des Landlebens“ verstanden werden. Der Bauer mit eigenem Haus und Feld ist ein „unkontrollierbares“ Wesen. In der Sowjetunion ist auch tatsächlich die „Agrarstadt“ (agrogorod) entstanden. Die Sozialisierung des Agrarsektors durch „Zusammenlegungen“ und Zwangskooperative begünstigt diese Entwicklung.
Punkt zehn: Bei uns finden wir schon allenthalben die Tendenz zur Ganztagsschule, denn die Mütter sollen für einen höheren Lebensstandard und für ihre weibliche „Selbstverwirklichung“ einem Beruf nachgehen. Solche Tendenzen gibt es auch in „bürgerlichen“38) Kreisen. Chruschtschjów hatte den Plan, ab 1980 neunzig Prozent der Sowjetkinder im Alter von sechs Jahren den Eltern wegzunehmen und sie staatlich erziehen zu lassen. (Schon wegen der niedrigen großrussischen Geburtenziffer ist dieser Plan längst fallengelassen worden, denn welches Elternpaar will schon für den Staat allein Kinder produzieren?) Wie man aber sieht, findet man hier im Manifest klassisch linke Pläne, die schon Morelly, Sade und Babeuf gepredigt hatten. Die Kinder gehören eben nicht den Eltern, sondern der Nation!39) Auch soll den Kindern weniger eine geistige und mehr eine praktische („für die materielle Produktion vorbereitende“) Erziehung gegeben werden. Daher auch der Kampf für die Gesamtschule40)) und gegen das (klassische) Gymnasium!
Freilich gibt uns das Manifest keineswegs die ganze marxistische Theorie, aber es zeigt sehr deutlich die Mentalität nicht nur der marxistischen, sondern auch der angeblich „nichtmarxistischen“ Linken. Tatsächlich ist das Hauptwerk des älteren Marx (und das zusätzliche von Engels) nicht viel anderes als eine Intellektualisierung und Rationalisierung des Manifests. Positivismus und Atheismus sind absolute Grundlagen seines Denkens, die auf Comte, Feuerbach und der Umkehrung der Philosophie Hegels beruhen. Als weitere Quellen müssen der französische Sozialismus einschließlich des verachteten Proudhon, der englische Sozialismus (Owen), gewisse Phasen von Ricardo und natürlich auch das ihm übermittelte Bild des Elends der britischen Arbeiterschaft erwähnt werden. Da aber das Vereinte Königreich das am meisten industrialisierte Land Europas war, nahm Marx an, daß alle anderen Länder durch genau denselben Prozeß durchgehen mußten. Das war aber nur sehr zum Teil der Fall. Ein Bücherwurm kann sich eben von der Realität herrlich weit entfernen. Stellen wir hier nur einmal fest, daß Karl Marx seinen Fuß nie in eine Fabrik gesetzt hatte. Von den Arbeitern sprach er stets mit der größten Verachtung, nannte sie „Knoten“ und „Straubinger“. Gerade hierin unterschied er sich, der oft ein Monokel41) trug, radikal von Proudhon.
In seinen Büchern bekommen wir ein volleres Bild seiner Ideen. Nur der erste Band von Das Kapital wurde während seines Lebens veröffentlicht. Die anderen zwei (in manchen Ausgaben drei) wurden von Engels und Kautsky aus dem Material, das Marx hinterlassen hatte, ediert, redigiert und veröffentlicht. Aus den Seiten dieses kritisch-analytischen Werkes kann man eine weitere Konkretisierung der Utopie Marxens eigentlich nicht entnehmen. Das kritische Element war bei Marx weit mehr entwickelt als seine planenden Gaben, denn für das Schöpferische braucht man die Liebe als treibende Kraft, und die fehlte bei Marx. Von allen seinen Theorien über die Übel, Fallen und Gefahren des ‚Kapitalismus‘ (an und für sich ein verfehlter Ausdruck, der mit „freier Marktwirtschaft“ ersetzt werden sollte) ist die Theorie der Konzentrierung und Monopolisierung die einzige, die heute noch ernst genommen werden muß – außer von den Altliberalen, die freilich immer einen Weltmarkt vor Augen haben. (Anders aber die Neuliberalen, die sich vor dem wirtschaftlichen „Kolossalismus“ fürchten.42)) Doch wie uns die Geschichte lehrt, ist die Konzentration ein Problem, das in einem freien Staat und in einer freien Gesellschaft mit Klugheit und nicht bloß mit Strafparagraphen unter Kontrolle gebracht werden kann. (Dafür ist Amerika nicht wirklich als Vorbild zu gebrauchen.) Die Konzentration, der Mammutismus und Kolossalismus sind jedoch wirtschaftliche Grundprinzipien des Sozialismus, der nichts anderes sein kann als ein Staatskapitalismus.43)
Keine andere Prophezeiung Marxens hat sich jedoch bewahrheitet. Marx war wirtschaftsgeschichtlich zu früh geboren und ähnelte daher einem jungen Romanschriftsteller, der Romane über das „Leben“ schreibt, obwohl er nur wieder andere junge Leute kennt. (Hier liegt ein literarisches Privileg des Alters vor: Der Greis mit guter Erinnerungsgabe kann über Kinder und junge Leute, junge Leute aber schwerlich über das hohe Alter schreiben. Sie können es lediglich zu „erraten“ versuchen!) Später in seinem Leben war Marx von der Wichtigkeit der Technik überzeugt, und sie figurierte auch in seinen Berechnungen, aber dieses Element war zu neu, um in den Projektionen gültig verwendet zu werden. (Auch wir wissen herzlich wenig über die gesellschaftspolitischen und wirtschaftlichen Endwirkungen der Computer und der Automation.) Marx war derartig in seinen Theorien eingesponnen, daß er eine ganze Reihe neuer Faktoren übersah, die von der Niederschrift des Manifests bis zu seinem Tod im Jahre 1883 aufgetreten waren. Zwischen seiner brennenden Intellektualität und seinem hassenden Fanatismus eingekeilt, hatte er pseudoreligiöse Visionen. So dichtete er der Geschichte einen unschuldig-paradiesischen Anfang an, gefolgt von einem „Sündenfall“. Dieser bestand in einer bösartigen, egoistischen Kristallisierung zu einer Klassengesellschaft mit Familie, Religion und Staat, belastet mit einem ausbeuterischen Produktionssystem, bis er, der wahre Prophet, mitsamt seinen Jüngern auf der geschichtlichen Bühne auftrat, um die neue Frohbotschaft der Erlösung mit neuen Heiligen Schriften zu predigen. Das Tausendjährige Reich, beginnend mit einer Diktatur des Proletariats, war nicht mehr weit und sollte uns in das verlorene Paradies der glücklichen Urzeit herrschaftsloser Horden in moderner Version zurückführen. Marx war jedoch zu schlau, um das Beispiel der Frühsozialisten nachzuahmen und uns ein präzises Bild dieser Herrlichkeit zu geben. Er verkündete bloß einen „wissenschaftlichen Sozialismus“, und daher war auch Lenin nach der Machtübernahme etwas verloren und beklagte sich über das Fehlen einer weiteren, genaueren Marschroute.
Es ist nicht leicht zu sagen, wen Marx mehr haßte, die Abweichler im sozialistischen Lager, Männer wie Proudhon, Bakunin, Lassalle, oder den gesichtslosen, großen Feind, die „kapitalistische Bourgeoisie“ mit „Schlössern, Equipagen und Millionen von Thalern“. In seinem Kampf gegen beide Seiten wurde er durch seinen farbenreichen Stil unterstützt, dem wir im Kapital auch zahlreiche brillante Seiten und Passagen verdanken. Der wirkliche Marx wird jedoch nur in seinen Gedichten und Briefen echt lebendig, besonders dann, wenn er Gift und Galle gegen seine früheren Freunde, Mitarbeiter und Sympathisanten speit. Tatsächlich wetteiferte er mit Engels in seinen judenfeindlichen Ausfällen gegen Lassalle, wobei er vor allem die physischen Charakteristiken seines erfolgreichen Konkurrenten aufs Korn nahm. Marx verfiel dann in einen Stil, der sich durch nichts von dem Julius Streichers im Stürmer unterschied. Er war überzeugt, daß ein jüdischer Stamm aus Negern bestand und nannte Lassalle deshalb einen „jüdischen Nigger“, doch auch Engels befleißigte sich nicht einer milderen Tonart.44)
Das ist alles nicht so wunderlich, denn in Wirklichkeit und ganz im Gegensatz zu einer weit verbreiteten Meinung besteht zwischen der sozialistischen und jüdischen Mentalität ein innerer Gegensatz, der im Laufe der Zeit immer wieder zum Ausdruck kommt. Als kleine Minderheit innerhalb der christlichen Mehrheit (mit der die Juden heilsgeschichtlich-mystisch verbunden bleiben) haben sie selbstverständlich einen Hang zum einseitig Kritischen, wie er bei jeder religiösen Minderheit zu finden ist. Den Glauben der großen Mehrheit in Frage stellend, betonen diese Minderheiten die Verneinung, was sie natürlich äußerst unpopulär macht, denn nichts geht dem Spießer mehr auf die Nerven als die Kritik, die nicht mit dem bloßen „Raunzen“ oder „Meckern“ zu verwechseln ist. Der echte Kritiker wirkt für ihn „destruktiv“. Wenn aber nun diese kritische Minderheit intellektuell und womöglich auch finanziell erfolgreich ist, wird der bisher schon innerlich unruhige Philister böse. Um das Unglück voll zu machen, kommt dazu die völlig natürliche persönliche Ambition der unter einem gesellschaftlichen Druck stehenden Minderheit.45) Schon ist auch der große Neid der “Überflügelten“ da. Diese Situation ist aber keineswegs einzigartig, denn wir haben so viele andere Parallelfälle: die reichen Reformierten in Frankreich, die Deutschen im alten Rußland, die Armenier und Griechen in der alten Türkei, die Christen im Nahen Osten, die Inder in Afrika, die Viets in Kambodscha und Laos, die Chinesen in Indonesien, die „Neuspanier“ in Mexiko,46) die Japaner und Turcos47) in Brasilien und selbst die Katholiken in den nördlichen Niederlanden.
Wenn auch in der Vergangenheit