Miriam Rademacher

Ada (Band 2): Die vergessenen Orte


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man ihn Dick nannte. Dick klang viel mehr nach Wurstwaren als Richard, Dick war nicht das, was er sich für sein Leben vorstellte. Und so wandte er unwillig den Kopf zu dem Mann um, der den Imbiss soeben betreten hatte. Martin Holt, der gerade einen fusseligen Bart auf Kinn und Wangen züchtete, setzte sich unaufgefordert zu ihm und bestellte sich einen Rotwein.

      Rotwein am Nachmittag. Richard wurde angesichts dieser Dekadenz blass vor Neid. Für derartigen Luxus fehlte ihm selbst in guten Zeiten das Geld.

      »Ist bei dir der Wohlstand ausgebrochen?«, fragte er den Neuankömmling und musterte seinen Kommilitonen eingehend.

       Martin trug, wie jeder Student in diesem Jahr, eng sitzende helle Hosen, einen dunklen Rollkragenpulli und kaute, genau wie Richard, auf dem Mundstück seiner Pfeife herum, die erkaltet zu sein schien. Nichts an ihm ließ auf eine plötzliche Erbschaft oder einen Lottogewinn schließen. Nichts außer dem Glas italienischen Rotwein. Und jetzt bestellte der Kerl doch tatsächlich ein zweites und lud ihn ein.

      Richard war zu dankbar, um misstrauisch zu werden. Zwar kannte er Holt kaum, auch wenn der Mann dieselben Vorlesungen wie er selbst besuchte, sie hatten einfach noch nicht viel miteinander zu tun gehabt. Aber einem geschenkten Gaul sollte man schließlich auch nicht ins Maul gucken, oder?

      Er nippte an seinem Wein und wartete darauf, dass Martin Holt ein Gesprächsthema vorschlug. Er musste sich nicht lange gedulden.

      »Arbeitest du noch immer am Aufbau dieser Ausstellung? Drüben im Museum für Glas und Porzellan?«, fragte Martin schließlich und lehnte sich in dem Stuhl mit dem praktischen roten Plastikbezug zurück.

      »Nein.« Richard schüttelte den Kopf. »Wir sind fertig. Die Ausstellung wird am kommenden Wochenende für das Publikum geöffnet und ich habe soeben meinen Lohn erhalten.«

      »Wie viel war es denn?«, fragte Martin Holt neugierig. Seine Augen schienen eine Spur schmaler zu werden.

      »Wenn du es genau wissen willst, meine Vergütung besteht aus einem Schrank, der die letzten Jahre auf dem Speicher des Museums verstaubt ist. Ein alter und ehrwürdiger Schrank, der mir eines Tages, sobald ich das Geld für seine Restaurierung aufbringen kann, gute Dienste leisten wird. Bis dahin werde ich allerdings in ihm wohnen müssen, weil ich meine Miete nicht mehr zahlen kann.«

      Martin Holt stellte seinen Wein ab, legte die Pfeife zur Seite und wollte sich schier ausschütten vor Lachen. Richard lachte nicht mit. Ihm war bei Antritt dieses Jobs klar gewesen, dass das Museum für Glas und Porzellan kaum genug Geld haben würde, um ihn für seine Arbeit angemessen zu bezahlen. Aber ein wenig Bargeld hatte er doch erwartet.

      »Sehr witzig.« Richard schaute seinen Gesprächspartner so ausdruckslos an, dass dieser seinen Lachanfall schleunigst unter Kontrolle brachte.

      »Tut mir leid, alter Knabe. Aber vielleicht kann ich dir aus deiner misslichen Lage heraushelfen.« Martin klopfte seine Pfeife über dem Aschenbecher aus und begann, sie neu zu stopfen.

      Richards Neugier war geweckt. »Du weißt einen Job für mich? Was für einen und wo?«

      Holt zog an seiner Pfeife, bis der Tabak glühte, und ließ ein Rauchwölkchen aus seinem Mundwinkel aufsteigen. Er wirkte so überlegen und gönnerhaft, dass Richard viel dafür gegeben hätte, weniger armselig zu erscheinen, als er sich gerade fühlte.

      »Kennst du Professor Ingress?«, fragte Martin unvermittelt und paffte eine Reihe weiterer kleiner Wölkchen.

      »Dem Namen nach«, gestand Richard. »Er soll ein Experte auf seinem Gebiet sein.«

      »Er arbeitet auf vielen Gebieten.« Holt lächelte herablassend. »Ingress ist ein vielseitig interessierter Mensch. Und wie es der Zufall will, stellt er gerade ein neues Team zusammen.« Unvermittelt beugte sich Martin auf seinem Stuhl vor und verfiel in einen Flüsterton. »Ein Team der hoffnungsvollsten Studenten aus nahezu allen Bereichen der Wissenschaft. Sie werden Teil eines faszinierenden und sehr geheimen Projektes, staatlich gefördert, versteht sich. Geld ist für Ingress kein Problem, er findet immer Förderer, dafür hat er ein Händchen.«

      »Warum sollte er mich für sein Projekt gewinnen wollen?« Skeptisch sah Richard sein Gegenüber an. »Ich studiere Kunstgeschichte, genau wie du übrigens. Wenn er wirklich glaubt, dass er für das, was er da tut, einen Kunsthistoriker braucht, warum übernimmst dann nicht du diesen Job?«

      »Ich habe ihn schon übernommen, Dummerchen.« Holts Lächeln bekam etwas Mitleidiges. »Aber ich kann das unmöglich allein angehen, ich brauche jemanden, der mit mir zusammen diese Stelle im Team ausfüllt.«

      »Und da bist du ausgerechnet auf mich gekommen? Warum?« Das Misstrauen meldete sich erneut bei Richard. Er selbst hätte sich für eine Zusammenarbeit einen Freund ausgesucht. Einen Menschen, den er mochte und mit dem er gern zusammen war. Doch diese Kriterien konnte Martin Holt kaum angelegt haben, sie kannten einander ja kaum.

      »Weil ich gerade diese Straße entlanggekommen bin und dich hier sitzen sah. Da dachte ich mir: Martin, versuch es doch mal beim guten alten Dick. Der ist zuverlässig, verschwiegen …«

      »Aha. Verschwiegen«, wiederholte Richard. »Warum muss man für diesen Job verschwiegen sein?«

      »Das wirst du verstehen, sobald du ihn angenommen hast«, antwortete Martin und klang plötzlich nicht mehr heiter. »Und annehmen musst du ihn jetzt. Sofort.«

      Richard gab ein kurzes Lachen von sich. »Ohne dass ich weiß, worum es überhaupt geht? Du bist ja verrückt. Vielleicht liegt mir diese Arbeit gar nicht.«

      »Das weiß man im Vorfeld nicht so genau, das kann keiner wissen.« Martin stürzte seinen Wein hinunter und bedeutete Richard, ebenfalls auszutrinken. »Was ist also? Willst du dabei sein? Willst du deine Miete zahlen können und außerdem noch Teil eines der wichtigsten Forschungsprojekte dieses Jahrzehnts sein? Dann lass uns hier nicht länger Zeit verschwenden und begleite mich. Ingress hat mir bei der Wahl meines Kollegen völlig freie Hand gelassen, aber nur unter der Voraussetzung, dass du sofort einsatzbereit bist und nicht zu viele Fragen stellst.«

      Nicht zu viele Fragen. Wenn Richard ehrlich zu sich selbst war, dann klang dieses Jobangebot von Minute zu Minute schlechter. Aber hatte er eine Wahl, wenn zu Hause bei seinem Vater nur eine Lehre zum Metzger auf ihn wartete? Nein, die hatte er nicht. Er brauchte sofort einen Job, und ein staatlich gefördertes Projekt versprach endlich Bargeld statt angestaubter Antiquitäten als Bezahlung.

      Richard traf eine Entscheidung. »Ich komme mit dir«, antwortete er und kippte seinen Rotwein hinunter.

      Erleichtert, wie es schien, stand Martin Holt auf, und auch Richard erhob sich, um ihm zu folgen. Er ahnte nicht, dass diese Entscheidung wegweisend für seinen gesamten Lebensweg sein würde.

      September 2019

      VALERIE

      Auf der frisch gemähten Wiese, hinter dem Herrenhaus aus dem achtzehnten Jahrhundert mit seinen zahlreichen Erkern, Schornsteinen und einer imposanten Freitreppe, saßen Valerie und ihr bald zweijähriger Sohn Paul auf einer Picknickdecke und malten. Jeder so gut, wie er konnte. Das Laub des Parks färbte sich bereits golden und die Luft war deutlich kühler als noch vor einigen Wochen, als Valerie den Landsitz der Blunts zum ersten Mal gesehen hatte.

      Sie und Paul waren gekommen, um zu bleiben. Zumindest für eine Weile, so lange, bis sie wusste, wie die Zukunft für sie und ihren Sohn aussehen sollte.

      Doch heute dachte sie nicht über ihre Probleme, die bevorstehende Scheidung oder ihre Wohnungslosigkeit nach. Valerie genoss den Tag an der frischen Luft, und auch Paul kaute zufrieden auf einem Wachsmalstift.

      Vom Haus her näherte sich Teddy Blunt, ein Enddreißiger mit feinem blonden Haar auf seinem runden Kopf und einer sehr gesunden Gesichtsfarbe. Er trug tatsächlich moosgrüne Knickerbocker wie ein Vertreter des Landadels vor langer Zeit und schwenkte ein Blatt Papier wie eine Fahne durch die Luft. Valerie lächelte ihm entgegen.

      »Ada hat geschrieben!« Teddy kam im Laufschritt näher und ließ sich freudestrahlend neben Valerie auf die Decke fallen.

      Paul