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Prolog:
Es gibt keine Zufälle
Heute ist der 21. März 2018. Ich liege in einem großen weißen Krankenhauszimmer. Draußen scheint die Sonne, hier drinnen ist es düster. Diesen Geruch von Desinfektionsmitteln und den Anblick meines Rollstuhls kann ich nicht mehr aushalten. Wie ein Gefangener fühle ich mich. Ich bin allein und ich habe Zeit. Zeit, um nachzudenken, um nochmal alles durchzugehen, was in den letzten Wochen passiert ist. Es hat sich so viel verändert, ich muss das jetzt alles einmal aufschreiben, bevor ich es wieder vergesse. Ich wünschte, ich hätte alles festhalten, für immer abspeichern können, jetzt ist sicher schon viel vergessen gegangen. Aber ich werde versuchen, alles so genau wie möglich wiederzugeben.
So richtig fassen kann ich es immer noch nicht. Wir haben unsere geliebte Schwester Elli vor zwei Tagen, am Montag, den 19. März 2018, an ihrem 19. Geburtstag, begraben, nachdem sie mit einem Ultraleichtflugzeug tödlich verunglückt ist. Ich sehe das kleine rote Flugzeug immer noch vor mir. Als Flugzeug war es kaum noch zu erkennen, so tief steckte es im Boden. Hunderte Einsatzkräfte standen auf dem Feld, im leichten Regen. Es herrschte eine bedrückte Stimmung, die Notrakete für den Fallschirm wurde noch nicht ausgelöst und konnte jederzeit explodieren. Eine Polizistin kam auf mich zu und sprach mir ihr herzliches Beileid aus.
Ich habe wieder Krebs. Das Atmen fällt mir schwer, ich fühle mich schwach. Vor etwa viereinhalb Jahren hatte ich schon einmal eine Krebsdiagnose und habe eine Chemotherapie hinter mich gebracht. Eigentlich gilt man nach dieser Zeit als geheilt.
Eigentlich.
Soll ich nochmal diese Chemo machen? Die Chemo, die einen so sehr zerstört und anscheinend doch nicht heilen kann? Ich will lieber bis zum Tod kämpfen, als nochmal dieses Gift verabreicht zu bekommen! Aber dazu später mehr.
Vor ein paar Wochen war in unserem Leben noch alles perfekt. Zumindest sah es so aus und fühlte sich auch so an. Wie schnell kann sich das alles ändern. Wie wenig kann man doch sein Leben planen, wie wenig denkt man darüber nach, was sich alles von einem auf den anderen Tag ändern könnte.
Wir hatten schon immer ein extremes Leben. Wenn ich „wir“ schreibe, meine ich meinen Zwillingsbruder Johannes und mich. Wir machen schon immer alles zusammen. Und wenn wir etwas machen, machen wir es richtig, machen es oft extrem. Meistens machen wir es zu extrem, wie unsere Mutter sagen würde. Halbe Sachen gibt es für uns nicht; wenn wir etwas anfangen oder uns etwas vornehmen, wird es auch zu Ende gebracht. Wir versuchen, für alles eine Lösung zu finden, auch wenn es am Anfang oft unmöglich scheint.
Ich verstehe gar nicht, warum unser Leben so extrem ist. Warum es bei uns immer so steil bergauf, aber auch genauso steil wieder bergab geht. Manchmal wünschte ich mir, es gäbe keins von beidem in meinem Leben, weder das extrem Gute noch das extrem Schlechte. Aber ich möchte auch mit keinem anderen tauschen. Egal, was kommt und egal, was passiert ist. Auch nicht mit jemandem anderen, der keinen Krebs hat und da draußen, hinter diesen dicken Krankenhausmauern, ohne Rollstuhl laufen kann. Auch mit meinem Bruder würde ich nicht tauschen wollen. Für ihn muss es auch hart sein, das alles mitzuerleben, vielleicht sogar noch härter als für mich.
Das Schlimmste ist für mich, wenn ich sehe, dass etwas Schreckliches passiert, ich aber nichts daran ändern kann und hilflos dem Schicksal ausgeliefert bin. Eigentlich gibt es für mich gerade überhaupt keinen Grund zur Hoffnung. Warum hat es gerade mich erwischt?
Was hatte das Schicksal gegen mich, einen zwanzig Jahre alten Jungen, der normalerweise nicht ganz so kreidebleich aussieht wie im Moment, der einfach seine Freiheit genießen will und möglichst viele verrückte Abenteuer sucht?
Eigentlich müsste ich verzweifelt sein, müsste mein Leben keinen Sinn mehr machen.
Aber jetzt gibt es da plötzlich einen Lichtblick. Am Donnerstag vor zwei Wochen hat sich schlagartig alles verändert. Dieses Erlebnis hat mein ganzes Leben auf den Kopf gestellt. Und das, obwohl ich immer noch hier in diesem trostlosen Zimmer liege und alles gerade wie ein einziger Albtraum scheinen müsste.
Was war passiert?
Um das zu verstehen, will ich euch mitnehmen in mein Leben, weit weg von der Kamera. In die Zeit, bevor wir YouTube-Stars wurden – auch wenn ich dieses Wort hasse –, als ich noch nicht ahnen konnte, dass ich einmal so krank werde oder dass meine Schwester so früh sterben muss. Das Leben ist so unvorhersehbar. Ich glaube, das ist eben das Real Life, das „echte Leben“, das man nicht planen kann und das nicht immer so perfekt ist, wie es in den sozialen Medien aussieht.
Aber ich fange wohl besser vorne an …
UNSERE KINDHEIT: VON EINEM EXTREM INS ANDERE
Normal kann ja jeder
Mein Zwillingsbruder Johannes, unsere jüngere Schwester Elli und ich haben uns immer super verstanden. Vor allem Johannes und ich. Als Zwillinge waren wir fast wie eine Person, zumindest haben wir sehr ähnlich gedacht und in fast allen Dingen dieselbe Meinung gehabt. Wenn es Streit oder Ärger gab, haben wir immer zusammengehalten, und wir haben von Anfang an gemeinsam die verrücktesten Ideen umgesetzt.
Wahrscheinlich können nur Zwillinge verstehen, wie schön es ist, immer den besten Freund mit dabei zu haben – und nicht nur irgendeinen Freund, sondern jemanden, dem man zu hundert Prozent vertrauen kann, der den gleichen Geschmack, die gleichen Ideen und die gleichen Ansichten hat wie man selbst. Johannes und ich verstehen uns meistens auch ohne zu reden. In der Schule haben wir unsere eigene Sprache entwickelt beziehungsweise so undeutlich miteinander geredet, dass uns niemand anders verstehen konnte.
Mit unserer Schwester hatten wir auch immer ein sehr gutes Verhältnis. Klar gab es manchmal Streit, besonders, als wir noch jünger waren, aber wir haben uns immer schnell wieder vertragen. Elli war genauso verrückt wie wir, genauso lebensfroh, teilweise sogar noch abenteuerlustiger. Ich glaube, sie hätte sich auch manchmal eine Zwillingsschwester gewünscht, denn bei Meinungsverschiedenheiten stand sie immer allein da, gegen uns beide, und das war sicher nicht immer leicht. Auch wenn es mal Diskussionen mit unseren Eltern gab, hatten Johannes und ich es zusammen natürlich immer leichter. Und auch in der Schule, egal, ob es Klassenkameraden oder Lehrer betraf – wer sich mit einem von uns anlegen wollte, hatte immer direkt uns beide an der Backe. Ganz besonders, wenn es um Regeln ging, die wir nicht verstehen oder akzeptieren konnten.
Nicht nur wir sind extrem, sondern auch unsere Eltern. Extrem religiös, wie ich es immer gesagt habe. Aus unserer Sicht als Kinder ging es bei ihrem Glauben vor allem darum, dass man sich an eine Unmenge strenger und für uns völlig unverständlicher Regeln hält. Das Schlimmste für uns Kinder war es, den „Ruhetag zu heiligen“, was bedeutete, dass wir am Ruhetag absolut gar nichts tun durften, was Spaß machte. Das hat mit der Zeit dazu geführt, dass er für uns zum absoluten Hasstag wurde, einfach weil wir uns zu Tode langweilen mussten und nicht verstanden haben, warum. Und so ging es uns auch mit den meisten anderen Regeln, die bei uns zu Hause galten.
So sind wir genau ins Gegenteil umgeschlagen – haben alles hinterfragt, unser „rebellischer Geist“ wurde schon in der Schule von manchen Lehrern kritisiert. Eigentlich haben wir immer nur darauf geachtet, das zu tun, was uns Spaß macht, und versucht, dabei niemand anderem zu schaden. Alles andere war Nebensache.
Ich muss ganz vorne anfangen. Ganz am Anfang, noch vor YouTube, vor meiner Diagnose, bevor wir von der Schule geflogen sind, noch bevor wir überhaupt zur Schule gegangen sind.
Wir haben