Laura Lippman

Der Geliebte der Verlobten


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Tesser, na, kommst du auch wieder mal deinen alten Onkel Spike besuchen? Magst du immer noch so gerne Mozzarella-Sticks? Ich sag dir was. Extra für dich lasse ich jetzt Tommy frisches Öl nehmen. Und ein Rolling Rock Bier, stimmt’s? In der Flasche, ohne Glas. Siehst du, ich weiß noch alles, auch wenn du mich so selten besuchst.«

      »Du hast wirklich ein großartiges Gedächtnis, Onkel Spike. Von wem hast du das nur geerbt?«

      »Ich hab von niemand nix geerbt, Tesser. Das weißt du doch.« Er drehte dem Spiel der Orioles den Ton ab und verschwand in der Küche, um ihre Mozzarella-Sticks persönlich zu überwachen.

      Spike war ein Verwandter, aber niemand wusste, von wem, denn keine der beiden Familien erhob Anspruch auf ihn. Tess’ Vater behauptete immer mit Überzeugung, dass er ein Cousin aus einem schwachen Zweig des Weinstein-Stammbaums sei. Ihre Mutter hielt dagegen, dass sie ihm bei ihrer Einheirat in die Familie Monaghan zum ersten Mal begegnet sei. Spike selbst ließ nichts über die verwandtschaftliche Beziehung verlauten, obwohl er dem Aussehen nach am ehesten etwas mit Oma Weinsteins Spaniels zu tun hätte haben können. An Spike, mit seinem blassen Gesicht und seiner erstaunlichen Menge von Leberflecken, war vor allem sein Kahlkopf bemerkenswert, der in einer Spitze endete. Daher der Name seines Lokals, das überall an den Wänden Scherenschnitte seines kahlen Kopfes zeigte, die der Tellerwäscher aus schwarzem Tonpapier ausgeschnitten hatte.

      Tess liebte ihn und seine Bar heiß und innig. Als sie fünfzehn war, hatte er ihr eine unbegrenzte Einladung für den Point ausgesprochen, wobei er zu ihr gesagt hatte, dass es wichtig sei, das Trinken unter Leuten zu lernen, denen man vertrauen kann.

      »Wenn du hier zu viel trinkst, ist das Schlimmste, was dir passieren kann, dass du auf meinem Sofa aufwachst und ein paar Brösel auf dich gefallen sind«, sagte Spike. »Wenn du aber dort draußen zu viel trinkst …«, er zeigte mit dem Kinn auf die Welt jenseits der Franklintown Road, ließ sich aber nicht dazu herab zu erklären, was einem betrunkenen jungen Mädchen dort draußen alles passieren konnte. Unfälle jedenfalls, sowohl im Straßen- als auch in anderem Verkehr.

      Spikes Plan, so unorthodox er war, funktionierte gut. Als Tess aufs Washington College ging, wusste sie bereits ganz genau, wie viel sie vertrug. Es war erstaunlich viel. Die Männer, mit denen sie ausging, waren weit eher als sie in Gefahr, umzukippen. Manche taten das gelegentlich auch. Als wirkliche Dame nutzte sie solche Situationen natürlich niemals aus.

      Für heute Abend hatte sie sich Spikes Taverne ausgesucht, weil sie hoffte, dass dieses Lokal Ava verunsichern würde. Sie war im Begriff, ihr zweites Rolling Rock zu bestellen, als Ava kam, mit zehn Minuten Verspätung und ohne sich dafür zu entschuldigen. Sie stolzierte herein, in einem weißen Body, einem türkisfarbenen Miniröckchen, Wildlederstiefeln und einer Lederjacke. Ihr schwarzes Haar war auf ihrem Kopf zu einem Pferdeschwanz aufgesteckt, der wie ein Geysir in die Höhe stand. Etwas Ähnliches hatte man hier im Point noch nie gesehen. Einer der älteren Männer fiel von seinem Barhocker, als Ava an ihm vorbeiging.

      »Darauf brauchen Sie sich nichts einzubilden«, sagte Tess zu ihr und blickte auf George, der auf dem Boden saß. »Das macht der immer.«

      »Ich kenne Sie doch«, sagte Ava, aber ihr Blick verriet Tess, dass sie nicht wusste, wo sie sie hintun sollte. Sie hatten sich nur ein paarmal gesehen. Rocks Leben war sehr klar unterteilt, und Ava hatte wenig Interesse am Rudern gezeigt, das rein zufällig der einzige Sinn seines Lebens war.

      »Vielleicht glauben Sie, dass Sie mich kennen, weil ich Sie schon so lange beschatte. Wahrscheinlich haben Sie mich mehrmals gesehen, das aber bis jetzt gar nicht registriert. Ich habe nämlich festgestellt, dass Sie auf die Welt um sich herum nicht sehr achtgeben.«

      Ava rutschte ihr gegenüber auf die Bank und setzte sich so, dass nur ein winziger Streifen ihres winzigen Hinterns mit dem verschmierten, aufgeplatzten Vinyl in Berührung kam. Sie warf einen Blick auf die Speisekarte, schauderte ein wenig und legte sie beiseite. Tess hatte eigentlich vorgehabt, ihr die Kalbskoteletts zu empfehlen, weil sie gerne gesehen hätte, wie Ava das gummiartige Fleisch zu schneiden versuchte. Sie hoffte außerdem, Ava werde einen Chardonnay bestellen. Der Weißwein im Point schmeckte wie Essig, und zwar wie schlechter Essig.

      Aber Ava wusste instinktiv, was das Richtige war, sogar am falschen Platz. Sie orderte – das Wort war Tess noch nie so passend vorgekommen wie hier – ein Black Label vom Fass, nahm sich einen Mozzarella-Stick von Tess’ Teller, lehnte sich dann zurück und hob eine Augenbraue. Du bist dran, sagte die Augenbraue.

      Gut, dachte Tess, ich habe meine Zeit auch nicht auf der Straße gefunden.

      »Ich besitze Informationen darüber, dass Sie ein Verhältnis mit Michael Abramowitz haben.«

      Ava sah überrascht aus, aber nur sekundenlang. Dann lächelte sie Tess mit aller Macht an. »Informationen? Schon möglich. Aber haben Sie auch Beweise?«

      »Natürlich.«

      »Tatsächlich? Die würde ich ja gerne sehen, oder hören. Ich hoffe, ich komme auf den Fotos gut raus.« Sie nippte vorsichtig an ihrem Bier.

      »Meine Beweise bekommt mein Klient. Trotzdem bin ich an jeder Erklärung interessiert, die Sie eventuell zu geben wünschen.«

      Ava aß noch einen Mozzarella-Stick und ließ sich dabei viel Zeit. Sie schien währenddessen etwas zu überlegen und sprach erst wieder, nachdem sie das letzte Stück geschmolzenen Käse gegessen und sich die Lippen mit einer Serviette abgetupft hatte.

      »Wissen Sie, als Sie mich anriefen, dachte ich, ich wüsste, für wen Sie arbeiten, aber die Person, an die ich dachte, hätte jemand Fähigen beauftragt, jemanden, der weiß, wie man so etwas angeht – vorausgesetzt, da wäre etwas anzugehen. Also, für wen arbeiten Sie?«

      »Sagen Sie mir doch, für wen Sie glaubten, dass ich arbeite, und ich sage Ihnen, ob Sie recht hatten.«

      »Ich bin gar nicht sicher, ob Sie überhaupt für jemanden arbeiten. Vielleicht sind Sie ja nur eine schmutzige kleine Erpresserin und arbeiten für sich selbst.«

      »Ich arbeite für Darryl Paxton. Das ist Ihr Verlobter, soviel ich weiß. Jedenfalls hält er sich dafür.«

      »Na, das gefällt mir ja«, sagte Ava. »Ich dachte immer, Verlobte würden einander vertrauen.« Sie sah verletzt aus, aber auch ein bisschen erleichtert. Wen hatte sie denn ursprünglich in Verdacht gehabt? fragte sich Tess. Abramowitz, der dafür bekannt war, dass er um seiner Karriere willen geradezu mönchisch lebte, war sein Leben lang Single gewesen. Er hatte keine Ehefrau, die ihm nachschnüffeln konnte.

      »Verdient eine Frau das Vertrauen ihres Verlobten, wenn sie eine Affäre hat?«

      »Verdiene ich es, diese Unterhaltung über mich ergehen lassen zu müssen, wenn Sie gar keine Beweise haben?«

      »Ich sagte doch schon, dass ich welche habe. Ich folge Ihnen schon längere Zeit. Ich habe Sie mit ihm im Renaissance Harborplace gesehen. Ich habe Sie in der Galerie gesehen. Stehlen Sie die Unterwäsche, um sie für Ihren Chef zu tragen? Oder ist das nur ein Hobby, das nichts damit zu tun hat?«

      Das ging ihr schon stärker an die Nerven, wie Tess sofort erkannte. Seinen Verlobten zu betrügen war so eine Sache, aber es hielt einen nicht davon ab, seine Zulassung als Rechtsanwältin zu bekommen. Als Ava jetzt wieder aufschaute, hatte sie Tränen in den Augen, und ihre Lippen zitterten. Spar dir das dafür, wenn du das nächste Mal wegen überhöhter Geschwindigkeit erwischt wirst, dachte Tess.

      »Werden Sie das Darryl erzählen?« Tatsächlich zitterte auch ihre Stimme.

      »Dafür werde ich bezahlt. Er hat mir den Auftrag gegeben, herauszufinden, warum Sie sich so seltsam benehmen. Ich glaube, ich weiß die Antwort.«

      »Aber Michael hat nichts damit zu …«, fing sie an, hielt dann aber abrupt inne und nahm wieder ihren normalen, überheblichen Gesichtsausdruck an. Auch ihre Stimme änderte sich wieder und klang plötzlich amüsiert und ungezwungen.

      »Natürlich müssen Sie ihm das erzählen«, stimmte sie zu. »Aber erst muss ich selber mit ihm reden.« Tess lächelte, eine Dramaturgin, die glücklich die Schlusspointe herannahen