Kevin Müller

Schreiben und Lesen im Altisländischen


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Teile der einen Saga in die andere integriert werden (vgl. Thorsson 1988: III, xxxf.).

      Zwei weitere Belege von rita sind gleich strukturiert mit der Diathese Passivum und sǫgur als Subjekt. Die sǫgur sind ausserdem Subjekt des polysemen, mediopassiven Verbs gerask, das zwei Bedeutungen laut Baetke (2002: 193) hat: 1. ‚gemacht werden, entstehen‘ und 2. ‚geschehen‘. Diese sind in diesem Kontext relevant und heben zwei Aspekte des Konzepts von saga hervor: 1. den Text bzw. das Skript und 2. die Geschichte bzw. das Ereignis. Das Lexem saga kann folglich als Wert für die Attribute SKRIPT, TEXT und INHALT stehen.

      Der vierte Beleg (rita) ist aktiv mit dem Pronomen þeir ‚sie (m. Pl.)‘ im Subjekt und der Relativpartikel er im Akkusativobjekt, welche auf bréfum ‚Brief (Dat. Pl.)‘ im Hauptsatz verweist. Briefe sind Teil der Korrespondenz, so dass das Subjekt nicht nur der SCHREIBER, sondern auch der ABSENDER sein kann. Es werden aber keine BOTEN, EMPFÄNGER oder SIEGEL erwähnt. Es bleibt an dieser Stelle offen, ob rita bréf den Schreib- oder den Korrespondenzframe evoziert, weil die Briefe in diesem Kontext primär als Quelle dienen.

      3.2.2. Kommentare

      Während der sogenannte Prolog die Gleichzeitigkeit einiger Sagas problematisiert, erwähnen neun Kommentare Auslassungen im Text. Es ist unklar, von wem die Kommentare stammen, vom Schreiber, vom Kompilator, vom Autor oder von den Vorlagen. Der erste ist (von „þviat“ bis „rita“) nicht nur in der Reykjarfjarðarbók, sondern auch im Codex Resenianus (AM 399 4to, 1330–1350), der Handschrift der ältesten Redaktion der Guðmundar saga (vgl. handrit.is, abgerufen am 7. 2. 2017) enthalten, weshalb Kålund ihn in seiner Edition zum Text der Leithandschrift Króksfjarðarbók hinzugefügt hat: a) „Nu er hett fra-savgn um at-hafnir Þorvarz, þviat þar ero meiri efni i, en ek uilia i þessa sogu rita“ (StS1 121f.). ‚Nun endet die Erzählung über Þorvarðs Vorhaben, denn es gibt darin mehr Stoffe, als ich in diese Geschichte schreiben will.‘ (Übers. KM). Das Personalpronomen ek ‚ich‘ ist das Subjekt von rita/ríta, das sich entweder auf den Autor, Kompilator oder Schreiber der Guðmundar saga biskups bezieht. Der Kompilator der Sturlunga saga kann hier ausgeschlossen werden, da der Kommentar aus einer Handschrift der Guðmundar saga biskups stammt. Das Akkusativobjekt ist efni ‚Stoff einer Erzählung‘ (Baetke 2002: 100), also eine Bezeichnung für das Attribut STOFF. Daneben gibt es noch ein Präpositionalobjekt í þessa sǫgu ‚in diese Geschichte‘. Hier ist saga wieder ein Wert für das SKRIPT, d.h. die in der Handschrift vorliegende geschriebene Geschichte, in welcher der Autor, Kompilator oder Schreiber gewisse Teile aus der gesamten Erzählung (frásǫgn) weglässt. Genauso wie oben in der Jóns saga helga (vgl. Kap. II.3.1.2.g.) liegt ein Teil-Ganzes-Verhältnis vor. Dieses Ganze, d.h. der STOFF, ist variabel, denn es können ihm TEILE hinzugefügt oder solche auch weggelassen werden, was sich auch in der handschriftlichen Überlieferung manifestiert.

      Fünf weitere Kommentare stammen aus der Íslendinga saga, die alle gleich strukturiert sind. Der erste hat als einziger einen eindeutigen Beleg von ríta:

      b) Biskup ferr vm svmarit yfir Vest-fiorþv, enn vm vetrin var hann a Breiðabols-stað i Steingrims-firði með Bergþori Ions syni, oc vrðv þar margir lvtir þeir, er fra-sagnar væri verdir, oc iartegnvm þotti gegna, þott her se æigi ritnir, bæði þat er biskup atti við flagð þat, er þeir colluðu Sel-kollv, oc mart annat. (StS1 290).

      Der Bischof reist im Sommer durch die Westfjorde und im Winter war er in Breiðabólstaðr im Steingrímsfjǫrðr bei Bergþórr Jónsson. Und es geschahen viele Dinge, welche einer Erzählung wert wären und Wundern gleich kommen, obwohl sie hier nicht geschrieben sind, dass der Bischof ein Trollweib hatte, welches sie Selkolla nannten und vieles anderes. (Übers. KM).

      Das Verb ist im Passiv und hat kein Subjekt. Das Partizip Prätertitum ritnir (m. Pl.) kongruiert mit dem Substantiv hlutir ‚Dinge, Teile (m. Pl.)‘ im Hauptsatz. Diese stehen für das Thema und sind somit ein Wert für das Attribut INHALT. Das deiktische Lokaladverb hér ‚hier‘ ist die einzige Ergänzung und bezieht sich entweder auf das SKRIPT, die Saga, oder den SCHRIFTTRÄGER, den Kodex.

      Beim zweiten Kommentar ist es nicht möglich, zu beurteilen, wer diesen Satz ursprünglich schrieb, denn er ist nur in frühneuzeitlichen Papierabschriften erhalten, sodass ein frühneuzeitlicher Abschreiber, oder ein mittelalterlicher, der Kompilator der Sturlunga saga oder der Autor der Íslendinga saga in Frage kämen: c) „Margt sagði hann annat, þó at hér sé eigi ritat í þessarri sǫgu“ (StS1 489). ‚Er [= Þórðr Sturluson] sagte noch viel anderes, obwohl es nicht in dieser Geschichte geschrieben steht‘ (Übers. KM). Rita ist passiv, so dass das Agens leer bleibt. Das Subjekt bildet ebenfalls eine Leerstelle. Das Partizip Präteritum ritat (n. Sg.) kongruiert mit annat ‚anderes (n. Sg.)‘ aus dem Hauptsatz. Die Leerstelle verweist folglich auf dieses ‚andere‘. Die einzige Ergänzung von rita ist das Präpositionalobjekt í þessarri sǫgu ‚in dieser Geschichte‘. Im Gegensatz zum vorherigen Beleg (b) regiert í hier den Dativ. Die thematische Rolle ist folglich der Ort. Hier unterscheidet sich die Íslendinga saga sprachlich von der Prestssaga Guðmundar Arasonar, in welcher die saga das Ziel ist. Unabhängig von der thematischen Rolle ist saga das dem Leser vorliegende Skript, in dem Teile fehlen. Der Ort steht also für das SKRIPT mit dem Wert saga und das Thema für den INHALT. Das SKRIPT als Ziel in der Guðmundar saga biskups erklärt sich durch das Modalverb vilja ‚wollen‘, welches eine Intention impliziert, und das SKRIPT als Ort in der Íslendinga saga durch das Zustandspassiv. In beiden Kommentaren bildet das Skript einen Raum, in dem gewisse Inhalte vorkommen oder fehlen können.

      Auch der dritte Kommentar ist nur in frühneuzeitlichen Abschriften erhalten: d) „Ok margir merkiligir hlutir urðu á þann dag, er biskup var grafinn, þótt hér sé eigi ritaðir“ (StS1 491). ‚Und viele denkwürdige Dinge geschahen an diesem Tag, als der Bischof begraben wurde, obwohl sie hier nicht geschrieben stehen‘ (Übers. KM). Rita ist wieder passiv und in einem Konzessivsatz. Bis auf das deiktische Lokaladverb hér sind alle Stellen leer. Dieses Adverb bezieht sich wie beim ersten Kommentar der Íslendinga saga (b) entweder auf das SKRIPT, wie die oben schon erwähnten Konstituente í þessarri sǫgu oder auf den SCHRIFTTRÄGER, wie etwa in der Jóns saga helga mit einer vergleichbaren Konstituente á þessarri bók ‚in diesem Buch‘. Das Partizip Präteritum ritaðir (m. Pl.) kongruiert mit hlutir ‚Dinge, Teile (m. Pl.)‘, so dass diese das Thema bilden. Die Verteilung der thematischen Rollen Thema und Ort, sowie die entsprechenden Attribute INHALT und SKRIPT stimmen mit dem vorherigen Beleg überein. Wenn hér auf den Kodex referiert, steht der Ort allerdings für den SCHRIFTTRÄGER. Das leere Agens ist gleich obskur wie im vorherigen Beleg (c), da beide nur in Papierabschriften erhalten sind.

      Man kann sich darüber streiten, wie brauchbar solche in frühneuzeitlichen Handschriften überlieferte Belege für eine Untersuchung eines mittelalterlichen Wortschatzes sind, weil die Abschriften nicht immer zuverlässig sind. Dass sie ein mittelalterliches Vorbild haben, zeigen aber die beiden letzten Kommentare der Íslendinga saga aus der Króksfjarðarbók: e) „Margir voro adrir draumar sagðir i þenna tima, þo at her se eigi ritaðir, þeir er tiþinnda-vǽnir þóttu vera, sva ok aðrir fyrir-burðir“ (StS1 514). ‚Viele andere Träume wurden in dieser Zeit erzählt, obwohl sie hier nicht geschrieben stehen, welche voller Vorbedeutung waren, sowie andere Visionen‘ (Übers. KM). Bis auf das Adverb hér, das wohl auch bei diesem Beleg entweder auf das SKRIPT oder den SCHRIFTTRÄGER verweist, sind die Stellen in diesem Passivsatz leer. Das Partizip ritaðir (m. Pl.) kongruiert mit draumar ‚Träume (m. Pl.)‘. Die Saga enthält also Träume und, wie aus der Apposition zu entnehmen ist, andere Visionen (aðrir fyrirburðir). Das Agens ist weniger obskur als in den obigen beiden Belegen, weil ein frühneuzeitlicher Abschreiber sicher ausgeschlossen werden kann, jedoch bleibt offen, ob der Kommentar vom Autor der Íslendinga saga, dem Kompilator der Sturlunga saga oder einem ihrer mittelalterlichen Abschreiber stammt.

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