Laura Lippman

Der Geliebte der Verlobten


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schlafen müssen, um ihren Job zu behalten. Als ich sie das letzte Mal sah, erzählte sie Rock die Geschichte gerade am Autotelefon.«

      Kitty schaltete schnell. »Du musst für eine Weile verschwinden«, verkündete sie entschlossen. »Mach eine kleine Reise, und sag mir nicht, wohin. Aufgrund meiner Beziehung zu Thaddeus möchte ich lieber nicht zu viel wissen, damit ich nicht lügen muss, wenn dich jemand sucht.«

      »Am Schluss werde ich ja doch reden müssen.«

      »Ja, richtig«, stimmte Kitty zu. »Aber es schadet bestimmt nichts, wenn du ein paar Tage nicht verfügbar bist, bis du dir darüber klar bist, wie du mit der ganzen Sache umgehen willst. Was das Geld betrifft: Nimm aus der Ladenkasse, was du brauchst, und hinterleg mir einen Scheck. Ich löse ihn erst ein, wenn ich unbedingt muss. Such dir ein billiges Motel, oder nimm die Wohnung von Freunden, und ruf mich dann auf meine Kosten von einer öffentlichen Telefonzelle aus an. In ein paar Tagen wissen wir, in welche Richtung das geht, und du kannst wieder zurückkommen.«

      Tess nahm immer zwei Stufen auf einmal, als sie in ihr Zimmer hinauflief, und fing sofort an, Kleidung in einen ramponierten Lederrucksack zu werfen. Die Familie ihrer Freundin Whitney besaß ein Haus an der Küste, in der Nähe von Oxford, mit einem kleinen Gästehaus an der Grundstücksgrenze. Sie und Whitney hatten es in ihren Collegetagen manchmal benutzt, wenn sie für eine Weile verschwinden wollten. Reiche Freunde zu haben, das hatte hin und wieder durchaus seine Reize. Sie würde diesmal aber einfach voraussetzen müssen, dass sie dort immer noch gern gesehen war, denn wenn sie Whitney jetzt anrief, würde das nur noch mehr Komplikationen bringen. Whitney arbeitete nämlich ebenfalls für den Beacon, und wenn es Tess jetzt auch gelang, eine Aussage vor Gericht zu umgehen, mochte sie doch gar nicht daran denken, was passieren würde, wenn Whitney die Wahl zwischen ihrer Freundin und ein paar prickelnden Details zu einer vermutlich ganz großen Story hatte. Whitney darum zu bitten, nicht aus Eigennutz zu handeln, war ungefähr das Gleiche, wie wenn man eine Katze darum bat, keine Vögel zu fangen. Am besten, man ließ es erst gar nicht auf den Versuch ankommen.

      Als Tess gerade Zahnbürste und Shampoo aus dem Bad holte, läutete das Telefon. Sie ließ den Anrufbeantworter angehen. Eine raue Stimme, die sie kannte, füllte ihre kleine Wohnung mit solcher Wucht, dass die Glastüren an ihren Küchenschränken klirrten: Tyner Gray, ein Rudertrainer, dessen Stimme durch die jahrelange Arbeit mit Anfängern zu einem ständigen Schreien geworden war.

      »Tess, hier spricht Tyner; ruf mich in meinem Anwaltsbüro an, so schnell du kannst.«

      »Es geht nicht ums Rudern«, fügte er hinzu, als wüsste er, dass sie da stand, und könnte auch ihre Gedanken lesen. »Es geht um einen Ruderer, den wir beide gut kennen.«

      Seine Stimme wurde zu einem rauen Flüstern, das immer noch unerträglich laut und durchdringend klang. »Er hat mich gebeten, dich anzurufen, Tess. Aus irgendwelchen Gründen glaubt er, du könntest ihm helfen. Obwohl du ja, wie mir scheint, schon mehr als genug getan hast.« Seine Stimme dröhnte wieder in ihrer üblichen Lautstärke, als würde er ihr über die Wasserfläche hinweg einen Ruderbefehl zurufen. »Ruf mich im Büro an, Tess. So schnell wie möglich.«

      Tess setzte sich auf den Fußboden, wobei sie noch immer ein paar Stück Unterwäsche umklammerte. Wenn Rock sie brauchte, konnte sie nicht davonrennen. Sie fragte sich nur, ob Rock selber wirklich am besten beurteilen konnte, was er brauchte. Oder wen er brauchte. Zuerst hatte er eine Ruderkollegin als seine Privatdetektivin angestellt. Und was dabei herausgekommen war, sah man ja. Jetzt hatte er einen Rudertrainer als Rechtsanwalt. Was glaubte er denn eigentlich, was für Geschworene er kriegen würde – einen Herren-Achter und einen Damen-Vierer?

      Mit vierundsechzig hatte Tyner Gray noch immer den schlanken, sehnigen Oberkörper eines Leichtgewichtruderers. Wenn er an warmen Tagen am Dock sein T-Shirt auszog, warfen die Collegemädchen noch immer verstohlene Blicke auf seine Brust und seine Arme. Nie schaute jemand auf seine Beine, die verdorrt und leblos, fast flach in seinen Jogginghosen steckten. Soviel Tess wusste, hatte sie niemand mehr gesehen, seit er vor fast vierzig Jahren, ein Jahr nach seinem Olympiasieg, den Unfall gehabt hatte. Ein betrunkener Autofahrer hatte ihn vor dem Memorial Stadion angefahren.

      »Hast du heute früh trainiert?«, fragte Rock, als Tess in Tyners Büro geführt wurde, und zwar von seiner Sekretärin Alison, einer hinreißenden Blondine, deren Perlen so groß und rund waren wie die blauen Augen, mit denen sie Tyner anhimmelte. »Ich fand es schrecklich, dass ich nicht kommen konnte.«

      Rock, der um 23 Uhr als Angeklagter verhaftet und neun Stunden später auf Kaution freigelassen worden war, sah erstaunlich gut aus. Das Gefängnis, oder das fehlende Koffein, hatten ihm zum ersten Mal seit Wochen Ruhe verschafft. Tatsächlich wirkte er auf Tess geradezu heiter. Was auch geschehen war, Ava gehörte immer noch zu ihm.

      Tyner seufzte. »Rock, ich weiß, du siehst es so: Du bist unschuldig, und irgendwie ist ein furchtbarer Fehler passiert. Aber so läuft es nicht. Ich weiß nicht, ob du Maryland wirst verlassen können, um am ›Head of the Ohio‹ teilzunehmen, viel weniger noch am ›Head of the Charles‹. Du hast ohnehin schon Glück gehabt, dass du genug Geld hattest, um einen Kautionssteller zu finden.«

      Rock guckte erstaunt. Nicht am »Head of the Charles« teilnehmen? Jedenfalls hatte Tyner jetzt seine volle Aufmerksamkeit.

      »Unser größtes Problem ist, dass die Polizei ganz zufrieden ist, den richtigen Verdächtigen verhaftet zu haben«, sagte Tyner. »Das hier ist ein aufsehenerregender Fall, den sie schnell lösen müssen, und sie gratulieren sich bereits, wie wenig geistige Anstrengung er erfordert hat – und das sogar, bevor sie mit Ava gesprochen haben. Wir können nur hoffen, dass das Ergebnis ihrer Nachforschungen mangels Beweisen in die Brüche geht, oder dass noch jemand anderes in die Sache verwickelt ist. Inzwischen können wir aber damit anfangen, Informationen zu sammeln, die uns helfen, dass die Anklage fallen gelassen wird oder, wenn es denn so weit kommen sollte, dass die Geschworenen umgestimmt werden. Und dafür brauchen wir Tess.«

      »Moment mal. Ich dachte, wir sind uns einig, dass ich diesen Schlamassel verursacht habe. Warum soll ich jetzt noch weiter mit hineingezogen werden?«

      »Weil du für mich arbeitest. Du gehst jetzt noch einmal deine ›Nachforschungen‹ durch, und wenn jemand fragt, kann ich ins Feld führen, dass sie vertraulich sind und unter die Schweigepflicht fallen. Das Gleiche gilt, wenn die Bullen mit dir reden wollen, oder der Staatsanwalt. Ich zeige ihnen unseren Beschäftigungsvertrag, der auf den 1. September datiert ist – den Tag, an dem du deine Abmachung mit Rock getroffen hast.«

      »Arbeite ich dann tatsächlich für dich, oder ist das nur ein Trick?«

      »Allerdings arbeitest du für mich, und zwar so, dass du dir dabei den Arsch aufreißen wirst«, versprach Tyner und grinste. »Du erledigst alles, was ich nicht gerne selber tue. Du gehst fotokopieren und mein Mittagessen holen. Du bringst mein Jackett zur Änderungsschneiderei, wenn ich es dir sage. Und du führst vorbereitende Gespräche mit den Hauptzeugen und trägst die Informationen zusammen, die ich brauche, um das zu spielen, was ich ›Ticktack‹ nenne – ein kleines Spiel, das dazu dient, Fenster zu öffnen und Ausgänge zu finden.«

      Ticktack, erklärte Tyner, hieß Salvador Dalís Bild mit den weichen und biegsamen Uhren. Ging Rock wirklich um genau 22 Uhr die Treppe hinauf, wie der Wachmann zur Polizei gesagt hatte? Hätte es auch 22:05 Uhr sein können? Oder 21:45 Uhr? Wenn der Wachmann schon mit seinen Vorschriften relativ lax umging und zum Beispiel Abramowitz nicht anrief, vielleicht war er dann ähnlich lax mit seiner Zeittafel? Wer kam und ging sonst noch? Tess hatte die Aufgabe, den Wachmann, den Nachtwächter und eventuelle weitere Zeugen zu befragen und – höflich, sanft und ehrerbietig – in jedem Kopf so viel Verwirrung wie möglich zu stiften.

      »Ticktack«, sagte Tyner. »Fenster öffnen, neue Türen und Ausgänge finden. ›Haben Sie zufällig auf die Uhr geschaut? Eine Digitaluhr? Haben Sie ganz genau festgestellt, wie spät es war? Bestimmt nicht, nehme ich an, die genaue Zeit stellt niemand fest. 22 Uhr ist ein Schätzwert, nicht wahr, damit glauben Sie der Sache am nächsten zu kommen?‹

      ›Trägt sich jeder ein, Sir? Absolut jeder? Kann sich nicht jemand mal vorbeistehlen? Nein, nie? Sind Sie vielleicht