Kevin Müller

Schreiben und Lesen im Altisländischen


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obige Annahme, dass es sich um Teamwork handelte.

      Es sind also die Bestandteile der Erzählung, welche der Autor oder Kompilator zusammenfügt und entweder von ihm selbst niedergeschrieben wird oder von einem Schreiber. Es kann bei diesem Beleg wegen des Pronomens im Plural nicht sicher entschieden werden, welchen Wert das Attribut SCHREIBER hat. Es bleibt auch unklar, in welcher Form diese Teile an den Schreiber gelangen, als Diktat oder als Notiz auf einer Wachstafel, wenn der Autor nicht aus seinem Gedächtnis schreibt. Es kann sich um die Teile des INHALTES, welche aufgeschrieben werden, oder auch des SKRIPTES handeln, welche abgeschrieben werden. Der SCHRIFTTRÄGER ist zwar eine Leerstelle, ergibt sich aber aus der Situation, da das Skript der Saga in einem handschriftlichen Kodex vorliegt.

      Neben dem Akkusativobjekt hat rita noch eine weitere Ergänzung, welche bisher noch nicht vorgekommen ist, das Präpositionalobjekt eptir því mit einem Relativsatz. Die Präposition eptir ‚übereinstimmend mit, entsprechend, nach; nach dem Vorbild von, in Anlehnung an‘ (vgl. Baetke 2002: 113) weist daraufhin, nach welchem Vorbild die Bestandteile (hlutir) zusammengesetzt und aufgeschrieben wurden, nämlich dem Bericht verständiger Leute. Somit gibt es ein neues Attribut QUELLE, deren Wert nicht auf ein Lexem reduziert werden kann, weil hier diverse Attribute eines Attributframes vorkommen, die nur postuliert werden können, wie AUTORITÄT, auf welche die Adjektive rǫksamligr ‚zuverlässig‘ und skilríkr ‚verständig‘ referieren, TEXT mit dem Wert frásǫgn ‚Erzählung‘, wobei nicht entschieden kann, ob dieser schriftlich oder mündlich ist, und AUTOR oder ZEUGE mit dem Wert menn ‚Leute‘. Das Demonstrativpronomen því steht in Beziehung zur Relativpartikel sem, welche das Subjekt des Verbs koma ‚kommen‘ im Relativsatz besetzt. Dieses Verb hat zwei weitere Ergänzungen til vár ‚zu uns, d.h. zum Autor (und den Schreibern)‘ und af […] frásǫgn […] ‚von der […] Erzählung […]‘. Im Zentrum steht also das Lexem frásǫgn und wird deshalb an dieser Stelle als Wert zum Attribut QUELLE gerechnet.

      Das Attribut ZWECK lässt sich zwar in der Jóns saga helga nicht als Ergänzung nachweisen, aber ein Beleg aus dem ONP (rita) bestätigt, dass das im Kontext erwähnte til kenslu ‚zur Unterweisung‘ durchaus in den Frame von rita gehört. Wahrscheinlich besteht zwischen den Werten der Attribute ZWECK und TEXT ein Constraint, weil der Wert kensla die Werte für den TEXT auf im Unterricht verwendete Texte einschränkt.

      Es lässt sich anhand dieser Belege festhalten, dass die L-Redaktion in den meisten Punkten mit der S-Redaktion übereinstimmt. Es gibt wiederum zwei Frames: Den Schreibframe evozieren zwei Konstruktionen:

      1 rita e-t e-m með e-m hætti bestehend aus den Attributen SCHREIBER (skrifari) als Agens mit den Werten lærisveinn ‚Schüler‘ und menn til kenslu ‚Leute zur Unterweisung‘, dem SKRIPT mit dem Wert bók ‚Buch‘ als Thema, dem AUFTRAGGEBER mit dem Wert prestr ‚Priester‘ als Dativobjekt und der QUALITÄT, welche das Lexem háttr ‚Art und Weise‘ im Präpositionalobjekt með e-m bezeichnet. Hierzu kann auch das Attribut ZWECK gerechnet werden mit Präpositionalobjekt [til e-s].

      2 rita e-t á e-u bestehend aus dem SCHREIBER als Agens, dem INHALT als Thema mit den Werten atburðr und dem SCHRIFTTRÄGER als Ort mit dem Wert bók. Das Attribut QUELLE mit dem Wert frásǫgn im Präpositionalobjekt eptir e-u kann beiden Konstruktionen zugerechnet werden, da das Thema für den INHALT oder das SKRIPT mit dem Wert hlutr ‚Teil‘ stehen kann.

      Beim Korrespondenzframe ist der ABSENDER mit dem Wert erkibiskup das Agens. In der L-Redaktion ist nur der BOTE mit der Präposition með und dem Wert Jón als Füllung sicher belegt. Aus dem Kontext ergeben sich aber dieselben Attribute wie in der S-Redaktion: EMPFÄNGER, INHALT, SCHRIFTTRÄGER und SIEGEL (innsigli).

      Die Konstruktionen rita e-t e-m, rita e-t á e-u und rita e-t með e-m sind also synonym mit jenen in der S-Redaktion. Neu ist rita e-t eptir e-u mit dem Konzept ‚etw. nach Vorgabe/Vorbild von jdm. oder etw. auf- oder abschreiben‘.

      3.2. Sturlunga saga

      Die Sturlunga saga enthält insgesamt 47 Belege für rita/ríta, wovon nur 35 eindeutig rita, drei eindeutig ríta und neun nicht eindeutig sind. Die eindeutigen Belege von ríta kommen auschliesslich in den expliziten Textverknüpfungen und Kommentaren der älteren Handschrift Króksfjarðarbók vor. Da ríta eine Ausnahmeerscheinung ist, muss man davon ausgehen, dass wohl auch die nicht eindeutigen zum Verb rita gehören. Die Mehrheit der Belege von rita/ríta befinden sich im so genannten Prolog, den Kommentaren und expliziten Textverknüpfungen. In den Sagatexten selbst gibt es lediglich acht Belege: in der Prestssaga Guðmundar Arasonar und Þórðar saga kakala je einen, der Íslendinga saga vier und der Þorgils saga skarða zwei. Diese werden nach der Valenz geordnet.

      3.2.1. Der sogenannte Prolog

      In einem längeren Kommentar des Kompilators vor der Prestssaga Guðmundar Arasonar, dem sogenannten Prolog, ist rita/ríta viermal belegt:

      Margar saogor verda her samtiða, oc ma þo eigi allar senn rita: saga Thorlacs biskups hins helga, oc Gvdmundar enns goþa Ara sonar, þar til er hann var vigdr til prests; saga Gvdmvndar hins dyra hefz III vetrvm eptir andlat Sturlu, oc lycr þa er Brandr biskup er andaþr, enn Gvdmunþr enn goþi er þa vigdr til biskups; saga Rafns Sveinbiarnar sonar oc Þorvalðz Snorra sonar er samtiða sogo Gvdmundar hins goþa, oc lycz hon eptir andlat Brandz biskups, sva sem Sturla Þorþar son segir i Islendinga sogvm. Flestar allar sogor, þær er her hafa gorz a Islandi, voro ritadar adr Brandr biskup Semunðar son anðaðiz. Enn þær sogor, er siþan hafa gorz, voro lit ritaþar aðr Sturli skalld Þorþar son sagði fyrir Islendinga sogor, oc hafdi hann þar til visindi af froþvm monnum, þeim er voro a avndverþvm davgom hans, enn svmt eptir brefvm þeim, er þeir ritvþv, er þeim voro samtiþa, er sogornar erv fra. Marga lvti matti hann sialfr sia, þa er a hans davgvm gerdvz til stortiþinda (StS1 119f.).

      Viele Geschichten geschehen hier gleichzeitig, und man kann trotzdem nicht alle zugleich schreiben: Die Geschichte von Bischof Þorlákr und jene von Guðmundr góði Arason, bis er zum Priester geweiht wurde. Die Geschichte von Guðmundr dýri beginnt drei Winter nach Sturlas Tod und endet, als Bischof Brandr verstirbt, und Guðmundr der Gute wird dann zum Bischof geweiht. Die Geschichten von Hrafn Sveinbjarnarson und Þorvaldr Snorrason sind gleichzeitig wie die Geschichte Guðmunds des Guten und sie endet nach dem Tode Bischof Brands, wie Sturla Þórðarson in den Isländergeschichten erzählt. Die allermeisten Geschichten, welche hier in Island geschehen/entstanden sind, waren aufgeschrieben worden, bevor Bischof Brandr Sæmundarson verstarb. Aber jene Geschichten, welche danach geschehen/entstanden sind, wurden ein wenig früher aufgeschrieben, als der Dichter Sturla Þórðarson die Isländergeschichten diktierte, und er hatte dafür das Wissen kluger Leute, welche in seinen frühen Jahren lebten, und manches aus den Briefen, welche jene schrieben, welche in der Zeit lebten, aus der die Geschichten stammen. Viele Dinge konnte er selbst sehen, denn zu seiner Zeit geschahen grosse Ereignisse (Übers. KM).

      Der erste Beleg rita/ríta ist aktiv, das Subjekt fehlt jedoch, so dass der SCHREIBER eine Leerstelle bildet. Das Pronomen allar ‚alle‘ im Akkusativobjekt kongruiert mit den davor genannten sǫgur ‚Sagas, Geschichten‘. Daneben gibt es noch das Temporaladverb senn ‚zugleich‘ (Baetke 2002: 526) als Ergänzung. Die Gleichzeitigkeit bezieht sich einerseits auf die Handlungszeit der Geschichten und andererseits auf die chronologische Einordnung in der Kompilation. Da die Sturlunga saga eine Kompilation aus bereits bestehenden Sagas ist, auch wenn die wenigsten ausserhalb dieser Kompilation erhalten sind, muss es sich bei diesen sǫgur um Skripte handeln, die für diese Kompilation abgeschrieben werden, d.h. es werden nach der Vorlage wiederum Skripte erstellt. Das Lexem saga wäre damit ein Wert zum Attribut SKRIPT in doppeltem Sinn, als Vorlage und Abschrift. Die Inhalte dieser Skripte werden im Prolog als Genitivattribute mit den Hauptpersonen bei der Aufzählung