der Tag ausgelöst hat. Nutzen Sie Ihre fonction fabulatrice. In dieser Parallelwelt ist gar nichts vorgefallen. Vorstellung und Wirklichkeit verschmelzen zur Fiktion, die uns am Leben erhält. Jetzt haben Sie eine Alternative.«
Lysander bestellte sich einen Cognac im Café Central. Er dachte über das nach, was in der Sitzung passiert war, und befolgte Bensimons Anweisung, sich den Details der von ihm geschaffenen Parallelwelt zu widmen – des sonnigen Tages, an dem nichts vorgefallen war, abgesehen davon, dass er über seinem Buch eingeschlafen war, als er in Claverleigh Wood unter einer Eiche lag. Ja, er konnte sich selbst beim Aufwachen zusehen, wie er sich die Augen rieb, sich leicht steifbeinig und schwankend aufrichtete, sein Buch aufhob und nach Hause ging. Über den Zauntritt, durch den umfriedeten Garten – die Gärtner waren alle fort – und durch eine Seitentür ins Gutshaus hinein, wie er die Stufen zum grünen Salon hinaufpolterte, wo seine Mutter wartete und der runde Tisch zum Tee gedeckt war. Er dachte – ja, sie hat nach frischem heißem Wasser geläutet, um die Kanne zu wärmen, weil ich mich verspätet habe und der Tee kalt geworden ist. Für mich gibt es gebutterte Toastdreiecke mit Erdbeerkonfitüre und eine Scheibe Kümmelkuchen, mein Lieblingsgebäck. Ich setze mich und wische mir einen Grashalm von der Hose. Meine Mutter nimmt die silberne Teekanne – nein, es ist die hellgrüne Porzellankanne mit dem Efeurankenmuster und dem angeschlagenen Deckel – und fragt, während sie mir eine Tasse Tee einschenkt: »Wie kommst du mit der Lektüre voran, mein Schatz?«
Lysander wollte das Cognacglas an die Lippen führen und hielt mitten in der Bewegung inne. Es war so echt. Vollkommen echt und in seiner Sicht vollkommen wahr. Er hatte sich ganz bewusst in eine Parallelwelt versetzt und seine Vorstellungskraft zur Anwendung gebracht. Erstaunlich. Seine Mutter trug … Was? Einen orangeroten Hausmantel mit Fledermausärmeln. Einen Jade-Armreif, der klirrend an ihre Tasse stieß. Stevens, der Lakai, räumte das Tablett ab. Es war so leicht. Wie hieß das noch? Seine fonction fabulatrice. Er hatte eine vertraute Welt erschaffen und einen Tag ohne Widrigkeiten gestaltet. Er verspürte reines Glück … Vielleicht sollte er mehr von diesem Bergson lesen. Er nippte an seinem Cognac, genoss die Wärme, die seine Kehle hinunterrann, die samtige, rauchige Süße, und lächelte vor sich hin.
15 Das Atelier in Ottakring
Am Morgen fand Lysander einen Brief von Blanche vor. Als er ihn aufriss, stieg ihm flüchtig ein Resthauch von Rosenwasser in die Nase, ihrem bevorzugten Parfum. Vier Seiten lila Briefpapier, dicht beschrieben mit ihrer großen, zackigen Klaue.
Mein Allerliebster,
»June in Flammen« wird ein Riesenerfolg – ich habe im Gefühl, dass es über Monate laufen wird. Wann kommst Du nach Hause? Fühlst Du Dich jetzt wohler in Deiner Haut? Dein kleines Kätzchen möchte sich wieder in Deinen Schoß kuscheln. Ich habe eine Rolle in einem »Streifen« ergattert – ist das nicht unglaublich? Dafür gibt es richtig gutes Geld. Du musst unbedingt Probeaufnahmen machen, wenn Du wieder da bist. Es ist kinderleicht – man braucht keinen Text zu lernen! Du hast genau das passende Gesicht dafür, außerdem ist das spaßig und macht nicht die geringste Mühe, gemessen an dem, was wir Abend für Abend auf der Bühne leisten –
Lysander legte den Brief weg, er würde ihn später zu Ende lesen. Es ärgerte ihn, dass Blanche auf keine einzige seiner Fragen eingegangen war. Briefe waren doch dazu da, eine Art Zwiegespräch zu führen, sich gegenseitig auszutauschen – für Blanche schien es sich aber um eine Art Einbahnstraße zu handeln, sie gab einfach ihre Gefühle zum Besten und erzählte von sich, ohne im Geringsten zu berücksichtigen, was er ihr mitgeteilt hatte. Wenn er Blanche schrieb, hatte er stets ihren jüngsten Brief parat. Eine Korrespondenz lebte vom Dialog, Monologe – und seien sie noch so lebhaft und persönlich – waren nicht gerade interessant.
Seine etwas gereizte Stimmung hielt an, als er zur Stadtbahnhaltestelle lief und eine Rückfahrkarte nach Ottakring löste. Während der kleine Zug seinem Ziel auf einer Zweigstrecke entgegentuckerte, sah Lysander auf Wiens westliche Vororte hinaus. Auf einmal hatte er keine Lust mehr, Miss Bull Modell zu stehen und sich von ihr zeichnen zu lassen – warum hatte er sich nur darauf eingelassen? Miss Bull war allerdings hartnäckig, man konnte ihr schwer widerstehen – so viel war ihm bereits klar geworden.
In Ottakring zeigte er einem Fiaker die Adresse des Ateliers und stieg in die Kutsche. Sie klapperten weiter nach Westen, an Schrebergärten, Apfelplantagen und einem großen Friedhof mit Staketenzaun vorbei, bevor sie in einen schlammigen Feldweg einbogen. Der Fiaker hielt vor einem leuchtend scharlachrot gestrichenen Tor, Lysander stieg aus und entrichtete das bescheidene Fahrgeld. Er dachte bereits an die Heimreise: Vom Bahnhof aus war das natürlich kein Problem gewesen, aber wie sollte er dorthin zurückkehren? Er würde eine Stunde bleiben – keine Sekunde länger.
Vom Tor aus führte ein Ziegelpfad zu einer alten Steinscheune am Rand einer baumbestandenen Weide, auf der zwei Shirepferde grasten. Der Scheuneneingang war von Blumentöpfen mit bunten Zinnien und Margeriten umstellt. Lysander drückte das Tor auf und löste damit eine laute Messingglocke aus, die an einer geschwungenen Metallstange montiert war. Miss Bull tauchte fast umgehend im Türrahmen auf und schüttelte ihm die Hand. Sie trug einen knielangen Leinenkittel, der mit Ton- und Gipsspritzern übersät war.
»Sie sind es ja tatsächlich, Mr Lysander Rief. Ich kann es gar nicht glauben!«, rief sie und führte ihn in das Atelier.
Die alte Scheune war zu einer geräumigen, fenster- und deckenlosen Bildhauerwerkstatt umgebaut worden. Man hatte einen großen Teil des Ziegeldachs durch Glasscheiben ersetzt. In einer Ecke stand ein großer, breiter Gusseisenofen mit einem hohen, schmalen Rauchrohr, das mehrfach gewinkelt bis zum Dach reichte. Tapeziertische reihten sich an einer Wand entlang, bedeckt mit Brettern und Töpfen und Holzblöcken von unterschiedlicher Größe. An einem Ende stapelten sich Innengerüste aus gebogenem Draht. In einer anderen Ecke befand sich eine Sitzgruppe – vier Rohrsessel um einen niedrigen Tisch mit bunter Decke und einem Krug Anemonen. Mitten im Raum stand auf einem hohen Drehbock die grobe, etwa neunzig Zentimeter große Tonskulptur eines kauernden Minotaurus – ein stumpfer Rinderkopf mit stummelartigen Hörnern, der einem massigen, muskulösen Leib aufgesetzt war. Daneben stand ein Podest, mit einem eigens zugeschnittenen Teppichstück ausgelegt. Lysander sah sich um.
»Wunderbares Licht«, sagte er im Glauben, dies sei die passende Bemerkung beim Betreten eines Künstlerateliers.
Als Miss Bull ihren Kittel ablegte, kamen eine cremeweiße Muselinbluse und ein wadenlanger schwarzer Sergerock zum Vorschein. An den Füßen trug sie Holzschuhe. Ihre zerzausten dunklen Haare waren nachlässig hochgesteckt, mit etlichen langen losen Strähnen. Nirgends waren Gemälde zu sehen.
»Arbeitet Hoff auch hier?«, fragte Lysander.
»O nein. Wir wohnen auf der anderen Seite des Feldes, einen knappen Kilometer entfernt. Udos Familiensitz. Wir haben versucht, zu zweit in seinem Atelier zu arbeiten, aber das war eine Katastrophe – wir haben uns nur gestritten. Darum habe ich diese alte Scheune gemietet und halbwegs instandgesetzt.« Sie deutete nach oben. »So habe ich vernünftiges Licht.« Dann zeigte sie auf eine Tür am hinteren Ende. »Dort ist ein Schlafzimmer, falls ich mich zwischendurch mal hinlegen möchte, außerdem noch eine kleine Küche. Der Donnerbalken ist draußen hinterm Haus.«
»Sehr hübsch.« Er korrigierte sich: »Perfekt.«
»Trinken Sie einen Madeira mit.« Sie ging zu den Tapeziertischen und schenkte den Wein in zwei kleine Bechergläser ein. Lysander folgte ihr, und sie stießen miteinander an, ehe sie tranken. Eigentlich mochte er keinen Likörwein – Sherry, Porto und dergleichen – und spürte über einem Auge sofort die ersten Anzeichen leichter Kopfschmerzen.
»Beeindruckend.« Er wies auf den kauernden Minotaurus.
»Ich werde ihn in Bronze gießen«, sagte Miss Bull. »Falls ich es mir leisten kann. Dafür hat Udo Modell gestanden – nie wieder. Dieses ewige Gejammer. Während ich ständig nackt für ihn posiere. Das ist einfach ungerecht.« Sie stellte ihr Glas ab und nahm einen großen Skizzenblock sowie ein Stück Zeichenkohle in die Hand. »Also, was meinen Sie – wollen wir mit der Arbeit anfangen?«
»Soll ich mich auf das Podest stellen?«
»Ja.