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Kursbuch 203


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Monate. Die in den Vereinigten Staaten wie in Europa einsetzende Denkmälerdämmerung, die Kritik an Heldenstatuen für Sklavenhalter und brutale Kolonisatoren, rief einem jene Zeilen in Erinnerung, die Robert Musil am 10. Dezember 1927 in einem Feuilleton in der Prager Presse geschrieben hatte. Er störte sich an der Machart der überlebensgroßen Standbilder und daran, »wie rückständig unsere Denkmalskunst ist, verglichen mit der zeitgenössischen Entwicklung des Anzeigenwesens« (eine bemerkenswert hellsichtige Feststellung). Musil weiter: »Mit einem Wort, auch Denkmäler sollten sich heute, wie wir es alle tun müssen, etwas mehr anstrengen. Ruhig am Wege stehen und sich Blicke schenken lassen, könnte jeder; wir dürfen heute von einem Monument mehr verlangen … Warum greift der in Erz gegossene Held nicht wenigstens zu dem anderwärts längst überholten Mittel, mit dem Finger an eine Glasscheibe zu klopfen? Weshalb drehen sich die Figuren der Marmorgruppe nicht umeinander, wie es bessere Figuren in den Geschäftsauslagen tun, oder klappen wenigstens die Augen auf und zu? Das Mindeste, was man verlangen dürfte, um die Aufmerksamkeit zu erregen, wären bewährte Aufschriften wie ›Goethes Faust ist der beste!‹ oder ›Die dramatischen Ideen des bekannten Lyrikers X. sind die billigsten!‹. Leider wollen das die Bildhauer nicht. Sie verstehen, wie es scheint, nicht unser Zeitalter des Lärms und der Bewegung. Wenn sie einen Herrn in Zivil darstellen, dann sitzt er reglos auf einem Stuhl oder steht da, die Hand zwischen dem zweiten und dritten Knopf seines Rockes, auch hält er zuweilen eine Rolle in der Hand, und es zuckt keine Miene in seinem Gesicht. Er sieht gewöhnlich aus wie die schweren Melancholiker in den Nervenheilanstalten. Wenn die Menschen nicht für Denkmale seelenblind wären und bemerken würden, was oben vorgeht, so müßten sie, wenn sie vorbeikommen, das Gruseln haben wie an den Mauern eines Irrenhauses.«

      Natürlich ist all das mit ironischem Soupçon formuliert. Man kann nur hoffen, dass die Ironie zu Musils Lebzeiten einen besseren Stand hatte als heute, wo ihr Reliktcharakter vor allem in den todernsten sogenannten sozialen Medien (»irony off«) jeden Tag aufs Neue offenbar wird. Man darf davon ausgehen, dass der alte Otto-Gag der Autorengruppe Gernhardt/Eilert/Knorr aus dem Seniorenheim – »›Seid ihr alle da?‹ – ›Jaaaa!‹ – ›Aber nicht mehr lange!‹« – heutzutage als »Altersrassismus« diskutiert werden würde. Es gibt einfach sehr viele »Berufsernstbolde« (Otto Waalkes) unter den Twitterati.

      Ein Lob des Relikts, das in der Rubrik »Brief eines Lesers« erscheint, muss nicht zuletzt natürlich das Überlebsel des Leserbriefs als unbedingt erhaltenswert verteidigen. Bei all dem Hass und der Häme, die sich im digitalen Raum breitmacht, lernt man den vordem als oberlehrerhaft bespöttelten Leserbriefschreiber auf einmal wieder schätzen. Die allermeisten Hörerbriefe, die einen beim Rundfunk erreichen, sind von ausgesuchter Höflichkeit und Klugheit. Man kann dem Philosophen Markus Gabriel nur zustimmen, wenn er in seinem jüngsten Buch Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten. Universale Werte für das 21. Jahrhundert eine Gefahr darin erkennt, »dass moralische Selbstverständlichkeiten wie der Wert des Respekts gegenüber Menschen, die wir (noch) gar nicht kennen, online außer Kraft gesetzt sind. Das beweisen die Kommentarspalten jedes sozialen Mediums genauso wie diejenigen, die von traditionellen Presseportalen freigeschaltet werden. Die Bereitschaft, fremde Menschen zu beschimpfen, ohne irgendeinen Versuch zu unternehmen, sie zu verstehen, ist deutlich höher als bei klassischen Leserbriefformaten, was einfach daran liegt, dass es online keinerlei zeitlichen Abstand und keinen Filter gibt zwischen dem Impuls, seine Meinung zu äußern, und der Möglichkeit, sie umgehend publik zu machen.« Möge also auch dem klassischen Leserbrief sein Überleben, sein »Überlebnis« (Ulla Unseld-Berkéwicz) gesichert sein – nicht nur im Kursbuch.

      Wolfgang Schmidbauer

      Corona erleben

      Ein notwendiger Zwischenruf

      1969 saß ich an meiner Promotion über die psychologische Deutung von Mythen und verdiente meinen Lebensunterhalt als Medizinjournalist. In diesem und im folgenden Jahr forderte eine Influenza-Pandemie, deren Ursprung in Hongkong lag, weltweit mindestens zwei Millionen Todesopfer. In der Bundesrepublik Deutschland starben etwa 40 000 Menschen mehr als sonst. Auf dem Gebiet der DDR schätzte man ebenfalls viele Tausend Opfer. Statistiken darüber lieferte das sozialistische System ebenso wenig, wie es Aussagen über die Suizidrate seiner Bürger traf.

      Kopfschmerzen, Schnupfen, Husten, Schluckbeschwerden und Brustschmerzen waren die ersten Symptome. Das Fieber stieg rasch auf bis zu 40 Grad. Spezifische Medikamente oder einen Impfstoff gab es nicht. Die Krankenhäuser waren überfüllt, die Patienten lagen auf den Gängen, die Weihnachtsferien 1969 wurden verlängert, weil wegen der hohen Krankenzahlen kein geregelter Unterricht möglich war.

      Die Meldungen zur Pandemie blieben im Kleingedruckten. »Katastrophale Lage durch Grippe in den USA«, »Zwölf Millionen Italiener grippekrank« oder »Legt Grippe Trambahn lahm? 490 Fahrer und Schaffner erkrankt« waren damals Randnotizen in der Süddeutschen Zeitung. Sie alarmierten niemanden. Ich nahm an den Redaktionskonferenzen des Ärztemagazins Selecta teil, dessen Mitarbeiter ich war. Für die Grippewelle interessierte sich niemand. Die Themen am Tisch waren die Transplantationschirurgie und die Contergan-Affäre; Grippeviren und die von ihnen verursachte Übersterblichkeit konnten das Interesse der Chefredaktion nicht wecken.

      Ebenso wie die Asiatische Grippe rund zehn Jahre zuvor galt die Hongkong-Grippe nicht als Gefahr, vor der man sich schützen muss, eher als Schicksal, das die Bevölkerung schon irgendwie bewältigen würde. Dass die echte Grippe eine schwere Erkrankung ist, war allgemeines medizinisches Wissen. Es führte aber zu keinerlei Maßnahmen zur Vorbeugung. Die Wirtschaft litt, viele Mitarbeiter waren im Krankenstand, Todesfälle häuften sich. Das wurde hingenommen. Ich kann mich nicht erinnern, dass in der Fachliteratur, die ich zwischen 1960 und 1970 gut kannte, auch nur ein Autor davon gesprochen hätte, dass es sinnvoll sein könnte, in der Öffentlichkeit eine »chirurgische« Maske zu tragen. Ihr Ort war der Operationssaal, draußen hatte sie nichts zu suchen.

      Angesichts der Corona-Pandemie knapp 50 Jahre später ist alles anders. Während die früheren Epidemien als »Wellen« angesprochen wurden (und damit ein Naturphänomen imaginiert wird), beherrscht jetzt eine (Corona-)»Krise« über Monate hin alle Medien – führende Politiker bemühen gar Kriegsrhetorik. Ansteckungen und Todesfälle wurden 1969/70 geschätzt und nachträglich aus dem Vergleich mit dem Durchschnitt der Todesfälle objektiviert. Jetzt werden Infektionen und Todesfälle von Anfang an gezählt; alle Länder, die Statistiken liefern, werden verglichen. Die internationale Aufmerksamkeit für diese Vergleiche lässt sich durchaus mit der für den Medaillenspiegel der Olympischen Spiele vergleichen – die wegen der Pandemie aber abgesagt wurden. Auch das wäre in den 60ern undenkbar gewesen.

      Während die früheren Grippewellen in ihrer durchaus gravierenden Bedrohung erfolgreich verdrängt werden konnten, ist 2020 die Verdrängungsdecke gerissen. Jetzt diskutieren wir, ob wir in die Welt »vor Corona« zurückkehren können – und ob wir das überhaupt wollen.

      Die wissenschaftlichen – und zum Teil umstrittenen – Kritiker und Kritikerinnen des Lockdowns wie Wolfgang Wodarg, Karin Mölling und Sucharit Bhakdi hatten die Zeit der epidemischen »Wellen« noch miterlebt. Die jüngeren Forscher, die im Verlauf der »Krise« sehr populär wurden, waren zur Zeit der Hongkong-Grippe noch nicht geboren (Christian Drosten etwa ist Jahrgang 1972). Die Vertreter des »neuen« Umgangs stehen im Zenit ihrer Karriere, Mölling und Bhakdi sind emeritiert.

      Vom Fatalismus zur Erregung

      Die Haltung der Ärzte wie der Bürger blieb 1970 fatalistisch. Sie lässt sich so zusammenfassen: Gegen Viren kann man wenig machen. Die körpereigene Abwehr der Gesunden reicht aus, um die Infektion zu überleben. Die Opfer unter den