von Ärzten, ich kann mein Glück kaum fassen. Haben Sie Miss Bull schon gesehen?«
»Nein«, sagte Lysander. Sie blickten sich im überfüllten Saal um. Plötzlich sah er sie – ihre zierliche kleine Gestalt. »Da ist sie.« Er zeigte in ihre Richtung.
»Wir sollten ihr Guten Tag sagen«, regte Bensimon an, und sie bahnten sich einen Weg quer durch den Raum.
Miss Bull war von drei Männern umgeben. Lysander stellte fest, dass sie eine kirschrote Pluderhose im Haremstil trug, ein Bolerojäckchen aus schwarzem Satin mit Strassknöpfen sowie einen Kragen mit Krawatte. Ihre Haarmassen hatte sie mit unzähligen Schildpattkämmen locker aufgesteckt. Von ihrer Schulter hing eine kleine bestickte Tasche an einer geflochtenen Kordel, die ihr fast bis zu den Knien reichte. Als sie sich umdrehte, um ihn und Bensimon zu begrüßen, hörte Lysander in Bodennähe ein leises Klimpern und senkte den Blick: An ihre Schuhspitzen waren silberne Glöckchen genäht. Bensimon verabschiedete sich und ging. Miss Bull wandte sich Lysander zu. Diese riesigen braungrünen Augen.
»Wie finden Sie Udos Bilder?«, fragte sie.
»Sie gefallen mir. Sehr. Wirklich.«
Miss Bull starrte ihn eindringlich an, schien aber in ruhiger, stabiler Verfassung zu sein. Vielleicht hatte sie erneut Dr. Bensimons Medizin eingenommen. Das Jäckchen mit dem Kragen und der Krawatte verlieh ihr etwas Androgynes.
»Das müssen Sie ihm schon selbst mitteilen«, sagte sie und schritt mit klingelnden Füßen auf einen Mann zu, der wenige Meter entfernt stand, im Gespräch mit zwei Frauen, die große Schlapphüte trugen. Sie berührte seinen Ellbogen und führte ihn zu Lysander.
»Udo Hoff – Mr Lysander Rief.«
Er schüttelte dem Künstler die Hand. Hoff war ein stark untersetzter, stämmiger Mann in den Dreißigern, kleiner als Lysander, mit ungeheuer breiter Brust und breitem Kreuz, rasiertem Schädel und rotbraunem Spitzbart. Er wirkte übertrieben muskulös, wie ein Zirkus-Kraftmensch, als könnten seine gespannten Hemdknöpfe jederzeit platzen. Sein Stiernacken sprengte schier den Kragen.
»Mr Rief lässt sich auch von Dr. Bensimon behandeln«, erklärte Miss Bull. »So haben wir uns kennengelernt.«
Lysander wünschte, das hätte sie für sich behalten, weil Hoff ihn nun feindselig von Kopf bis Fuß musterte und sich ein gewisser Hohn auf seinem Gesicht abzeichnete.
»Aha, die Wiener Kur«, sagte er. »Ist das in London etwa der letzte Schrei?« Er hatte eine gute englische Aussprache.
»Nein, keineswegs«, wehrte Lysander ab. Der Mann war offensichtlich darauf aus, ihn zu provozieren. Also würde er seinen Charme spielen lassen. Sich von seiner angenehmen und erfreulichen Seite zeigen. Frau K wäre stolz auf ihn.
»Ich bewundere Ihre Arbeit wirklich sehr. Starke Bilder. Absolut fesselnd.«
Hoff wedelte mit der Hand, als wollte er eine lästige Fliege verscheuchen.
»Wie gefällt Ihnen unsere Stadt?«, fragte er tonlos.
Lysander überlegte, ob das wohl ein Scherz oder eine Fangfrage war. Er entschied sich, die Frage ernst zu nehmen.
»Sehr gut. Als ich vorhin auf dem Weg hierher den Ring entlangging, war ich wieder zutiefst beeindruckt. Die Bauten sind einfach grandios, und das Ganze so großzügig angelegt wie sonst in keiner –«
»Sie mögen den Ring?«, fragte Hoff zweifelnd.
»Und wie. Ich finde ihn –«
»Sie wissen aber, dass diese Gebäude praktisch neu sind? Keines zählt mehr als ein paar Jahrzehnte, wenn überhaupt.«
»Meinen Reiseführer habe ich aufmerksam geles-«
Da bohrte Hoff ihm doch tatsächlich einen Finger in den Arm, mit zerquältem Stirnrunzeln und zirkumflexartig erhobenen Augenbrauen.
»Ich verabscheue den Ring«, sagte Hoff mit leicht bebender Stimme. »Der Ring ist eine groteske Zurschaustellung bourgeoisen Größenwahns. Er ist eine Beleidigung fürs Auge, ein Verstoß gegen Anstand, Ehre und Tradition. Ich kann seinen Anblick nicht ertragen. Neue Bauten, die als altehrwürdige Monumente posieren. Eine Schande. Wir Wiener Künstler sind uns ständig dieser Schande bewusst.« Er stieß Lysander noch einmal an, wie um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, und ging weg.
»Du liebe Zeit … tut mir leid«, sagte Lysander zu Miss Bull. »Ich hatte ja keine Ahnung, dass dieses Thema so heikel ist.«
»Es ist nun mal so, das Künstlervölkchen darf dem Ring auf keinen Fall etwas abgewinnen«, erwiderte sie. Mit gesenkter Stimme fügte sie hinzu: »Obwohl ich das durchaus tue.«
»Ja, ich auch. In London haben wir nichts Vergleichbares.«
Sie hob den Kopf, um ihn anzusehen. Eine richtige Kindfrau, dachte Lysander, ich könnte sie ohne Weiteres auf dem Arm tragen.
»Wann kann ich Sie porträtieren?«, fragte Miss Bull. »Sie bleiben doch noch eine Weile in der Stadt?«
»Ich denke schon. Mit Dr. Bensimon lässt es sich recht gut an – und so bin ich bestimmt noch einen Monat da, mindestens.«
»Dann schauen Sie doch mal nachmittags in meinem Atelier vorbei, damit ich zur Vorbereitung ein paar Skizzen anfertigen kann.« Sie wühlte in ihrem Täschchen herum und kritzelte eine Adresse auf einen Fetzen Papier.
»Es liegt etwas außerhalb. Sie können mit der Bahn nach Ottakring fahren und vom Bahnhof aus laufen. Beim ersten Mal nehmen Sie zur Sicherheit vielleicht lieber einen Fiaker. Wie wäre es mit Montag um vier?«
»Also gut.« Lysander las die Adresse. War das klug? Doch irgendwie reizte es ihn. »Danke.«
Sie legte ihm die Hand auf den Arm. »Wunderbar. Sie haben ein ausgesprochen interessantes Gesicht.« Sie blickte sich um. »Ich sehe mal lieber nach Udo, für den Fall, dass er sich noch mehr aufregt. Bis Montag.« Lächelnd entfernte sie sich, und das Klingeln ihrer Glöckchen ging rasch im allgemeinen Gesprächslärm unter.
13 Autobiographische Untersuchungen
Als Gott den Mann vollbracht
Und die Frau, mit mehr Bedacht,
Blieb noch Staub übrig ohne Behuf
Daraus er den Minenarbeiter erschuf.
Minenarbeiter – Bergmann, der keine Gipfel erklimmt
Minenarbeiter – Bildhauer der Unterwelt
Minenarbeiter – Segler der Erdadern (?)
Minenarbeiter – Jäger/Sammler/Schatzsucher/ Raubbauer
Mit der ersten Strophe bin ich gar nicht mal so unzufrieden. Danach weiß ich nicht weiter.
Miss Bull. Ein Bulle von Kerl – Udo Hoff. Bulle Rammbock Stier. Stierkämpfer. Matador. Bolerojäckchen. Weißes Hemd mit Krawatte. Bulle gegen Bulle.
»Glückliche Menschen sind niemals brillant. Kunst setzt Reibung voraus.« Von wem war das? So ein Quatsch. Kunst ist das Streben nach einer Form von Harmonie und Integrität. Ein harmonisches, durch und durch integres Leben ist demnach künstlerisch wertvoll. Quod erat demonstrandum.
Traum. Während ich mich rasierte, wurde mein Gesicht im Spiegel zum Gesicht meines Vaters. Wie geht’s dir, Sohn?, fragte er. Mir geht’s gut, Vater, sagte ich. Du fehlst mir. Dann tritt doch durch den Spiegel und komm zu mir, sagte er, na los, mein Junge. Ich berührte den Spiegel und sein Gesicht wurde wieder zu meinem.
Ich weiß noch, dass Blanche und ich uns einmal gestritten haben, weil sie mir eine mit Bleistift verfasste Nachricht hinterlassen hatte. Ich war der Meinung, es zeuge von einem Mangel an Respekt – als würde sie bloß eine Einkaufsliste hinkritzeln, anstatt mir zu schreiben, jemandem, den sie liebte. Das gehörte sich nicht. Sie nannte mich einen dämlichen arroganten Korinthenkacker. Und sie hatte vollkommen recht – manchmal denke ich, dass Pedanterie und Arroganz zu meinen schlimmsten Fehlern zählen.