augenblicklich mit. »Ich werde abreisen.«
Der Puk machte ein unglückliches Gesicht und schob die Tasse samt Untertasse auf die über seiner Kopfhöhe befindliche Schreibtischplatte. Geduldig wartete er darauf, dass Valerie weitersprach, auch wenn es ihm zu missfallen schien, dass sie das Haus verlassen wollte.
»Ich werde zurück nach London fahren, um mit Derek zu sprechen. Falls Teddy mit seiner Vermutung recht hat und er wirklich plant, das Schrathaus zu verkaufen, muss ich das verhindern.«
Der Puk, der unmöglich wissen konnte, wovon Valerie da sprach, verschränkte die Arme hinter dem Rücken und schwieg beharrlich weiter. Seine Art war nicht besonders gesprächig, das hatte Valerie schon bemerkt. Umso aufmerksamer hörte der kleine Kerl ihr zu. Valerie konnte einfach nicht anders, strich dem koboldartigen Wesen ungeschickt über den Kopf, obwohl Teddy ihr gesagt hatte, dass die meisten Hausgeister nicht gern berührt wurden. Lediglich die Zudringlichkeiten des kleinen Paul nahmen sie stoisch hin, da er als Kleinkind wohl einen besonderen Stellenwert hatte.
Prompt zog sich der Puk von ihr zurück und lief aus dem Büro hinaus. Valerie blieb am Schreibtisch sitzen und sah noch immer auf den hellen Bildschirm.
»Ich kehre zurück, und ich werde einen Weg finden, Sebastian wiederzusehen.«
Der Gedanke an Sebastian wärmte für die Dauer eines Wimpernschlages ihr Herz. Valerie fragte sich nicht zum ersten Mal, was sie eigentlich für ihn empfand. War es eine Verbundenheit, wie es sie zwischen Geschwistern gab? Oder war es mehr? Knisterte dort in ihrem Herzen etwa schon das Feuer der Liebe? Sie war sich nicht sicher. Doch es war mehr als Freundschaft, was sie mit dem Mann hinter den Wänden verband.
Kapitel 2 - Hier fehlt etwas Wesentliches
Oktober 1965
RICHARD
Martin Holt hatte sich geweigert, ihm zu sagen, wohin sie eigentlich fuhren. Sein Studienkollege hatte einfach ein Taxi angehalten – ein Taxi, man stelle sich das vor – und dem Fahrer eine Adresse genannt, die Richard völlig fremd war.
»Wir fahren also nicht zur Uni?«, hatte er gefragt und von Martin nur einen ungläubigen Blick geerntet.
Richard schloss daraus, dass das Projekt des Professor Ingress so geheim war, dass man die Forschungen lieber fernab der Studentenschar betrieb.
Und tatsächlich hielt das schwarze Londoner Taxi nach einer langen und schweigsamen Fahrt in einem Vorort am Straßenrand, in Sichtweite zu einem modernen Bungalow, der sich nur schlecht bis gar nicht in das Gesamtbild der Straße einfügte. Doch Bausünden wie diese gab es seit Kriegsende zuhauf und Richard vermutete, dass dieser Ort gerade durch seine architektonische Auffälligkeit schon wieder unauffällig war.
Während Martin den Fahrer bezahlte, stieg Richard aus und sah sich um. Dies hier musste ein Zipfel von Chiswick sein, aber ganz sicher war er sich nicht.
Der Bungalow war von einem hohen Zaun aus Metallpfosten umgeben, der nahe dem Eingang mit einem Schild versehen worden war. Die Aufschrift, die im Wesentlichen aus aneinandergereihten Großbuchstaben bestand, verriet Richard rein gar nichts über den Ort, an dem er sich befand.
»Willkommen am Zugang Zwei, wie wir dies hier nennen«, verkündete Martin und schob Richard auf die verschlossene Haustür zu.
Nachdem er den Klingelknopf gedrückt hatte, standen beide zunächst schweigend auf der Fußmatte und warteten auf Einlass.
»Zugang Zwei?«, fragte Richard. »Zugang zu was? Und wofür halten die Nachbarn dieses Haus? Doch wohl nicht für ein geheimes Forschungslabor.«
Martin kicherte. »Nein, sie denken, dass sich unter dieser Adresse ein Schulungszentrum für angehende Unternehmer befindet. So wundert sich niemand über das Kommen und Gehen junger Männer. Niemand hat bisher Genaueres wissen wollen, allein das Wort ›Schulungszentrum‹ klingt für sie absolut uninteressant, scheint mir.«
Richard nickte. Das konnte stimmen. Die Menschen fragten allgemein viel zu wenig nach, gaben sich mit lapidaren Antworten zufrieden und wunderten sich, wenn sich plötzlich der nette Mann von nebenan als Spion oder Bankräuber entpuppte. Je platter die Tarnung, desto besser.
In diesem Moment wurde die Haustür geöffnet und ein hagerer Mann mit hängenden Schultern erschien auf der Schwelle. Gekleidet war er in eine Art Uniform in langweiligem Grau.
»Sie wünschen?«
Sein Blick hatte etwas Lauerndes. Während er Martin kaum beachtete, schien er Richards Gesicht zu studieren, sich seine Züge einprägen zu wollen.
»Wir sind gekommen, um die Unterlagen für Mister Kellerman abzuholen«, erwiderte Martin und klang genervt. »Komm schon, lass uns rein, Billy. Du kennst mich doch.«
»Ich habe meine Anweisungen«, nuschelte der Mann namens Billy. »Die Papiere sind noch nicht unterzeichnet, Sie werden etwas Geduld mitbringen müssen.«
»Billy«, sagte Martin und klang vorwurfsvoll. »Hör auf mit dem Quatsch und lass uns rein. Niemand ist uns hierher gefolgt, niemand interessiert sich für uns.«
»Die korrekte Antwort hätte gelautet: Zeit haben wir massenhaft mitgebracht. Sie müssen sich schon an die ausgegebene Parole halten.«
Martin seufzte. Und während sich Richard ein Grinsen verkniff, leierte sein Begleiter den gewünschten Text herunter, woraufhin Billy zurücktrat und den Blick in einen sich rasch verbreiternden Flur freigab.
Auf seinem Weg durch ebendiesen Flur hielt Richard nach wenigen Schritten erschrocken inne. Vor ihm, im Fußboden, gähnte ein gewaltiges Loch – eine tiefe Grube – auf dessen Grund ein Baustellenstrahler stand und sein grelles Licht auf lehmige Wände warf.
Nach einem kurzen Moment, in dem Richard nach Luft geschnappt hatte, rief er: »Es scheint so, als wären die Renovierungsarbeiten für diesen Ort noch nicht ganz abgeschlossen. Gibt es vielleicht einen Steg oder eine Liane zur Überquerung dieses Abgrunds?«
Statt einer Antwort versetzte ihm Martin, der einen Schritt hinter ihm geblieben war, einen leichten Stoß in den Rücken, sodass Richard von plötzlicher Panik erfüllt vorwärts taumelte. Ein leiser Schrei kam über seine Lippen, als er mit ausgestreckten Armen in die Tiefe stürzte, nur um nach einem Sekundenbruchteil mit Händen und Knien gleichzeitig auf etwas Hartem aufzuschlagen.
Fassungslos stellte Richard fest, dass er sich entgegen seinen Erwartungen weit über dem Grund der Grube, etwa auf Höhe des nicht vorhandenen Fußbodens, befand. Noch immer blickte er auf den Strahler hinab. Seine Hände und Knie hatten einfach in der Luft haltgemacht und ihm eine schmerzhafte Landung erspart.
»Herzlichen Glückwunsch, Dick. Du hast die erste Feuertaufe bestanden.«
Vorsichtig hob Richard eine Hand, nur um sie gleich wieder sinken zu lassen und zaghaft mit den Fingerknöcheln auf das zu klopfen, was ihn gerettet hatte. Ein dumpfes Geräusch erklang.
»Plexiglas«, erklärte ihm Martin, der immer noch amüsiert klang. »Extrem stabil, nahezu bruchsicher. Man kann einfach darüber gehen. Wenn du magst, darfst du die paar Meter bis zum Beginn der Bodenfliesen aber auch kriechen.«
Richard erhob sich langsam und drehte sich ebenso langsam zu Martin um, der immer noch feixend dastand und seinen Streich sichtlich genoss. Richard, dessen rechtes Knie leicht zu pochen begann, weil es den Sturz auf das Glas nicht ohne Schaden überstanden hatte, rechnete es dem vom Alter gebeugten Billy hoch an, dass dieser weder lachte noch lächelte.
»Ach, nun guck nicht so beleidigt. Das machen wir hier mit allen Neuankömmlingen. Mir ist es auch nicht besser ergangen als dir. Gib zu, dass es nicht halb so schlimm war, wie den Kopf in die Toilette gesteckt zu bekommen. So wie es an vielen Schulen mit den Neuen gemacht wird.«
»An so einer Schule war ich nicht«, zischte Richard und überprüfte rasch, ob seine Handgelenke besser dran waren als sein Knie. Sie waren es. »Und worin besteht also die zweite Feuerprobe? Wenn das hier die erste war, dann kann der Spaß ja noch nicht vorbei sein.«