Ольга Токарчук

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Mann gibt eine Dose Hundefutter in den Topf mit der Grütze und vermischt das Ganze mit einem Holzlöffel.

      »Meiner Meinung nach sehen Sie prächtig aus. Wir haben hier gute Luft und gutes Wasser. Das verjüngt die Leute.« Stefan nimmt den Topf mit der Grütze in beide Hände und schlurft zur Tür.

      Ida öffnet die Tür für ihn.

      »Komm dann sofort zum Frühstück. Und setz deine Mütze auf!«, ruft ihm seine Frau hinterher.

      Beide schneiden Scheiben von dem Käse und legen sie auf den Teller. Dazu eine saure Gurke.

      Olga fragt: »Woher kommst du? Du hast es mir sicher schon mal gesagt, aber ich weiß es nicht mehr. Aus Wrocław?«

      »Aus Warschau«, erwidert Ida.

      »Aha, aber wie bist du hierhergekommen?«

      Ida erzählt noch einmal geduldig ihre Geschichte.

      »Und die Eltern, leben deine Eltern noch?«, fragt Olga.

      »Nein, sie leben nicht mehr. Das Haus wurde verkauft«, sagt Ida und verspürt plötzlich den verzweifelten Wunsch zu fliehen. In Gedanken prüft sie, ob sie alles bei sich hat – Schlüssel, Papiere, wo haben sie ihren Mantel hingehängt? Sie wirft einen Blick auf das Telefon, sie muss sofort anrufen. Sie wird sich auf den Weg machen, sie hat sich wieder gefangen. Von diesen Leuten hat sie jetzt genug – sie wird bei ihnen noch ganz durcheinander. Energisch tritt sie näher an den Kalender mit dem Fisch, heute ist also Samstag. Samstag oder Freitag? Am Montag hat sie in Warschau einen Arzttermin. Am Mittwoch muss sie bei der Arbeit sein.

      Olga gießt Tee in die Gläser, aus einem Beutel macht sie zwei Tassen.

      »Also, mir scheint es, als hätten wir immer hier gewohnt«, erklärt sie. »So viele Leute sind in dieses Haus gekommen und wieder gegangen. Ich hab ihm ja gesagt«, mit einer Bewegung der Brauen deutet sie auf die Tür, »er soll so ein Schild machen, ›Ferien auf dem Bauernhof‹, und es an der Straße aufstellen, denn das Haus selbst kann man von der Straße aus nicht sehen. Aber man findet uns auch ohne Schild. Und du, was machst du denn da in Warschau? Hast du Familie? Du siehst mir nach einer gescheiten Frau aus.«

      Ida lächelt vor sich hin, sie freut sich über dieses unerwartete und altmodische Kompliment und nimmt sich vor, ihnen für Übernachtung und Verpflegung Geld zu geben, offensichtlich verdienen sie an verirrten Reisenden, wie sie eine ist. Den zweiten Teil von Olgas Frage ignoriert sie. Sie überlegt, ob sie vor der Abreise noch einen Tee trinken soll. Olga sieht sie neugierig an und verschlingt einen Bissen nach dem anderen. Ihre Wangen sind so beweglich, als wären sie nicht am Kopf befestigt.

      »Ich bin Reiseführerin.«

      »Ist das ein Beruf?«, wundert sich Olga.

      Stefan erscheint, besser gesagt, er steckt den Kopf ins Zimmer und sagt zu seiner Frau: »Komm!« Es hört sich ernst und dringend an, als sei etwas Wichtiges geschehen. Ida erstarrt mit offenem Mund, sie hat das Gefühl, als habe sich genau dasselbe schon heute oder gestern ereignet, als stecke sie in einem seltsamen, langen, bruchstückhaften Déjà-vu. Sie schüttelt den Kopf hin und her, dieses Gefühl ist wie Wasser im Ohr, es verzerrt die Geräusche, überlagert alles mit seinem Summen, man muss es unbedingt herausschütteln.

      Olga erhebt sich gehorsam vom Tisch, zieht eine Fellweste über, setzt eine Filzmütze auf und geht hinaus. Sie müssen mit etwas beschäftigt sein, das keinen Aufschub duldet.

      Worauf sollte sie noch warten? Ida wählt die Nummer der Polizei, 997, die kennt sie aus dem Fernsehen, aus diesen Programmen, in denen Verbrechen unbeholfen nachgestellt werden. Sie hört den langen Ton, wie ein beunruhigendes Signal der Leere. Sie versucht es noch einmal. Der Klang ist lang und traurig, wie das Pfeifen einer fernen Lokomotive. Von hier muss es überallhin weit sein, sogar für das Telefon. Plötzlich hat sie das Gefühl, dass dort am anderen Ende Nikolin den Hörer abhebt und mit seiner schwachen, müden Stimme sagt: »Ja, bitte.«

      So nennt sie ihren Mann, wenn sie an ihn denkt – immer beim Nachnamen Nikolin. Früher klang das vertraut, früher, also damals, als sie jung waren und die gleichen Jeans trugen und die gleiche Frisur hatten. Jetzt klingt »Nikolin« so, wie es sich gehört und wie es der Wahrheit entspricht – wie der Name eines Bekannten. Wenn nötig treffen sie sich in einem Café, wo er ohnehin ganze Vormittage versitzt. Der Eingang des Cafés liegt an einer Hauptverkehrsstraße, aus der Menschenmenge und dem Autolärm tritt man durch die dunkle Tür in eine plötzlich verstummte, beruhigte Welt, es riecht ein wenig feucht, ein Geruch, der die Nähe eines Parks oder Gartens zu verheißen scheint, in Wirklichkeit jedoch von ein paar Kübeln mit Kletterpflanzen herrührt, die zwischen den Tischen stehen und im Sommer ins Freie gestellt werden.

      Nikolin sitzt immer in einer bestimmten Ecke, drinnen, wo es am dunkelsten und am stickigsten ist und nur eine kleine Wandlampe das Lesen ermöglicht.

      Ida erkennt schon von Weitem sein blasses, etwas schlaffes Gesicht und die hellgrauen, sich lichtenden Haare. Irgendwie weiß er immer genau, wann sie, seine Ex-Frau, eintritt, und aus seiner Ecke verfolgt er sie mit Blicken. Er ist überzeugt, dass sie ihn noch nicht sieht oder zumindest noch so weit entfernt ist, dass sie seinen Gesichtsausdruck nicht ausmachen kann. Immer sitzt er demselben Irrtum auf, denn in Wahrheit hat Ida seine verdrossene Miene längst wahrgenommen, bevor er sein Gesicht strafft und den Mund zu einem Lächeln verzieht, das nicht zu herzlich, nicht übertrieben ist, nur freundschaftlich, normal. Sie sieht sein Gesicht, bevor es dazu bereit ist, und sie weiß, was es aussagt: Ablehnung, ein Hauch von Wut, Ekel – nicht unbedingt ihr gegenüber, aber allem gegenüber, was nicht er selbst ist.

      Nikolin trägt viele Kleidungsstücke, die nicht zueinander passen oder die er aus Trotz so unpassend ausgewählt hat: ein Hemd, eine Wollweste, ein dreieckiges Halstuch, das eine Art Schal darstellen soll, dazu ein Jackett mit Flicken auf den Ellbogen, ausgebeulte Cordhosen und im Knopfloch der Jacke noch ein Ziertuch. Von allem zu viel, die absonderliche Eleganz eines Menschen, der sich mechanisch ankleidet. Nikolin legt sein Buch beiseite und sieht sie mit einem inzwischen freundschaftlichen Lächeln an, er greift nach seinem Bier, an dem er seit einer Stunde nippt.

      Meistens ist er derjenige, der anruft, in der Regel geht es um einen kleinen Gefallen: eine Arztempfehlung, ein kleines Darlehen, ein Anlass – ein Theaterstück, Vortrag, Abendessen –, zu dem er partout nicht allein gehen möchte. Sie kommt widerwillig, müde, zwischen Reisen, oft mit gefülltem Einkaufsnetz. Im Grunde geht es ihm immer um dasselbe: Ich bin hilflos, sagten sein kariertes Jackett, sein kahler werdender Kopf, das Tüchlein im Knopfloch, die müde Hautfalte neben dem Mund, die aschfarbenen Augenlider, die kleinen, schmalen Hände mit dem Kugelschreiberabdruck auf einem Finger. Ich bin verlassen und hilflos, ich weiß nicht, wie ich mit alldem fertigwerden soll, der Nachbar hat mir das Badezimmer überschwemmt, ich habe meinen Versicherungsvertrag verloren, ich habe erhöhten Blutzucker, ich kann nachts nicht schlafen, ich bin alt, ich habe mein Leben vergeudet, nimm mich mit nach Hause, kümmer dich um mich, ich bin krank, ich hab keine Kraft.

      Doch sein Mund berichtet nur konkrete Fakten: Meine Heißwasserleitung ist im Eimer, kennst du keinen Handwerker, könntest du ihn anrufen, dass er zu mir kommt, ich bin jetzt die ganze Zeit zu Hause. »Ich kann dir die Nummer geben«, sagt Ida. »Natürlich, ich werde ihn selbst anrufen«, beschwichtigt er und setzt hinzu: »Kann ich mal zum Kaffee zu dir kommen?« Ida zuckt mit den Schultern. »Ich fahre bald wieder weg«, sagt sie. »Und wann kommst du zurück?«, fragt er nach.

      Er kommt mit einer Zeitung, setzt sich auf seinen alten Platz an den Tisch in der Küche, sie schneidet etwas, kocht etwas. Er sitzt in ihrer Küche über der auf dem Tisch ausgebreiteten Wochenzeitung, die großen Zeitungsseiten segeln zu Boden. Die Küche ist klein. Nikolin und seine Zeitung nehmen den ganzen Raum ein, atmen die ganze Luft, nehmen das Licht weg. Die beiden unterhalten sich leise, ohne Energie. Das haben sie unfreiwillig gelernt, sobald sie einander sehen, werden sie müde. Ida gibt ihm etwas zu essen, setzt ihm den Teller mit Suppe vor die Nase, auf die Zeitung. Nikolin lächelt dankbar und isst schweigend. Er ist wie ein Küken, das zu unglaublichen Dimensionen angewachsen ist, doch die Fähigkeit zur Nestflucht verloren hat. Und je größer die Dankbarkeit in seinem Lächeln ist und je mehr ihm die Suppe