Der Grenadier und der stille Tod


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er könne sie küssen. Na, dem hatte sie’s aber gezeigt.

      Der Soldat dagegen, der hatte etwas Besonderes an sich.

      Selbstsicher war er, schien genau zu wissen, was er wollte, und welcher Waldenser hatte schon so herrlich blonde Haare?

      »Du bist nicht von hier, ich hab dich vorher noch nie gesehen«, hatte der Soldat gesagt, als er im Spätherbst zum ersten Mal bei ihr Nüsse kaufte. »Sobringer mein Name«, hatte er sich vorgestellt, »Sobringer. Grenadier im badischen Leibregiment«, und ihr dabei Äuglein gemacht, wie ihr noch nie jemand Augen gemacht hatte. Und wie elegant er aussah in seiner Uniform! Die feinen Beinkleider, die seitlich geknöpften Gamaschen, die polierten schwarzen Schuhe, dazu ein feiner blauer Rock.

      Nachdem er gegangen war, hatte sie ihm noch lange hinterhergeschaut. Ob sie ihn wiedersehen würde?

      Sie sah ihn wieder, schon am nächsten Markttag.

      »Da ist sie ja, meine Schöne.«

      Meine Schöne!

      Und dann ließ er es sich nicht nehmen, sie nach Schließung des Markts ein Stück weit zu begleiten, noch bis hinters Durlacher Thor, wo die Wächter ihm vertraulich auf die Schultern klopften und ihn passieren ließen, als seien sie alte Freunde.

      »Und hier muss ich dich jetzt verlassen, meine Schöne, so leid es mir tut«, entschuldigte er sich am Abzweig nach Gottesau. Er nahm ihr Gesicht in seine Hände, küsste sie sanft hinterm Ohr, streifte ihre Lippen, ein Hauch, ein Kribbeln, ein Duft himmlischer Ewigkeit.

      »Und versprich mir, dass du keinen anderen angucken tust.«

      Sie versprach es, sie wusste ja jetzt schon, dass sie nie mehr im Leben einen anderen angucken würde.

      Wenn sie an den Tagen danach an ihn dachte, klopfte ihr das Herz wie verrückt. Und sie dachte unablässig an ihn. Auf dem Weg zum Markt und wieder zurück und nachts, wenn sie in ihrer Bettstatt lag und dem kleinen Fraïre neben sich, dem zuletzt geborenen Brüderchen, eine Ninna nanna sang, denn der Pëchit hatte einen unruhigen Schlaf und boxte ihr ständig seine Füßchen in die Rippen.

      Zum Jahreswechsel war es ungewöhnlich warm gewesen. Die Oberhäusserin hatte aufgekratzt vor sich hin geträllert, die Buttermeierin Zuckerbrot in der Pfanne gebacken und generös verteilt, Hausfrauen und Mägde, die einkaufen gekommen waren, ließen sich Zeit und schwätzten. Nur der Soldat kam nicht.

      »Komm, lach a bissle, Madeleine, die Sonn scheint, ’s Lebe isch schön«, munterte die Meierin sie auf und schenkte ihr das letzte Stück vom süßen Brot. »Für dich, für dein lange Heimweg.«

      Und dann stand er plötzlich vor ihr. Gerade als sie in der kleinen baufälligen reformierten Kreuzgassenkirche, in der Madeleine drinnen ständig Angst hatte, das Gebälk stürze über ihr zusammen, noch ein schnelles Vaterunser, ein Notre páire dâ sèel, beten wollte, bevor sie sich auf den Nachhauseweg machte.

      »Ich hab auf dich gewartet«, sagte er und griff nach ihren Händen.

      Da hätte sie Nein sagen sollen. Heute wusste sie es.

      Aber an diesem Nachmittag vor zwei Wochen hatte alles in ihr Ja geschrien. Ja, ja, ja, sì, sì, sì. Die Knie drohten ihr nachzugeben. Die Buttermeierin hatte recht: Die Sonne schien, das Leben war schön, der Grenadier war gekommen.

      Er spazierte mit ihr zum Schlossplatz, zeigte ihr ein schmiedeeisernes Tor, das sie noch nie zuvor gesehen hatte, ein Tor wie aus einem Märchen. Als sie in den Hardtwald hineinwanderten, nahm er ihre Hand. Irgendwann hatte sie die Orientierung verloren. Aber er war ja bei ihr.

      Am Rand einer Lichtung lag ein umgestürzter Baum.

      »Extra für uns.« Sobringer legte beide Arme um sie. Die Sonne wärmte, und außer dem Rascheln von altem Laub, wenn vielleicht eine Maus oder ein Vögelchen hindurchhuschte, war nichts zu vernehmen.

      Irgendwann schreckte sie hoch. Die Luft hatte abgekühlt, der Abend kroch hinter den Wipfeln hervor.

      »Ich muss gehen«, flüsterte sie.

      »Aber ja«, sagte er, half ihr, Kleidung und Haar zu richten, und brachte sie zum Durlacher Thor. Es war gar nicht so weit, wie sie gedacht hatte. Und dann, allein mit sich, hatte Panik sie ergriffen. Was sollte sie der Maïre sagen, wo sie die ganze Zeit über gewesen sei? Überhaupt die Maïre, sie würde ihr sofort ansehen, was geschehen war. Die Maïre konnte Gedanken lesen.

      Und jetzt war es heute wieder so spät.

      Vor ihr raschelte es im Unterholz. Etwas knackte. Unwillkürlich blieb Madeleine stehen, starrte in die Nacht, die sich übers Land gelegt hatte. Ein Tier? Gab es Wölfe in der Region? Oder Räuber? Waren letzte Woche nicht zwei Frauen auf dem Weg nach Durlach überfallen worden? Wie lange war sie überhaupt schon unterwegs? Zwei Stunden? Zweieinhalb? Befand sie sich überhaupt auf dem richtigen Weg? Hatte sie einen Abzweig übersehen?

      Die holprige Straße, die lange Zeit an Feldern vorbeigeführt hatte, stieg jetzt merklich an, die Bäume rückten näher, wie eine undurchdringliche schwarze Mauer baute der Wald sich vor ihr auf. Madeleine hielt Ausschau nach einer vertrauten Wegmarke, nach dem großen Stein, hinter dem es in den Wettersbacher Wald hineinging. Nach der vom Blitz getroffenen Eiche, in deren Höhlen und Geäst Hexen und Gnome hausten. Sagten die Leute. Tagsüber glaubte Madeleine nicht an solches Gerede. Aber jetzt, in der Dunkelheit …

      Wieder lauschte sie. Überall wisperte es.

      »Tiere haben genauso viel Angst vor dir wie du vor ihnen«, sagte sie laut und zwang sich weiterzugehen.

      Vielleicht wäre es ja besser, sie würde sich einfach hinsetzen, hinein in den Schnee. Angeblich ginge es schnell. Der Schnee wärme, man schlafe ein und wache nicht mehr auf. Vor zwei Jahren hatten sie in der Kälberklamm einen Holzfäller aus Busenbach gefunden, erfroren. Wahrscheinlich ungewollt, denn warum sollte ein Mann freiwillig den Tod suchen? Ein Mann wurde schließlich nicht schwanger.

      Bekam man vom Küssen im Hardtwald ein Kind?

      Es war nicht beim Küssen geblieben.

      Madeleine wurde trotz der Kälte heiß. Sie stolperte vorwärts, kein Licht, nirgends, und der Grenadier Sobringer hatte sich seit jenem Nachmittag nicht mehr blicken lassen. Tränen liefen Madeleine übers Gesicht.

      5

      Die alte Matrone an der Theke, die ihn an die Mutter seiner Beschützerin erinnert, beäugt ihn schielend, zwinkert ihm zu, aber er bedeutet ihr mit der Hand, dass er nicht will. Vielleicht, wenn es das Narbenmädchen wäre … um unter der weichen Wärme ihres Kleids Vergessen zu finden … Andererseits ist er froh, dass sie nicht da ist. Sein Geld reicht nur für Brot und einen Teller Brühe, und er hat Hunger, gewaltigen Hunger.

      Die Suppe, die er bekommt, füllt ihm den Bauch, aber nicht die Leere in ihm, die er seit dem Morgen auf dem Richtplatz verspürt. Eine Leere wie damals, als der Vater von ihm gegangen ist und ihn allein zurückgelassen hat. Er ist doch noch ein Kind gewesen.

      An dem Tag, an dem der Vater sich hinlegte und nicht mehr aufstand, hat flirrende Hitze geherrscht. Überall im Haus, im Hof, im Abtritt, überm Wassertrog tanzten Flügeltierchen, ein besonders fettes krabbelte dem Vater über die Nase. Der machte keine Anstalten, es zu verjagen. Er musste es tun, wedelte mit den Händen vor dem Gesicht des Schlafenden herum, ohne dass dieser auch nur mit den Wimpern zuckte. Dann kamen Männer, legten den Vater in eine Kiste und verschlossen sie. Er verstand nicht. Wollte wissen, was mit dem Vater war. Aber sie schoben ihn beiseite wie einen Sack, der im Weg stand. Am Abend war die Mutter mit ihm an der Hand auf das Feld hinter dem großen Feierlichen Haus am Markt gegangen. Als andere Männer den Kasten an langen Seilen in ein Erdloch senkten, schaute er die Mutter fragend an, aber sie hatte ihn losgelassen und blickte ausdruckslos über seinen Kopf hinweg.

      Der Vater fehlt ihm. Der Vater hat ihm immer alles erklärt. Dass er nicht ins Feuer langen darf, dass Messer scharf sind und er auf der Straße in alle Richtungen schauen und seine Augen offen halten muss, damit ihn die Wagen und großen Tiere nicht umreißen. Der Vater legt sich die Hände