findet Orion und Kassiopeia, eine geometrische Ordnung von Lichtpunkten, vielfache Linien, große und kleine, die sich zu einfachen wiederkehrenden Rhythmen fügen, und die daraus entstehenden planlosen Dreiecke, Polygone, schwankenden Trapeze und Rhomben … Ist das nicht genug? Muss man diese vollkommenen Formen noch mit rätselhaften, vagen Geschichten erläutern?
Während sie nun am Straßenrand entlang auf eine Reihe formloser gelber Lichter zugeht, findet sie auch ihr liebstes Sternbild wieder – das Haar der Berenike, ein kleiner Kranz aus Sternen, nicht viel Haar, kaum eine Strähne, ein winziger Zopf. Es wirkt weiter von der Erde entfernt als andere, ein Kinderdrachen, der in einem Augenblick der Unachtsamkeit zu hoch gestiegen ist.
Hinter der Kurve ist der Fichtenwald, durch den die Straße führt, zu Ende, und die Frau erblickt die Lichter einer Art Vorstadt. Vorne vereinzelte Lichtflecken, die sich dann verdichten und in weiterer Ferne eine bräunliche Lichtglocke bilden, in die Schornsteine ragen, schmale, hohe, durchbrochene Gebäude.
Bei den ersten Schritten auf dem bebauten Gelände – zu beiden Seiten des Weges ziehen sich lang gestreckte, niedrige Lagerhallen, Warenspeicher mit unleserlichen Schildern, mit Auffahrtsrampen und breiten Toren – bemerkt sie, dass es still ist wie in der tiefsten Nacht und dass kein einziges Auto vorbeigekommen ist.
Da fällt ihr Blick auf eine Seitenstraße, die zwischen den Lagerhallen hinausführt und dann abbiegt, in Richtung Wald. Sie liegt im Schein hoher Straßenlaternen, die im Unterschied zu allen anderen violett leuchten. Die Straße ist vom Schnee befreit und sauber. Weiter entfernt steht ein Haus, seine Fenster sind erleuchtet. Ohne zu überlegen, biegt sie ab, in Gedanken immer noch beim Haar der Berenike, denn sie weiß gar nicht, wer diese Berenike eigentlich war und warum ihr Haar am Himmel ist. Dann, im bläulichen Schein der violetten Lampen, hört sie von dem erleuchteten Haus her Hundegebell. Dieser Richtung folgt sie.
Das Haus sieht nicht aus wie ein Landhaus, es erinnert eher an eine verlassene kleine Villa, die sich an den Stadtrand verirrt hat, einstöckig, schmal, mit etlichen Veranden und Anbauten. Die Pläne des Erbauers hatten vielleicht einst hier eine ganze Reihe solcher Häuschen vorgesehen, eine Siedlung für wohlhabende Leute, aber irgendetwas hatte die Verwirklichung dieses Planes vereitelt, und es blieb bei dem einen Haus, einsam, abgelegen an Hügel und Wald, in seiner Andersheit diskret von weiter entfernten Gebäuden beobachtet, die sich schwer ausmachen lassen, sie wirken verkümmert, teils verfallen, sind von einfacher Form wie Garagen, Baracken, Werkstätten und dergleichen. Dazwischen verlaufen Eisenbahngleise, zweimal muss sie diese überqueren, bevor sie in einen weiten Hof gelangt, doch sie scheinen unbenutzt; der Schnee hat ihre Richtung und ihr Ziel unkenntlich gemacht. Auf die Existenz parallel verlaufender Eisenbahnschienen unter dem Schnee verweisen nur die Weichenanlagen und die spärlichen Signale, die wie einarmige Skulpturen aus dem Schnee ragen, als seien sie aufgestellt, um Ankömmlinge zu begrüßen.
Aus den Fenstern scheint ein schwaches Licht, das sie besonders ungern mag, weil es in ihr immer eine unvermittelte, unerklärliche Traurigkeit hervorruft. Glühbirnen von höchstens vierzig Watt, die hoch unter der Decke hängen. Ein Selbstmordlicht.
Von irgendwoher taucht neben ihr ein Hund auf, groß und weiß, mit ein paar schwarzen Flecken auf dem Rücken – wahrscheinlich derselbe Hund, der eben gebellt hat, aber jetzt schweigt er, beschnuppert sie nur aufmerksam und routiniert, hechelnd, und führt sie zum Eingang. Die Frau tritt in einen dunklen Flur. Der Hund kratzt drinnen an einer Tür, während ihre Hand nach einem Lichtschalter tastet.
»Da bist du schon wieder? Du bist doch gerade erst hinausgegangen?«, sagt eine Frauenstimme ungehalten.
Ein schmaler Lichtstreif fällt auf den Boden, erreicht die Füße der Besucherin.
»Huch!«, flüstert die Stimme erschrocken. »Wer ist da?«
Die Frau versucht, sich in den Lichtspalt zu zwängen.
»Bitte entschuldigen Sie vielmals, ich habe mich verirrt, ich weiß nicht, wo ich bin. Ich war unterwegs auf der Straße nach Klodzko, und plötzlich bin ich den Abhang hinuntergestürzt. Ich habe mir den Kopf aufgeschlagen. Ich dachte, es wäre gut, wenn ich jemanden finde …«
»Kommen Sie doch herein, es ist kalt.«
Eine große Küche mit einem Tisch in der Mitte und einer großen weißen Kredenz an der Wand. Ein älterer Mann mit einer gestreiften Weste über dem Schlafanzug erhebt sich unwillig vom Tisch. Vor ihm steht eine kleine ausgemergelte Frau in einem verschossenen, speckigen Hauskittel. Die Besucherin erklärt noch einmal verwirrt ihre Situation, sagt immer dasselbe: Sie hat das Auto zurückgelassen, ist in den Graben gestürzt, war unterwegs nach Klodzko, eine schöne Nacht, schließlich redet sie vom Haar der Berenike. Sie mustern sie mit einem merkwürdigen Blick, sie kann diesen Ausdruck nicht deuten: Trauer? Gelassenheit? Verdruss?
Die kleine Frau steht vor ihr wie eine Kartenverkäuferin, gleich wird sie ihr ein Billett geben. Ihr kleines Gesicht rötet sich von dem frostigen Zugwind, der jetzt durch die offene Tür hereingefahren ist, oder umgekehrt, von der Hitze, die von der rot glühenden Herdplatte aufsteigt. Dann zieht sie ein Papiertaschentuch aus der Tasche.
»Setzen Sie sich doch«, sagt sie. »Sie haben Blut am Mund.«
Behutsam wischt sie das Blut ab, ihre Bewegungen sind kurz und sicher.
»Fehlt Ihnen nichts? Möchten Sie einen Tee?«
»Ja, gerne, natürlich. Tee, egal, irgendwas.«
Der Mann hilft ihr aus der Jacke, sorgfältig faltet er ihren Schal zusammen.
»Sind Sie verletzt? Haben Sie Schmerzen?«
Diese einfachen Fragen kommen ihr verworren und zusammenhanglos vor. Sie holt tief Luft, um zu antworten, doch anstelle von Worten kommt nur ein Weinen heraus.
»Ich bin mit dem Kopf aufgeprallt, mein Auto ist in den Schnee gestürzt. Ich bin hinausgekrochen und hierhergekommen. Ich glaube, mir ist nichts passiert, man sieht doch nichts, oder? Alles funktioniert noch, gucken Sie doch« – sie lächelt schwach und bewegt die Arme und Beine wie ein Hampelmann.
Die kleine Frau setzt ihr ein Glas Tee in einem zierlichen Metallhalter vor. Die beiden nehmen ihr gegenüber am Tisch Platz.
»Das ist das Wetter. Da verliert man den Orientierungssinn«, sagt der Mann und schaut auf das Fenster, in dem sich die Vierzigwattbirne unter dem runden weißen Schirm spiegelt, ein Widermond.
»Der Winter will kein Ende nehmen.«
»Morgen kommt unser Enkelsohn, er kann Sie untersuchen. Wir haben Zimmer oben, bleiben Sie über Nacht bei uns, jetzt ist es sowieso zu spät, um etwas zu unternehmen. Wir müssen nur die Elektroheizung anschalten, damit es warm wird«, setzt die kleine Frau noch hinzu und schaut ihren Mann an.
Der Mann wirft sich eine dicke Strickjacke über und geht wortlos hinaus. Bald darauf hört man seine Schritte von oben. Die gläserne Deckenlampe schwankt kaum merklich.
Die kleine Frau legt die Hände auf den Tisch und sagt überraschend heiter:
»Ich will’s Ihnen gleich sagen, ich hab Probleme mit dem Gedächtnis, also mit wichtigen Fragen wenden Sie sich besser an ihn« – sie weist mit dem Kinn nach oben, zur Decke. »Ich erinnere mich gut an alles, was vor langer Zeit geschehen ist, zum Beispiel als wir im Krieg hierhergekommen sind, ich weiß sogar noch, wie viel das Brot damals gekostet hat, gleich nach der Befreiung. Weißt du, wie viel, Kind? Ich weiß es genau, nämlich zwanzig Groschen. Aber dafür habe ich Mühe, mich an Dinge zu erinnern, die gestern geschehen sind. Das ist nicht diese Krankheit mit ›A‹, du weißt schon, die alle haben. Ich bin bloß alt.«
»Gut, ich werd’s mir merken.«
Die alte Frau holt eine angebrochene Wodkaflasche aus dem Schrank und gießt ein wenig in das Teeglas.
»Davon wird Ihnen wärmer, trinken Sie nur.«
»Ich bin Olga«, sagte sie dann. »Und das«, sie richtet den Blick nach oben, zur Decke, »das ist Stefan.«
Die Frau trinkt von dem heißen Tee und will etwas erwidern, hat