Kevin Müller

Schreiben und Lesen im Altisländischen


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15 Mal, während das Verb rísta ‚ritzen‘ mit 78 Belegen und das 14 Mal belegte schwache synonyme Pendant rista deutlich überwiegen. Nur vereinzelt kommen die Verben gera ‚machen‘, skrifa ‚schreiben‘, penta ‚malen‘, marka ‚markieren, kennzeichnen‘, berja ‚schlagen‘ und hǫggva ‚hauen‘ vor, während das schwache Verb rita gar nicht belegt ist. Die weniger häufige Verwendung der Verben ríta und skrifa hängen wahrscheinlich mit der lateinischen Schriftkultur zusammen, denn Spurkland vermutet, dass urnord. *wrītan bzw. anord. ríta als Verb für das Runenschreiben im Norden verschwindet und durch andere Verben wie rísta ersetzt wird. Hingegen etabliert sich ríta als Terminus in der lateinischen Schriftkultur, beeinflusst durch das aengl. wrītan, weil die Britischen Inseln die westnordische Schriftkultur in der Anfangszeit wesentlich prägten. Daneben breitet sich auch das schwach konjugierte Pendant rita aus. Das Verb skrifa ist aus dem Mittelniederdeutschen entlehnt und noch im 13. Jahrhundert nur vereinzelt belegt, im 14. Jahrhundert hingegen schon wesentlich häufiger. Je nach Schriftsystem werden also in norwegischen Runeninschriften unterschiedliche Verben verwendet, für das Ritzen von Runen vor allem rísta und rista und für das Schreiben lateinischer Buchstaben ríta, rita und skrifa. Eine ähnliche lexikalische Differenzierung zwischen ráða und lesa gibt es für das Dekodieren der beiden Schriftsysteme (vgl. Kap. III.1.). Spurkland (2004: 334f.) stellt zwei Arten von Schriftlichkeit fest, die sich sprachlich, schriftlich und materiell unterscheiden. Die lateinische Schriftlichkeit ist nicht nur an das lateinische Alphabet, sondern auch an die lateinische Sprache gebunden, sowie an Feder, Tinte und Pergament. Es gibt aber durchaus Ausnahmen wie die in Runen geschriebene, altnordische Pergamenthandschrift Codex Runicus (AM 28, 8vo), oder Runeninschriften in lateinischer Sprache. Um die runische Schriftlichkeit von der lateinischen unterscheiden zu können, kreiert Spurkland (2004: 340f.) analog zu literacy den Terminus runacy. Das Verhältnis von Schreiben und Verfassen bezieht Spurkland in sein Modell nicht mit ein.

      Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich der altnorwegische Wortschatz entlang dieser beiden Schriftlichkeiten sprachlich, materiell und schriftlich unterscheidet, wobei es zahlreiche Schnittmengen im Wortschatz und auch im Gebrauch der Schriftsysteme gibt. Trotzdem lassen sich eine stereotype literacy und runacy als Ausgangspunkt nehmen.

      Bei der Erforschung des Schreibens im lateinischen Alphabet ist vor allem die Autorschaft der Texte von Interesse. Lönnroth (1964: 58, 84) beschäftigt sich im Zusammenhang der Schreiber- und Verfassertätigkeit isländischer Laien auch mit dem Wortschatz des Schreibens in verschiedenen Quellen, v.a. in Prologen und der Sturlunga saga. Wie im Lateinischen lässt sich der Wortschatz im Altisländischen in zwei Gruppen, Schreiben und Verfassen, einteilen. Zu ersterer zählt Lönnroth die Verben rita, ríta und skrifa, auf deren möglichen Bedeutungsunterschiede er nicht näher eingeht. Rita kommt zudem in der Kausativkonstruktion láta rita ‚schreiben lassen; etwas Geschriebenes in Auftrag geben‘ vor, deren Subjekt der Auftraggeber (beställare) ist. Dieser Auftrag wurde dann von einem oder mehreren Schreibern ausgeführt, wofür Lönnroth (1964: 54, 58, 84) zahlreiche Beispiele nennt. Zudem ist rita im Briefverkehr synonym mit senda ‚senden‘, d.h. es erfährt eine metonymische Verschiebung und darf nicht als ‚aufschreiben‘ verstanden werden. Die Verben der letzteren Gruppe unterscheiden sich semantisch voneinander: setja saman entspricht dem lateinischen componere und steht für die kompilatorische und redaktionelle Tätigkeit, während dikta in den ältesten Belegen ‚vorschreiben‘ später ‚verfassen, stilistisch ausformen‘ bedeutet und somit semantisch lat. dictare entspricht (vgl. Lönnroth 1964: 17). Von dictare ist auch segja fyrir beeinflusst und bedeutet einerseits ‚bestimmen, vorschreiben‘, andererseits ‚diktieren, verfassen‘, wobei es schwierig zu entscheiden ist, welche dieser beiden Bedeutungen in den einzelnen Belegen zutrifft (vgl. Lönnroth 1964: 18, 59, 82). Dies ist bei Quellenbelegen zur Autorentätigkeit gerade entscheidend, denn bei der Bedeutung ‚bestimmen, vorschreiben‘ wäre das Subjekt von segja fyrir der Auftraggeber und nur bei ‚diktieren, verfassen‘ der Autor.

      Einen expliziten „semantic approach“ wagt Steblin-Kamenskij (1966: 24–28) bei der Untersuchung des altnordischen Autorenbegriffs, in dessen Rahmen er sich auch mit der Bedeutung der altnordischen Verben des Schreibens auseinandersetzt. Dabei stützt er sich hauptsächlich auf Wörterbücher und einzelne Belege. Er unterscheidet zwar zwischen den Konzepten SCHREIBEN und VERFASSEN, überträgt diese aber zu wenig konsequent ins Englische, so dass bei der Verwendung von write nicht in allen Fällen klar ist, ob es sich um ‚aufschreiben‘ oder ‚verfassen‘ handelt. Obwohl er das mittelalterliche Schreiben als scribal activity versteht, übersetzt er setja saman als writing und compiling, so dass auch da unklar bleibt, ob das Subjekt von setja saman ein Schreiber oder Verfasser ist. Zu write zählt er die Verben rita (ríta), skrifa, setja saman, setja á bók, samsetja. Segja fyrir, sitja yfir, ráða fyrir und láta rita identifiziert er mit dictate und compose. Das Verb dikta verengt er auf Latin composition. Setja saman scheint hingegen eine engere Bedeutung ‚kompilieren‘ zu haben und dikta ‚verfassen auf Latein‘.

      Auf Steblin-Kamenskijs Untersuchung stützt sich Tómasson (1988: 181–184) in seiner Arbeit zu den Prologen isländischer Sagaschreiber (formálar íslenskra sagnaritara) im Kapitel zur „Arbeit oder Schöpfung“ (vinna eða sköpun) dieser Sagaschreiber. Er stellt darin fest, dass der Grenzraum zwischen Schreiber und Kompilator dünn sei. Zu einem ähnlichen Schluss kommt Würth (2007) in ihrer Untersuchung zu mittelalterlichen Übersetzungen ins Altnordische, nämlich dass je nach Situation Teile wörtlich übersetzt, andere geändert wurden. Sie bezeichnet diese Arbeitsweise als Patchwork-Produktion. Dies entspricht im Übrigen dem mittelalterlichen Kopierverständnis, bei dem keine vollständige und exakte Abschrift angestrebt wurde (vgl. Ludwig 2005: 85). Vermutlich wurden die vier Rollen Bonaventuras auch gar nicht so klar getrennt. Dies bedeutet natürlich nicht, dass diese verschiedenen Arbeitsweisen nicht lexikalisch unterschieden wurden, was ebenfalls die oben erwähnte Paarformel scribat et dictat demonstriert.

      Es lässt sich so weit festhalten, dass zu den bei Spurkland (1994, 2004) schon erwähnten Verben rita, ríta und skrifa, welche wahrscheinlich für Aufschreiben (lat. scribere) stehen, bei Lönnroth (1964) und Steblin-Kamenskij (1966) verschiedene Verben für das Verfassen wie dikta, segja fyrir und setja saman hinzukommen, welche semantisch weitgehend mit lat. dictare übereinstimmen. Dabei steht setja saman wahrscheinlich für die Tätigkeit von Bonaventuras compilator und dikta für die elocutio in der Rhetorik.

      Auch die jüngste Forschung beschäftigt die Frage der Autorschaft in der altnordischen Literatur und der damit verbundene Wortschatz des Verfassens, wie folgende beide Aufsätze zeigen: Tómasson (2012: 240) unterscheidet zwischen Verfassen von Versen mit dem oben schon erwähnten Verb yrkja und teilweise metaphorisch smíða ‚schmieden‘, sowie von Prosa mit den Verben semja ‚verfassen‘, gera ‚machen‘ und setja saman ‚kompilieren‘. Gera wird aber durchaus für Skaldenstrophen verwendet (vgl. Mundal 2012: 217). Im Prolog der Íslendingabók verwendet Ari inn fróði das Verb gera für sein Werk, dessen Verfasser und Schreiber er ist, so dass gera beide Tätigkeiten abdeckt (vgl. Tómasson 2012: 243) und somit ein Hyperonym darstellt. Auf Verben wie rita und skrifa, welche ebenfalls in diesen Prologen vorkommen, geht Tómasson nicht näher ein. Mundal (2012: 222f.) präsentiert für setja saman drei Lesarten: 1. „to describe composition at the oral stage“, 2. „to describe the work of the original author“ und 3. „about the rewriting process“. Diese Dreiteilung ist allerdings problematisch, weil Mundals Lesarten zu sehr vom Kontext der Einzelbelege abhängen. Das orale Verfassen deutet Mundal anhand eines Belegs aus der Þorgils saga ok Hafliða, einem Teil der Sturlunga saga, der nur in frühneuzeitlichen Abschriften erhalten ist. Die Szene handelt zwar im Jahre 1119, als noch keine Sagas aufgeschrieben worden waren, aber die Kompilation ist um 1300 entstanden, so dass bei setja saman ein Verfassen in