»Ich nehme den Observer, der will ohnehin zu mir, wie mir scheint.« Jig sah missbilligend auf die Sahneflecken, die jetzt das Gesicht der Queen garnierten.
Valerie starrte auf den Stoß Zeitungen und konnte sich nicht entscheiden. »Ich habe doch gar keine Ahnung, wonach ich suchen soll.«
Ada verdrehte die Augen. »Hast du Jig etwa nicht zugehört? Niemand von uns weiß das. Mach deine Augen auf, Mädchen. Wenn du es vor dir siehst, dann erkennst du, dass du es gefunden hast.«
Widerstrebend nahm Valerie den Daily Mirror an sich und begann lustlos darin herumzublättern. Ihr war mehr danach, die Suche zu Fuß zu beginnen. Doch die Stadt war groß und ihr Haus bestimmt nicht einfach weggelaufen. Es ergab keinen Sinn, durch die Straßen zu eilen. Da konnte sie auch genauso gut völlig sinnlose Artikel überfliegen. Kaum anzunehmen, dass der Mirror etwas Besseres zu bieten hatte.
Ein Blick auf die ersten Seiten bestätigte ihre Vermutung: nichts außer Politik, Klatsch, Klatsch und nochmals Kl… Valerie hielt inne.
Aufmerksam las sie zunächst noch einmal die Überschrift, die ihr Interesse geweckt hatte, dann den ganzen Artikel. Nachdem sie ihn sicherheitshalber ein zweites Mal gelesen hatte, suchte sie nach dem Datum. Der Mirror war vom heutigen Tag.
»Hast du etwas gefunden?« Ada hatte ihre Zeitung sinken lassen und beobachtete sie stattdessen über den Tisch hinweg. Auch Teddy und Jig hoben die Köpfe und sahen sie aufmerksam an.
Zögernd begann Valerie, den Artikel am unteren Rand der vierten Seite laut vorzulesen. »Aufrecht laufender Hund stört Golfturnier.«
Jig gab ein unterdrücktes Prusten von sich, was ihr einen sachten Ellenbogenstoß von Ada einbrachte.
»Lies weiter, meine Liebe. Das klingt sehr interessant.« Ada nickte ihr aufmunternd zu.
Valerie holte tief Luft und fuhr fort: »Wie soeben bekannt wurde, hat ein aufrecht laufender schwarzer Hund das jährliche Hausturnier der Pink Lady Putters …«
Jig lachte los. Nach einem kurzen Augenblick ging ihr Heiterkeitsausbruch in verhaltenes Schnaufen über. »’tschuldigung, aber diese Leute der Golfer-Vereinigung sehe ich gerade sehr lebhaft vor mir, wie sie in ihren rosa karierten Knickerbockern, mit Spitzenschleifchen an den Schlägern, über das Grün flanieren …«
Jetzt war es Valerie, die die Augen rollte und dann einfach fortfuhr. »… empfindlich gestört. Das Turnier, das bis in die frühen Abendstunden andauerte, musste schließlich vorzeitig abgebrochen werden. Aus unbekannten Gründen schien das skurrile Tier auf dem Gelände des Golfclubs Jagd auf Bälle zu machen.«
»Ein schwarzer, aufrecht gehender Hund?« Teddy hob beide Daumen. »Das nenne ich mal vielversprechend.«
Valerie nickte. »Wann immer Golfbälle das Grün verließen und im angrenzenden Wald oder Gestrüpp landeten, waren sie sofort unauffindbar. Schließlich bemerkte die Vereinsvorsitzende, Lady Knotworth, einen auf den Hinterläufen rennenden Hund, der sich mit ihrem Ball in der Klaue davonmachen wollte, nachdem sie ihn ins Unterholz geschlagen hatte. Lady Knotworth beschwört, dass die Augen des Hundes geglüht hätten. Gibt es Höllenhunde in Chiswick?« Sie ließ die Zeitung sinken und sah Ada an.
Diese runzelte die Stirn. »Es steht wohl außer Frage, dass diese Lady Knotworth tatsächlich einem Schrat begegnet ist. Aber in Chiswick? Das liegt von hier aus nicht gerade um die Ecke. Möglicherweise handelt es sich sehr wohl um Schwarze Schrate, aber eben nicht um deine Schrate, Valerie.«
Die verzog das Gesicht. »Ich möchte nicht, dass du sie als meine Schrate bezeichnest.« Doch dann riss sie die Augen auf. »Heißt das etwa, dass es noch mehr Schrate in London geben könnte? Schrate, die in den Wänden ahnungsloser Bürger hausen?«
Teddy und Ada nickten beide, während Jig die Arme um sich schlang, als ob sie fröstelte.
Dann hob Teddy mahnend einen Zeigefinger. »Seltsam ist aber, dass dieser Schrat sich im Freien aufgehalten hat und sich sogar beim Klauen erwischen ließ.« Er benutzte den Finger, um sich nachdenklich die Nasenspitze zu kratzen, und fuhr fort: »Zwar räumen Schrate zwanghaft alles auf, was sie als herrenlos erachten, aber sie bleiben für gewöhnlich in ihren Tunneln und Gängen. Was hat den hier hinausgetrieben?«
»Vielleicht die Tatsache, dass sein Tunnel mitsamt dem Haus drumherum verschwunden ist?«, schlug Jig vor. »Dann wäre es eben doch einer von Valeries Schraten und er ist vermutlich heimatlos.«
Ada sah immer noch unzufrieden auf Valeries aufgeschlagene Zeitung. »Aber wie soll der Schrat denn nach Chiswick gekommen sein? Die U-Bahn wird er ja nicht genommen haben. Oder doch?«
In diesem Moment stieß Teddy einen kleinen Schrei aus. Sein Zeigefinger bohrte sich nun in die letzte Ausgabe des Evening Standard. »Missglückte Kindesentführung in Dukes Meadows. Wurde Hund abgerichtet, um Kleinkinder zu verschleppen?«
Valerie schlug die Hände vors Gesicht. »Oh mein Gott«, klang es dumpf zwischen ihren gespreizten Fingern hervor. »Die Schrate haben erneut versucht, ein Kind an sich zu bringen. Genau wie Paul und wie auch schon Sebastian.«
»Damit hören sie niemals auf, sie finden Kinder eben niedlich, genau wie du Welpen oder Katzenbabys toll findest«, rief Ada dazwischen. »Ganz besonders aufschlussreich finde ich allerdings den Ort des Geschehens: Dukes Meadows.«
Valerie ließ die Hände sinken, die jetzt leicht zitterten und verrieten, wie heftig das Adrenalin in ihr strömte. »Ein Erholungsgebiet mit Spielplätzen, Planschbecken und Grünflächen. Ein Ort, an dem sich immer wieder Kinder aufhalten, manche von ihnen vielleicht auch mal kurz unbeaufsichtigt, sodass die Schrate sie aufräumen können.«
»Zum Erholungsgebiet Dukes Meadows gehört vor allem auch ein hübscher Golfplatz und das alles finden wir in Chiswick.« Ada klatschte in die Hände. »Ich denke, es wird Zeit, unsere Golfschläger wieder auszumotten, Teddy. Nicht nur um Schratschädel zu verbeulen, sondern auch um mal wieder zu spielen. Meine Güte. Ich glaube, zum Golfen habe ich die Schläger schon ewig nicht mehr benutzt.«
Kapitel 4 - Große Gefühle
Oktober 1965
RICHARD
»Oh, da haben Sie sich aber viel vorgenommen«, hörte Richard eine weibliche Stimme sagen, als er den Bücherstapel vor sich auf dem Tisch abstellte.
Überrascht bemerkte er, dass gegenüber eine ihm bereits bekannte junge Dame Platz genommen hatte. Charlotte Heyworth – heute in einem cremefarbenen Hosenanzug mit breitem Gürtel, der ihre schlanke Figur ausgezeichnet zur Geltung brachte – lächelte ihn freundlich an, während ihre blinden Augen einen Punkt irgendwo rechts von ihm zu fixieren schienen. Er gestand sich selbst ein, dass er sich über ihren Anblick freute.
»Was führt Sie denn in diese Bibliothek?«, fragte er und wusste, dass er so verwirrt klang, wie er sich fühlte. »Studieren Sie Bücher in Blindenschrift? Und woher wussten Sie, dass ich es bin und wie viele Bücher ich vor mir hertrage?«
Ihr Lächeln wurde eine Spur breiter. »Dass Sie es sind, weiß ich, weil zwei geschwätzige Studentinnen, die jetzt nur ein paar Regale von uns entfernt miteinander kichern, vor wenigen Augenblicken Ihren Namen erwähnt haben. Dass es nicht gerade wenig Bücher sind, die Sie einsehen wollen, habe ich Ihrem angestrengten Stöhnen entnommen, Mister Blunt.«
Das Räuspern einer Bibliothekarin ließ Richard die Stimme senken, als er antwortete: »Sie sind entsetzlich clever, Miss Heyworth. Darf ich Charlotte zu Ihnen sagen?«
Sie nickte und erwiderte leise: »Sehr gerne, Richard. Übrigens verbringe ich sehr viel Zeit in der Bibliothek. Die Auswahl an Büchern in Blindenschrift ist erschreckend klein, doch zuweilen finde ich jemanden, der mir vorliest. Bist du ein guter Vorleser?«
»Nein, ich gehöre zu denen, die jeden Zuhörer innerhalb von Minuten vertrieben oder eingeschläfert haben«, gestand Richard. »Soll ich dir trotzdem erzählen, welche Bücher ich mir mitgebracht habe?«
Als