Ольга Токарчук

Letzte Geschichten


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      Letzte Geschichten

      Roman

      Aus dem Polnischen von Esther Kinsky

      Kampa

      Teil I Das reine Land

      1

      Auf den kleinen Seitenstraßen sieht man im Winter nicht die weißen Linien. Nur an den Schneehaufen, die sich am Straßenrand türmen, zeichnet sich der Verlauf der Straße grob und ungefähr ab. Die Autoscheinwerfer bohren sich in die unförmigen Hügel am Rand, doch sie enthüllen nur halbkreisförmige Ausschnitte einer beweglichen Bühne, die sich immer weiter nach vorn verschiebt, in der Hoffnung, dass sie ihren Schauspieler schließlich aus der Dunkelheit hervorholen wird. Die Fernscheinwerfer sind völlig nutzlos, sie entlocken dem Dunkel nur die milchigen winterlichen Dunstschwaden, die über der Welt hängen.

      »Gefrorener Leichenatem«, denkt die Frau am Steuer des Autos. »Leichenatem« ist ein Oxymoron, das eine Wort steht im Widerspruch zum anderen, doch auf merkwürdige Weise ergeben sie zusammen einen Sinn. Gleich kommt sie an eine größere Kreuzung, wo sie nach rechts abbiegen wird, in Richtung Süden, und an der Landesstraße wird sie mit Sicherheit ein Motel oder eine Pension finden. Hier wimmelt es von Pensionen, dauernd springen ihr aus der Dunkelheit die Schriftzüge entgegen: Zimmer frei, Zimmer, Ferien auf dem Bauernhof, auf Bretter gemalt, die an Zäune oder Bäume am Straßenrand genagelt sind. Das Radio murmelt vor sich hin, eine Diskussion zieht sich träge in die Länge, die Frau hört nicht zu.

      Rechts zeichnet sich jetzt ein dunkler Umriss im Nebel ab, der auf dem Schnee gut sichtbar ist. Sie bremst vorsichtig und wendet den Kopf – am Straßenrand erkennt sie einen Hund. Er liegt auf der Seite, in einer sanften Schneemulde, die Beine hat er von sich gestreckt, den Kopf etwas angehoben, als ruhe er auf einem Kissen. Eine Vorderpfote ist leicht angewinkelt, der buschige Schwanz liegt aufgefächert wie ein Federbüschel. Dem Anschein nach ist es eine Promenadenmischung, etwas wolfshundeartig, aber kleiner, schwarz gestrichelt, Rasse »Sudetenscheußlichkeit«, wie man hier sagt. Er sieht wie schlafend aus, als hätte ihn plötzlich unterwegs beim Spaziergang ein unüberwindbares Bedürfnis nach Schlaf überwältigt, hier, jetzt, auf der Stelle, dem er nicht widerstehen konnte. Deshalb musste er mitten im Lauf innehalten, sich im Schnee am Wegrand rasch ein Lager scharren, nur einen Meter von den Rädern der abgelenkten Autos entfernt.

      Das Licht der Autoscheinwerfer lässt ihn in seinem geheimnisvollen plötzlichen Schlaf einen Augenblick lang sichtbar werden, es offenbart ihn und lässt ihn dann wieder in die Dunkelheit zurücksinken.

      Die Frau beschleunigt, obwohl es nicht nötig ist, denn die Straße führt jetzt bergab, das Auto gleitet darüber, als sollte es von einer großen Schanze zu einem Nacht-und-Nebel-Flug abheben.

      Es ist ein angenehmes Gefühl, so hinabzusinken, das Herz hüpft, wird leicht, wiegt nichts mehr. Mit halb geschlossenen Augen gibt sich die Frau dem Genuss dieser Empfindung hin.

      Rechts springt ein Wegweiser mit der Aufschrift BardoBożków aus der Finsternis, bittend breitet er die Arme aus wie ein aufdringlicher Tramper, der hysterisch von den Vorbeifahrenden einen Entschluss verlangt: Entscheide dich sofort: links oder rechts, nimm mich mit oder lass mich stehen. Los, mach schon.

      »Nichts da, mein Lieber«, denkt sie. Die Straße führt geradeaus, die beste aller möglichen Richtungen, und dem Märchen zufolge die sicherste, denn das ist die Linie des geringsten Widerstands, die garantiert, dass man ans Ziel gelangt.

      Gleich wird sie eine ordentliche Landstraße erreichen, schwarz und solide, mit einer weißen Steppnaht in der Mitte, dort wird auch mit Salz gestreut sein.

      Als sie am Nachmittag aus dem Kurort über die Serpentinenstraße hinunter ins Tal fuhr, musste sie unmittelbar vor einer bei Glatteis sehr gefährlichen scharfen Kurve halten. Dort war viel Salz gestreut, um das Eis auf dem Asphalt zum Schmelzen zu bringen. Eine für alle Hupen taube Kuhherde versperrte an dieser Stelle die Straße, und die Kühe leckten das Salz auf. Sie waren friedlich und glücklich, hielten die weichen, samtigen Lider gesenkt, verbargen den Blick hinter den dichten Wimpern. Langsam und mit Bedacht leckten sie das Salz, gleichmütig. In dem metallischen Winterdämmer waren sie dort auf der Straße plötzlich keine Tiere mehr. Sie wirkten wie Geschöpfe, die über Jahre meditierend an ihrem Gleichmut gearbeitet hatten. Jemand, wahrscheinlich ihr Besitzer, versuchte verzweifelt, sie von dem Salz wegzutreiben, er rannte zwischen ihnen hin und her und drosch mit dem Stock auf ihre knochigen Hinterteile, doch sie fürchteten seine Schreie nicht, vielleicht hörten sie sie nicht einmal. Die Autos bildeten schon einen Stau, jemand weiter hinten hupte ungeduldig. Ein anderer stieg aus dem Auto, und als er sah, was los war, zündete er sich eine Zigarette an. »Kühe lecken am Asphalt«, gab er nach hinten weiter. Die Leute nahmen die Information mit Verständnis auf, klar, warum nicht. Sie schauten einander mit leicht ironischem Lächeln an – die Kühe lecken das Salz auf. Dann wischten sie die Scheiben, knallten mit ihren Kofferraumdeckeln und machten Anrufe auf ihren Mobiltelefonen. Es dauerte eine Weile, bis die Tiere zu sich kamen und, fast beschämt über ihre plötzliche Schwäche und die Behinderung, die sie dort auf der Straße gebildet hatten, im Trab ins Tal setzten, ohne auf ihren Hirten zu warten.

      Die Fahrt ist angenehm wie gesalzener Asphalt. Das Auto fährt jetzt sehr schnell, der steilste Teil der Strecke verläuft schnurgerade. Die Frau sieht zwar die aus dem Schnee ragenden Pfosten, an denen die Farbe verblasst ist, doch erst im nächsten Augenblick begreift sie, dass diese eine Kurve markieren. Ohne jede Ankündigung. Kein Schild am Wegrand, oder es ist im Schnee versunken. Sie reißt das Steuer mit Gewalt nach links, aber das Auto gehorcht ihr nicht, es rast geradeaus, und einen Augenblick lang – so scheint es ihr – hebt es tatsächlich von der Erde ab. Sie spürt seine besinnungslose Kraft und wundert sich darüber, sie hatte immer gemeint, das Auto unter Kontrolle zu haben, doch es war eher so gewesen, dass ihrer beider Wege und Absichten einer geometrischen Koinzidenz unterlegen waren, es war eine Folge des Zusammentreffens ihrer Interessen gewesen, dass sie in dieselbe Richtung fuhren und an denselben Tankstellen anhielten. Doch jetzt trennen sich ihre Wege: Das Auto, ein kleiner silberfarbener Honda, segelt über den hohen Schneewall, die Schnauze nach oben, aufbegehrend. Im Radio beginnen gerade die Nachrichten. Die Frau sieht nicht, dass sie fliegt, sie spürt es eher. Die Scheinwerfer sind himmelwärts gerichtet, deshalb ist in ihrem Lichtkegel nichts zu sehen. Es dauert ziemlich lange, sie will schon ungeduldig werden, hört dieser Flug denn gar nicht auf, es geht ja nirgendwohin! Sie weiß noch, dass sie mit dem Kopf aufs Steuerrad schlägt, sie hört ein unangenehmes Geräusch im Kopf, wie beim Ziehen eines Zahnes. Aber das dauert nur einen Augenblick.

      Problemlos gelingt es ihr, den Gurt zu lösen und direkt hinaus in den Schnee zu kriechen – aber dort kann sie sich nicht auf den Beinen halten und geht in die Knie. Sie wischt sich mit dem Handrücken über den Mund, er ist voll mit dicker warmer Flüssigkeit, sie muss sich beim Aufprall in die Zunge gebissen haben, meint sie. Das Auto ist auf den Hinterrädern zum Stehen gekommen, das sieht aus, als hätte es versucht, die Äste des Baumes zu erreichen, und sei mitten in dieser besinnungslosen Attacke einer Maschine auf ein Lebewesen erstarrt. Seine Augen werfen ihr gnadenloses Licht auf die Krone der Fichte. Der Kühler steht offen zum lautlosen Wutschrei, und die Räder drehen sich hilflos in der Luft, immer langsamer. Im Radio kommt der Wetterbericht.

      Sie tastet hinter sich ins Innere des Autos, und trotz ihres Schwindelgefühls gelingt es ihr, den Schlüssel aus dem Anlasser zu ziehen. Die grellen Augen erlöschen. Plötzlich ist es dunkel, still und kalt. Sie hat das Gefühl, dass sich irgendwo in dieser Dunkelheit eine grenzenlose kahle Ebene erstreckt, der kalte Wind saust darüber hinweg, und da ist kein Strauch, kein Baum, nichts, was ihn aufhalten könnte. Sie fühlt die Wucht der Windstöße auf ihrem Gesicht. Schwankend steht sie auf und setzt sich in Bewegung, nach oben, zur Straße.

      Der Nebel verschwindet, die Dunkelheit wirkt rein, frostig, durchsetzt mit den fernen Lichtern des Sternenhimmels. An der Straße, die sich kaum ausmachen lässt, bleibt die Frau stehen und schaut empor. Sie erkennt die Sternbilder, wie ihr Vater sie ihr beigebracht hat. Zuerst der Große Wagen, die Rückkante fünfmal verlängert zwischen den Sternen hinauf – da ist der Polarstern und gleichzeitig der Anfang der Deichsel des Kleinen Wagens. Und am Knick der Deichsel des Großen Wagens sieht sie da neben dem großen Stern einen kleinen, wie die Tochter neben dem Vater, kann sie den