Kevin Müller

Schreiben und Lesen im Altisländischen


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und stammen aus demselben Kapitel VII, das von Jóns Weihe zum Bischof handelt. Weil sich herausstellt, dass Jón schon einmal verheiratet war, braucht er einen Dispens des Papstes, um zum Bischof geweiht werden zu können. Der Erzbischof von Lund sagt zu Jón: e) „ok ver mvnvm rita með þer með vorv innsigli oc tia pafvanvm þitt mal“ (JSH 14f.). ‚Und wir werden dir ein Schreiben mit unserem Siegel mitgeben und dem Papst deine Angelegenheit darlegen‘ (Übers. KM). Subjekt und Agens ist der Erzbischof von Lund. Dieser wäre folglich der SCHREIBER, allerdings hatten Erzbischöfe Sekretäre, welche die Aufgabe des Schreibens übernahmen (vgl. Ludwig 2005: 150–52), so dass das Agens eher für ein Attribut AUFTRAGGEBER oder ABSENDER steht. Ein Akkusativobjekt fehlt. Im selben Satz ist das Verb tjá ‚darlegen‘ enthalten mit dem Substantiv mál ‚Angelegenheit‘ im Akkusativobjekt, das als Wert für den INHALT stehen könnte, und dem Lexem páfi ‚Papst‘ im Dativobjekt für den EMPFÄNGER. Rita/ríta hat bei diesem Beleg noch zwei weitere Ergänzungen, die Präpositionalobjekte með váru innsigli ‚mit unserem Siegel‘ und með þér ‚mit dir‘. Das Personalpronomen in letzterem verweist auf Jón, welcher den Brief dem Papst überbringt und damit Bote ist. Daraus erfolgt ein neues Attribut BOTE mit dem Wert Jón. Das Siegel ist ein Meronym des SCHRIFTTRÄGERS, der aber eine Leerstelle bildet. Bei innsigli handelt es sich nicht um einen Wert, sondern bezeichnet ein weiteres Attribut SIEGEL. Das Possessivpronomen várr ‚unser‘ determiniert dieses und verweist auf den ABSENDER zurück. Der Wert von SIEGEL ist demzufolge Siegel des Erzbischofs. Der SCHRIFTTRÄGER oder das SKRIPT rit ‚Schreiben, Schriftstück, Brief‘ (Baetke 2002: 503) wird erst bekannt gegeben, als Jón vor dem Papst steht, wo rita bereits ein weiteres Mal eindeutig belegt ist:

      f) Ok er *pafvi hafði seeð ritið. þaa veitir hann þat þeckiliga er hann var litillatliga beðin […] ok ritar til hans með sinv innsigli ok gefR honvm leyfvi aa at vigia hinn helga Ion til byskvps (JSH 15).

      Und als der Papst das Schreiben gesehen hatte, gewährt er es nachsichtig, worum er demütig gebeten wurde […] und schreibt an ihn [= Erzbischof] mit seinem Siegel und gibt ihm die Erlaubnis, den heiligen Jón zum Bischof zu weihen (Übers. KM).

      Subjekt ist der Papst (páfi) und aus den gleichen Gründen wie oben eher ABSENDER als SCHREIBER. Das Akkusativobjekt bleibt wiederum leer, hinzukommt aber das Präpositionalobjekt til hans ‚zu ihm‘, welches wieder auf den EMPFÄNGER des Schreibens, den Erzbischof von Lund referiert. Der INHALT des Schreibens wird wiederum im nachfolgenden Satz paraphrasiert. Das SIEGEL ist ebenfalls in einem Präpositionalobjekt mit með enthalten, determiniert durch das reflexive Possessivpronomen sinn, welches auch bei diesem Beleg auf den ABSENDER páfi zurückverweist, so dass der Wert Siegel des Papstes lautet. Der SCHRIFTTRÄGER bzw. das SKRIPT bréf wird wiederum erst erwähnt, als der BOTE Jón in Lund ankommt (vgl. JSH 15). Die Rollenverteilung unterscheidet sich in diesem Kapitel deutlich von den ersten drei Belegen: Das Agens steht für den ABSENDER. Der geistliche Rang der Person stellt einen Constraint dar, weil ranghohe Geistliche zwar schreiben können, aber über Sekretäre verfügen, welche diese Aufgabe übernehmen. Das leere Thema ist hier möglicherweise das Attribut BOTSCHAFT mit dem Wert mál. Es ist in der Korrespondenz besser von Botschaft zu sprechen als von Inhalt. Im Brieftext ist tatsächlich ein Inhalt festgehalten, jedoch geht es in der Korrespondenz primär um das Mitteilen einer Botschaft in schriftlicher Form. Der SCHRIFTTRÄGER bildet eine Leerstelle, ist aber aus dem Kontext bekannt, mit den Werten rit und bréf. Der EMPFÄNGER ist in der Ergänzung til e-s oder im Dativobjekt enthalten mit den Werten páfi und erkibiskup. Die Ergänzung til e-s erwähnt auch Baetke (2002: 503) für die Korrespondenz. Ausserdem gibt es die Attribute BOTE und SIEGEL im Objekt með e-m bzw. e-u. Die unterschiedliche Konstellation von Attributen hängt mit der Korrespondenz zusammen, worauf insbesondere die Attribute BOTE, EMPFÄNGER und SIEGEL hinweisen. Bei der Korrespondenz ist Schreiben nur eine von mehreren Handlungen. Darauf weisen auch Fillmore/Atkins (1992: 100f.) bei nengl. write to someone hin. Es handelt sich demzufolge um eine Synekdoche.

      Der letzte Beleg von rita ist etwas schwieriger zu analysieren, weil es nur eine Ergänzung hat: g) „þat var hinna ellri manna hattR at kenna hinvm yngrvm. En hinir yngri ritvðv þaa er nams varð imilli“ (JSH 21). ‚Es war die Art der Älteren, die Jüngeren zu unterrichten. Die Jüngeren schrieben neben dem Unterricht‘ (Übers. KM). Diese Ergänzung ist das Subjekt hinir yngri ‚die Jüngeren‘, hier wahrscheinlich wieder Wert des Attributs SCHREIBER. Das Adjektiv yngri bezieht sich auf das vorher genannte „menn til læringar“ (JSH 21) ‚Leute zum Unterrichten‘, wodurch ein neues Attribut, der ZWECK ins Spiel kommt, das aber keine Ergänzung von rita ist. Das Schreiben ist bei diesem Beleg Teil der Ausbildung. Darauf verweist auch das im abhängigen Temporalsatz enthaltene mit læring ‚(geistliche) Unterweisung, Unterricht‘ (vgl. Baetke 2002: 397) synonyme Lexem nám ‚Unterricht, Lehre‘ (vgl. Baetke 2002: 437). Die Attribute SCHRIFTTRÄGER und INHALT bleiben leer. Ihre Werte lassen sich jedoch über Constraints inferieren, weil im Rahmen des geistlichen Unterrichts bestimmte Texte abgeschrieben wurden. Der unerfahrene Schüler beschränkt wohl auch die Qualität des Skripts.

      Das Verb rita hat in der S-Redaktion folglich zwei Frames:

      1 Den Schreibframe evozieren die Konstruktionen rita e-t e-m und rita e-t á e-u. Erstere referiert auf die Attribute SCHREIBER (ritari) als Agens mit den Werten prestr und djákni, AUFTRAGGEBER als Dativ mit dem Wert prestr und SKRIPT als Thema mit dem Wert bók. Nicht zu vergessen ist die QUALITÄT als Adverb mit dem Wert vel. Letztere wiedergibt die Attribute SCHREIBER, der wegen des einzigen Belegs im Passiv eine Leerstelle bildet, INHALT als Thema mit dem Wert atburðr und SCHRIFTTRÄGER als Ort mit dem Wert bók. Da die beiden Konstruktionen zwei verschiedene Attribute verbinden, ergeben sich unterschiedliche Konzepte: rita e-t e-m bedeutet ‚ein Skript für jemanden erstellen‘ und rita e-t á e-u ‚etwas auf einem Schriftträger festhalten‘.

      2 Die Konstruktionen rita með e-m / með innsigli sínu / til e-s evozieren hingegen den Korrespondenzframe, welcher aus den Attributen ABSENDER als Agens mit den Werten erkibiskup und páfi, EMPFÄNGER als Ziel (til e-s) mit dem Werten erkibiskup, BOTE (með e-m) mit dem Wert Jón und dem SIEGEL (innsigli). Unsicher sind die BOTSCHAFT mál als Thema und der EMPFÄNGER páfi als Dativ. INHALT und SCHRIFTTRÄGER sind Leerstellen, die sich mithilfe des Kontexts füllen lassen. Für letzteren gibt es die Werte bréf und rit, für ersteren gibt es keine Lexeme als Werte, sondern Sätze. Der SCHREIBER bildet in beiden Belegen eine Leerstelle. Auch für diese Konstruktionen gibt es unterschiedliche Konzepte: rita með e-m bedeutet ‚jemandem einen Brief mitgeben‘, með innsigli e-s ‚einen Brief mit seinem Siegel ausstellen‘ und rita til e-s ‚jemandem schreiben, d.h. einen Brief senden‘.

      3.1.2. L-Redaktion

      Die obige Unterrichtsszene (s. Kap. II.3.1.1.g.) kommt auch in der L-Redaktion vor: a) „sumir laasv heil<a>gar Ritningar. sumir Rituðu. sumir sungv Sumir naamu. sumir kenðu“ (JSH 87). ‚Einige lasen die Heilige Schrift, einige schrieben, einige sangen, einige lernten, einige lehrten‘ (Übers. KM). Hier hat das Verb rita ebenfalls nur eine Ergänzung, das Subjekt, das durch das Indefinitpronomen sumir ‚einige‘ (vgl. Baetke 2002: 618) besetzt ist, welches sich entweder allgemein auf die Geistlichen in Hólar bezieht oder auf das vorher genannte menn til kenslu ‚Leute zur Unterweisung‘. Somit ist wiederum der ZWECK erwähnt mit dem Wert kensla ‚Unterweisung, Unterricht‘ (vgl. Baetke 2002: 323), einem Synonym zu den in der S-Redaktion erwähnten Substantiven nám und læring. Sowohl der ZWECK kensla als auch die Schüler als Agens schränken die Inhalte, Skripte und Schriftträger ein. Schreiben wird hier neben anderen Tätigkeiten wie Lesen, Singen, Lernen und Lehren aufgeführt, die typisch für den geistlichen Alltag sind, so dass auch die Abschreibetätigkeit von Geistlichen als Gottesdienst und zum Zwecke der Buchproduktion gemeint sein könnte. Von diesen Verben hat allein lesa ‚lesen‘ ein Akkusativobjekt, nämlich heilagar ritningar