C. Otto Scharmer

Theorie U - Von der Zukunft her führen


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Jahren schrieb Aristoteles, wohl der größte Pionier und Innovator westlichen Forschens und Denkens, in Band VI seiner Nikomachischen Ethik, es gäbe in der menschlichen Seele fünf verschiedene Wege oder Fähigkeiten, die Wahrheit zu erfahren (Aristoteles 1972, NE 1139 615). Nur einer von ihnen ist die Wissenschaft (gr.: episteme). Wissenschaft ist nach Aristoteles auf Dinge beschränkt, die sich so und nicht anders verhalten (d. h. auf den Bereich, in dem die Dinge durch Notwendigkeit bestimmt sind). Die vier anderen Wege und Fähigkeiten der Wahrheitsfindung hingegen beziehen sich auf die übrigen Lebensbereiche: Kunst oder das Herstellen (gr.: techne), praktische Weisheit (gr.: phronesis), theoretische Weisheit (gr.: sophia) und die Intuition oder Fähigkeit, Grundprinzipien oder Quellen zu erfassen (gr.: nous für »Geist, Vernunft«).

      Die moderne Wissenschaft beschränkte sich bislang weitgehend auf episteme. In unserem Jahrhundert sollten wir jedoch unser Wissenschaftsverständnis erweitern und auch die übrigen Zugänge zur Wahrheitsfindung in den Prozess des wissenschaftlichen Erkennens einbeziehen: Technologien (techne), praktische Weisheit (phronesis), theoretische Weisheit (sophia) und die Fähigkeit, die Quellen der Aufmerksamkeit und Intention (nous) intuitiv zugänglich zu machen.

       Unser gemeinsamer Feldgang: Der Denkweg dieses Buches

       Wie dieses Buch organisiert ist

      Nachdem wir in Teil I gegen den »blinden Fleck« prallen, erleben wir in Teil II ein »Eintreten in das U-Feld«, gefolgt von »Presencing: Eine soziale Technik für tief greifende Innovation« und Veränderung durch gemeinsame Gegenwärtigung in Teil III.

      Teil I des Feldgangs setzt sich mit unterschiedlichen Erscheinungsformen des blinden Flecks auseinander. Ich werde argumentieren, dass die zentrale Krise unserer Zeit damit zu tun hat, dass wir auf allen Systemebenen unserer Gesellschaft immer wieder auf das gleiche Problem stoßen: unseren blinden Fleck. Auf allen Ebenen werden wir immer wieder mit der gleichen Unzulänglichkeit konfrontiert: Wir sind nicht in der Lage, generativ auf die aktuellen Herausforderungen zu antworten, solange wir uns unseres blinden Flecks nicht bewusst werden und den inneren Ort, von dem aus wir handeln, nicht verändern.

      In Teil II werden wir den Kernprozess analysieren, durch den der blinde Fleck erhellt und bewusst gemacht werden kann.

      Teil III unseres Feldgangs diskutiert diesen Kernprozess im Sinne einer evolutionären Grammatik, die dann in zweierlei Hinsicht entwickelt wird: zum einen als Theorie der sozialen Felder (U-Theorie) und zum anderen als soziale Technik (24 Prinzipien und Praktiken des Presencing).

      Das Buch schließt mit einem Epilog, der den Titel trägt: »U.School – Bewusstseinsbasierten Systemwandel praktisch machen«. Darin werden Ideen und ein allgemeiner Plan für eine globale Aktionsforschungsuniversität dargelegt, die die oben angesprochenen Prinzipien durch eine Integration von Wissenschaft, Bewusstsein und sozialer Evolution in die Praxis umsetzt.

      Die folgenden 21 Kapitel integrieren die Erkenntnisse aus Dialoginterviews mit weltweit 150 führenden Denkern und Praktikern in den Bereichen Strategie, Wissen, Innovation und Führung. Der Denkweg dieses Buches reflektiert auch die Biografie des Verfassers – erkennbar die eines weißen männlichen europäischstämmigen Amerikaners – sowie meine Forschung am MIT und ungezählte Diskussionen mit und Anregungen durch Kolleginnen und Kollegen am MIT und an anderen Institutionen von Forschung und Praxis. Ich habe die sich hieraus entwickelnde U-Theorie auf der Basis von Beratungs- und Aktionsforschungsprojekten mit globalen Unternehmen und Nichtregierungsorganisationen, beispielsweise Alibaba, Daimler, Decurion, Eileen Fisher, Federal Express, Fujitsu, GlaxoSmithKline, Google, Hewlett-Packard, ICBC, McKinsey, Oxfam, PricewaterhouseCoopers und verschiedenen Multistakeholder-Gruppen geformt und getestet.

      Besonders inspiriert hat mich immer die enge Zusammenarbeit mit Kolleginnen und Kollegen aus dem Bereich der Kunst, zum Beispiel mit Arawana Hayashi, die durch zahlreiche Projekte das sogenannte Social-Presencing-Theater entwickelt hat. Einige der Illustrationen im Buch basieren auf meinen eigenen handgezeichneten Bildern und viele weitere stammen von professionellen Künstlern; diese Bilder machen die Konzepte lebendig und veranschaulichen sie oft viel besser als Worte. Ich hoffe, dass ihre Einbeziehung den Zugang zu einigen der anspruchsvolleren Ideen in diesem Buch erleichtert.

       Intention

      Dieses Buch beabsichtigt drei Dinge:

      1) Es liefert einen Schlüssel oder, wie wir es manchmal bezeichnen, eine Grammatik des sozialen Feldes, die den blinden Fleck erschließt (Kapitel 15, 20).

      2) Es zeigt die folgenden vier fundamentalen Metaprozesse auf, durch die die soziale Welt Moment für Moment hervor- und in die Welt gebracht wird:

      − denkendes Handeln (Kapitel 16)

      − kommunikatives Handeln (Kapitel 17)

      − organisationales Handeln (Kapitel 18) und

      − global-systemisches Handeln (Kapitel 19)

      3) Abschließend skizziert das Buch eine soziale Technologie der Freiheit, die diesen Ansatz durch konkrete Prinzipien und Praktiken umsetzbar macht (Kapitel 21).

      Zusammengenommen ergeben die Prinzipien und Praktiken ein Ganzes. Dies vorausgeschickt, können sie auch als die fünf Bewegungen betrachtet werden, die den Verlauf des U markieren (Abb. E.2):

       Abb. E.2: Der U-Prozess: Fünf Bewegungen

      •Gemeinsames Gefäß bilden: Höre darauf, wozu das Leben dich auffordert; verbinde dich mit Menschen und Kontexten, die mit diesem Ruf in Zusammenhang stehen; bilde Konstellationen von Schlüsselakteuren, die die gemeinsame Intention lebendig machen.

      •Gemeinsames Hinspüren: Tauche ein in die Orte der größten Möglichkeit; beobachte, beobachte, beobachte; und bewege, was du aufnimmst, in deinem weit geöffneten Denken und Herzen.

      •Gemeinsame Stille: Suche einen Raum der individuellen und kollektiven Stille, öffne dich für die tieferen Quellen des Wissens und verbinde dich mit der Zukunft, die durch dich entstehen will.

      •Gemeinsames Erproben: Baue Landebahnen für die Zukunft, indem du lebende Mikrokosmen des Neuen erschaffst, um die Zukunft im prototypischen Tun zu erkunden.

      •Gemeinsames Gestalten: Entwickle mit anderen ein größeres Ökosystem der Innovation und halte das Gefäß, das Menschen über Grenzen hinweg verbindet, indem sie aus dem entstehenden Ganzen heraus wahrnehmen und handeln.