Kevin Müller

Schreiben und Lesen im Altisländischen


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sie aus einem Beleg aus der Flateyjarbók interpretiert hat. Auch die dritte Lesart ist lediglich ein Aspekt des Kompilierens, indem Textteile neu zusammengesetzt werden. Auf die Bedeutungen der Verben rita und skrifa wie auch segja fyrir, die ebenfalls in einem zitierten Prolog der Sverris saga vorkommen, geht Mundal (2012: 222, 224) wie Tómasson nicht näher ein. Beide Aufsätze argumentieren hauptsächlich mit Einzelbelegen, ohne deren unterschiedliche, zeitliche und handschriftliche Kontexte zu berücksichtigen. Gerade die prominenten Prologe der Íslendingabók und Hungrvaka sind nur in frühneuzeitlichen Handschriften erhalten. Bei der Analyse von Einzelbelegen muss auch die Frage berücksichtigt werden, ob deren Bedeutung überhaupt konventionell ist. Gerade im Fall von setja saman trifft Tómassons Lesart, die auch mit jener Lönnroths übereinstimmt, in allen drei von Mundal erwähnten Belegen zu. Diese Prologe und Einzelbelege sind zwar wichtige Quellen für die mittelalterliche Schriftlichkeit, aber für die linguistische Analyse des Wortschatzes problematisch. Auch der Vergleich mit Lönnroths Resultaten zeigt, dass Unterschiede in den untersuchten Wortfeldern und Texten bestehen.

      In meiner Lizentiatsarbeit habe ich die Terminologie der Schriftlichkeit in der Sturlunga saga untersucht; ein Teil der Ergebnisse wurde in einem Artikel zum Schreiben und Lesen in der Sturlunga saga publiziert (vgl. Müller 2018). Im Gegensatz zur obigen Forschung ist dies erstmals eine Analyse im Rahmen eines Textkorpus, in welchem neben der Mehrheit der oben besprochenen Verben (gera, rita, rísta, ríta, segja fyrir, setja saman) noch ein weiteres dazukommt: skrásetja. Das Verb ríta ist nur zweimal sicher als Partizip Perfekt in den expliziten Textverknüpfungen sem fyrr var ritit ‚wie vorher geschrieben wurde‘ belegt (vgl. Müller 2018: 146). Da diese Textverknüpfungen in der Handschrift auf eine in der lateinischen Schrift geschriebene Textpassage verweisen, können bei ríta Runen sicher ausgeschlossen werden. Ausserdem handelt es sich um Aufschreiben bzw. Abschreiben, da der Nebensatz auf das vorher Geschriebene in der Handschrift verweist. Beim einmal belegten Verb rísta ist die Situation weniger klar, weil das Schriftsystem nicht explizit genannt ist. Es handelt sich um eine in der Saga zitierte altisländische Strophe (vísa) auf einem Holzstäbchen (kefli), so dass das Verb materiell und sprachlich sicher auf die runacy verweist (vgl. Müller 2018: 151). Beim häufig belegten rita fragt sich, ob es in einem spätmittelalterlichen Text bereits die Komponente VERFASSEN in der Bedeutung enthält. Wie die beiden Belege von ríta kommen auch die meisten Belege von rita in den expliziten Textverknüpfungen sem fyrr var ritat vor, weshalb dieses Verb mit ríta synonym angesehen werden kann und auf etwas in lateinischen Buchstaben Geschriebenes verweist. Weitere Belege kommen in Kommentaren zu Auslassungen vor, d.h. rita verweist darauf, was in der vorliegenden Handschrift nicht (mehr) schriftlich festgehalten ist, und bedeutet ebenfalls ‚aufschreiben‘ oder ‚abschreiben‘ (vgl. Müller 2018: 146f.). Auch die Belege im sogenannten Prolog verweisen auf die Sagas, die tatsächlich schriftlich festgehalten sind. In der Erzählung der einzelnen Sagas kommt rita dagegen nicht so häufig vor. In drei Belegen ist das Verb Teil der Kausativkonstruktion láta rita/ríta ‚(auf-/ab-)schreiben lassen‘, die auch Lönnroth (1964) und Steblin-Kamenskij (1966) schon erwähnt haben und deren Subjekt Mitglieder der Sturlungenfamilie sind, während die Schreiber unbekannt bleiben. Wie stark das Subjekt in den Schreibprozess integriert war, bleibt offen. Weitere drei Belege haben eine Ergänzung mit der Präposition til, welche auf schriftliche Korrespondenz verweist. Hier ist das Subjekt wahrscheinlich nicht der Schreiber, sondern lediglich der Absender (vgl. Müller 2018: 147–150). Auch dies stimmt mit Lönnroths (1964) Feststellung überein, dass rita in der Korrespondenz synonym mit senda ‚senden‘ ist. Er geht aber nicht näher auf die Valenz von rita ein. Zwei weitere Belege sind schwierig zu interpretieren. Beim einen Beleg verweist rita auf die Schreibarbeit eines Priesters und beim anderen geht es um einen Eintrag in ein Jahrzeitbuch, wo das Subjekt wohl den Eintrag tatsächlich selbst verfasste und schrieb. Die Komponente VERFASSEN kann also nicht bei allen Belegen sicher ausgeschlossen werden (vgl. Müller 2018: 148f.). Die Analyse zeigt, dass die Bedeutung von den unterschiedlichen Valenzen abhängt: Bei láta rita, handelt es sich wohl um Auf- bzw. Abschreiben im Rahmen eines Auftrags oder Diktats, bei rita til um das Versenden eines Briefes, dessen Schreiber nicht mit dem Absender identisch sein muss.

      Schwierig von rita abzugrenzen, sind die beiden Belege von skrásetja mit der wörtlichen Bedeutung ‚aufs Pergament setzen‘, das vermutlich ‚in einer Liste aufschreiben‘ bedeutet. In der Bildung ähnlich und ebenfalls schwer von rita zu unterscheiden, sind die Kollokationen gera bók bzw. bréf mit der wörtlichen Bedeutung ‚ein Buch bzw. einen Brief machen‘ (vgl. Müller 2018: 150–152). Laut Tómasson (2012) vereint gera im Prolog der Íslendingabók die Konzepte SCHREIBEN und VERFASSEN, was in der Sturlunga saga im Falle von gera bók tatsächlich zutreffen könnte, da das Subjekt der Kollokation vermutlich Verfasser und Schreiber des Buches war. Dies könnte darüber hinaus auch für gera bréf gelten.

      Das Verb segja fyrir, welches nur einmal im sogenannten Prolog belegt ist, stellt die semantische altisländische Entsprechung des lateinischen dictare dar, da es zum einen ‚vorsagen, befehlen‘ bedeutet, zum anderen im Kontext des Beleges sowohl ‚diktieren‘ als auch ‚verfassen‘ meinen kann. Weil es sich hier lediglich um einen Einzelbeleg handelt, fragt sich, ob ‚diktieren, verfassen‘ eine konventionelle Bedeutung von segja fyrir ist (vgl. Müller 2018: 153f.).

      Mehrfach belegt ist das Verb setja saman ‚zusammensetzen‘, das wohl eine Lehnübersetzung des lateinischen componere ‚zusammensetzen; verfassen‘ ist (vgl. Müller 2018: 153). Die zweite Lesart ‚verfassen‘ passt auch in die Kontexte der Sturlunga saga. Es bleibt jedoch auch hier offen, wie stark das Subjekt von setja saman in den Prozess des Verfassens integriert war. Ein Massstab wäre die Dreiteilung der klassischen Rhetorik, ein anderer eine oder mehrere von Bonaventuras Rollen.

      Die Sprache der Sturlunga saga unterscheidet ähnlich wie das Lateinische in ein konkretes Auf- bzw. Abschreiben (rita, ríta) und ein rhetorisches Verfassen (setja saman, segja fyrir), wobei nicht ganz klar ist, ob die Subjekte die Kriterien eines auctor oder compilator erfüllen. Der eine Beleg von rísta deutet darauf hin, dass in der Sturlunga saga zwischen Spurklands runacy und literacy unterschieden wurde, so dass rita und ríta im Besonderen ‚mit lateinischen Buchstaben auf Pergament auf- und abschreiben‘ bedeuten, rísta hingegen auf das epigraphische, möglicherweise runische Schreiben bezogen sein konnte. Ins Wortfeld schwierig einzuordnen sind die vereinzelt belegten Verben skrásetja und gera. Ersteres ist wohl ein Hyponym zu rita/ríta, da es ‚auflisten‘ bedeutet, letzteres umfasst als Hyperonym die Akte Schreiben und Verfassen. Die vielen Belege von rita zeigen, dass die Bedeutung von der Valenz abhängt, so dass eine Dichotomie von Verfassen und Aufschreiben zu kurz greift und der Polysemie des Verbs nicht gerecht wird.

      Die hier vorgestellte Untersuchung in einem Textkorpus zeigt, dass die meisten der bisher erforschten Lexeme darin vorkommen und dass sie mit der Wortfeldtheorie systematisch verglichen werden können. Jedoch kommt auch eine grosse Kompilation wie die Sturlunga saga an ihre Grenzen. Dies äussert sich darin, dass gewisse Lexeme nur vereinzelt belegt sind, was deren Analyse erschwert. Das Lexikon muss also in einem noch umfassenderen Korpus analysiert werden. Ausserdem ist ein anderer theoretischer Ansatz nötig, weil die Wortfeldtheorie und Komponentialsemantik an ihre wohlbekannten Grenzen stossen. Die Bedeutung ist zu komplex, als dass sie in binäre Komponenten zerlegt und in ein zweidimensionales Gefüge eingeordnet werden könnte. Von diesem Entweder-oder ist auch die bisher diskutierte Forschung geprägt, deren Dichotomie von Schreiben und Verfassen vor allem vom Medienwandel von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit geprägt begründet ist.

      Neuere Arbeiten haben diese Perspektive allerdings geöffnet. Glauser (2010) beispielsweise bezieht in seiner Untersuchung des Schrift- und Medienbewusstseins in den Prologen verschiedener altisländischer Werke Aspekte der mittelalterlichen Schriftlichkeit mit ein, welche über die Dichotomie von Mündlichkeit und Schriftlichkeit hinausgehen. Einige dieser Aspekte nennt schon Porzig (1973/1934: 83) in seiner Definition von schreiben