Andrea Revers

Schlaf schön


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schön – das hätte ich am liebsten vom Grab geklaut.«

      Frederike musterte sie. »Ist das ein Hobby von dir? Beerdigungen?«

      Grete kicherte. »Nein, aber Kuchen essen.«

      Doch Elsbeth wurde plötzlich ernst. »Die Einschläge kommen näher. Im letzten Monat war ich auf drei Beerdigungen. Das ist schon ein komisches Gefühl, wenn rundherum die Nachbarschaft ausstirbt.«

      »Sag so was nicht.« Eva schauderte.

      Doch Frederike zuckte mit den Schultern. »Wir haben alle ein Verfallsdatum. Und das ist auch gut so. Stell dir vor, wir würden alle hundertzwanzig.« Sie schüttelte sich.

      »Nee, so alt will ich gar nicht werden«, bemerkte Grete. »Aber doch neunzig. Ich will ja was haben von Rudis Rente.« Grete hatte nach dem Tod ihres Mannes eine Vorliebe für Gruppenreisen und Kaffeefahrten entwickelt. »Solange man noch fit ist, ist Alter kein Problem.«

      Damit war der Einstieg gegeben in einen durchaus deprimierenden Austausch über typische Altersgebrechen und Krankheitssymptome. Leichenschmaus, dachte Frederike, was für eine dämliche Bezeichnung für eine solche »After-Show-Party«. Sie blieb noch rund ein Stündchen und verdrückte sich dann unter Beileidsbekundungen an die engsten Verwandten. Auf dem Heimweg verspürte sie eine leichte innere Unruhe. Etwas hatte sie angerührt. Vielleicht war es die Fassungslosigkeit von Ännes Töchtern ob des plötzlichen Todes der Mutter, die sie an die eigene Fassungslosigkeit erinnert hatte, als plötzlich ihre Schwester und ihr Schwager bei dem Unfall »tot geblieben sind«. Auch so eine merkwürdige Formulierung. Wäre es besser, wenn die Betreffenden nicht tot blieben – der Beginn einer Zombieapokalypse? Vielleicht war es aber auch die Häufung der Beerdigungen, von denen Elsbeth berichtet hatte, die sie irritierte. Irgendetwas hatte auf jeden Fall ihren Instinkt geweckt.

      Am anderen Morgen stand Frederike schon früh auf. Die Knochen knackten beim Aufrichten, und sie brauchte einige Schritte, bis wieder alles rund lief. Sie seufzte. Ans Altwerden würde sie sich nie gewöhnen. Hannelore strich um ihre Beine und maunzte auffordernd. Anscheinend brauchte er gerade seine Schmuseeinheiten; er war daran gewöhnt, dass sie alles stehen und liegen ließ, um ihm zu Willen zu sein. Sie beugte sich über ihn und kraulte ihn hinter den Ohren. Die gebückte Haltung tat ihr nicht gut, ein Ziehen in der Lendenwirbelsäule ließ sie leicht aufstöhnen.

      Sie begann den Tisch zu decken, denn gleich würde Angela, ihre Nichte, vorbeikommen. Angela arbeitete als Pflegekraft im Gerolsteiner Krankenhaus. In den letzten Jahren hatte sie sich angewöhnt, öfter mal bei ihrer Tante vorbeizuschauen. Frederike hatte sich vor fünf Jahren um sie gekümmert, als es ihr sehr schlecht ging, damals, nach dem tödlichen Autounfall ihrer Eltern. Kurz davor war schon ihr Freund mit dem Motorrad tödlich verunglückt. Frederike hatte ihr über die schwere Zeit hinweggeholfen. Für sie war Angela wie eine Tochter.

      Während Frederike noch die Eier abschreckte, schenkte Angela den Kaffee ein. Sie hatte die Sonntagszeitung mitgebracht. Es gehörte zu ihren Ritualen, den Sonntagmorgen miteinander zu verbringen, ausgiebig zu frühstücken und sich dann gegenseitig aus der Zeitung vorzulesen.

      »Gib mir mal den Sportteil«, bat Angela, als man die Vorbereitungen abgeschlossen hatte und endlich beide am gemütlichen Frühstückstisch in der Küche Platz genommen hatten. Die Küche, eine alte Schwarzküche mit Kaminesse und Spülstein in der Fensternische, war liebevoll mit Töpfen und Handwerksgeräten aus alter Zeit dekoriert. Man fühlte sich hier ein wenig aus der Zeit gefallen.

      »Ich muss gerade noch den Bericht über den Dopingfall lesen, dann kannst du ihn haben. Lies so lange Kultur«, beschied Frederike die Bitte abschlägig, ohne auch nur einmal aufzublicken.

      Angela stöhnte. »Da stehen doch bloß die Todesanzeigen drin.«

      »Guck doch gleich mal nach der Anzeige von Änne Maurer. Da war ich am Donnerstag auf der Beerdigung.«

      Angela blätterte durch den Anzeigenteil. »War die etwa auch im St. Ägidius in Hillesheim?«

      Frederike hob den Kopf. »Ja, seit zwei Wochen. Warum fragst du?«

      Angela zuckte mit den Schultern und faltete die Zeitung zusammen. »Hier ist sie nicht drin. Die haben wahrscheinlich nur im Amtsblättchen geschaltet. Machen die doch hier fast alle.«

      »Kann sein. Aber was war jetzt mit dem St. Ägidius?«

      Angela schnappte sich den Sportteil. »Ach, nur so eine Frage. In letzter Zeit hatten wir jetzt öfter Todesfälle aus dem Hillesheimer Altersheim.« Sie blätterte die Seiten durch. »Komisch, ich verstehe nicht, wieso heute am Sonntag die Ergebnisse vom Samstag noch nicht drin sind.«

      »Ganz einfach! Weil die Sonntagszeitung bereits Freitag fertig gemacht wird. Die Redaktion hat schließlich auch Wochenende.« Frederike dachte wehmütig an alte Zeiten, als die Morgenzeitung nicht schon am Vorabend gegen zehn Uhr im Briefkasten lag.

      »Weicheier! Unsereiner muss ja schließlich auch am Wochenende ran.« Angela biss erbost in ihr Brötchen.

      »Wem sagst du das?« Frederike blätterte entspannt durch den Lokalteil.

      »Redest du jetzt von deinem alten Job oder vom Rentnerlotterleben?«

      »Letzteres.« Frederike grinste. »Nie mehr frei, rund um die Uhr im Einsatz.«

      »Na, da habe ich was zum Vorfreuen. Im Moment krachen bei uns die Dienstpläne aus allen Nähten. Wir haben Ausfälle wegen einiger Todesfälle in der Familie. Ich werde heute den freien Tag genießen.«

      Doch Frederike musste noch mal auf die Todesfälle zurückkommen. »Wer ist denn alles gestorben? Und was war mit dem St. Ägidius?«

      »Das waren echt viele in den letzten zwei Wochen. Ich muss mir das mal gerade durch den Kopf gehen lassen, wer da alles aus der Seniorenresidenz kam. Also, das waren Heinz Mauer, Gisela Meinerzhagen, Clemens Morus …«, sie zählte die Namen mit den Fingern auf. »Nein, der war aus Daun. Hilde Klassen … Rolf Meuren oder Meuer oder so ähnlich … Ich muss echt nachdenken, das zieht sich ja schon ein paar Tage. Und wir haben so viele Patienten.«

      Frederike stand auf und holte einen Zettel und einen Kugelschreiber. »Schreib die Namen mal auf, dann kannst du dich besser erinnern und kommst nicht so schnell durcheinander.«

      »Typisch Kriminalkommissarin, immer auf der Spur.«

      »Du sollst das doch nicht an die große Glocke hängen«, murrte Frederike. »Die meisten hier wissen nur, dass ich bei der Verwaltung in Düsseldorf gearbeitet habe.«

      »Warum machst du eigentlich so ein Geheimnis daraus? Mordermittlerin – das ist doch was. Da kannst du doch stolz drauf sein«, wunderte sich Angela.

      »Was meinst du, was hier los ist, wenn die das mitbekommen? Dann darf ich meinen Lebensabend damit verbringen, Schauergeschichten aus meinem Job zu erzählen, verschwundene Katzen zu suchen oder bei Ehekrisen zu intervenieren.« Frederike blies die Backen auf. »Ich bin froh, dass ich das hinter mir gelassen habe. Hier habe ich meine Ruhe. Ja, ich schlafe sogar ab und zu mal eine Nacht durch.«

      »Welch ein Luxus!« Angela lachte. »Vielleicht hast du recht. Nachher verlangt man noch von dir, Krimis zu schreiben.«

      »Geh bloß weg! Davon gibt es hier schon viel zu viele. Inzwischen schreibt auch meine Nachbarin Kriminalgeschichten. Wenn die wüsste, dass ich vom Fach bin, hätte ich keine ruhige Minute mehr.« Frederike runzelte die Stirn. »Aber jetzt schreib auf!«

      »Ach herrje, das ist echt schwierig. Die meisten landen ja direkt bei uns in der Pathologie. Ich bekomme die gar nicht zu Gesicht.«

      »Ach, die sterben gar nicht bei euch?«

      »Nein. Die meisten sind über Nacht in ihrem Bett gestorben. Da die Todesursache dann nicht so klar ist, werden die bei uns untersucht. Ich glaube, bei den ersten Fällen hat Frau Dr. Burkhardt noch einfach die Totenscheine ausgestellt. Es ist ja nicht völlig abwegig, dass Menschen über neunzig friedlich einschlafen. Aber inzwischen ist sie hellhörig geworden.«

      Frederikes professionelle Aufmerksamkeit war geweckt.