hinaus bin ich derzeit der unglücklichste Mann in ganz London. Lassen Sie mich um Himmels willen nicht im Stich, Mr. Holmes! Wenn man mich verhaften kommt, ehe ich meine Geschichte zu Ende erzählt habe, veranlassen Sie die Leute, mir Zeit zu geben, damit ich Ihnen die ganze Wahrheit sagen kann. Ich könnte frohen Herzens ins Gefängnis gehen, wenn ich nur wüßte, daß Sie draußen für. mich wirken.«
»Sie verhaften!« sagte Holmes. »In der Tat höchst erfr ... höchst interessant. Was glauben Sie, unter welcher Anklage Sie verhaftet werden sollen?«
»Unter dem Verdacht, Mr. Jonas Oldacre aus Lower Norwood ermordet zu haben.«
Auf dem ausdrucksvollen Gesicht meines Gefährten zeigte sich ein Mitgefühl, das, fürchte ich, nicht frei von Befriedigung war.
»Na sowas!« sagte er; »eben erst beim Frühstück sagte ich zu meinem Freund Dr. Watson, aufsehenerregende Fälle seien aus unseren Zeitungen verschwunden.«
Unser Besucher streckte eine bebende Hand aus und ergriff den Daily Telegraph, der noch immer auf Holmes' Knie gelegen hatte.
»Wenn Sie hingesehen hätten, Sir, hätten Sie mit einem Blick erkannt, aus welchem Anlaß ich heute morgen zu Ihnen komme. Es kommt mir vor, als müßten mein Name und mein Unglück in aller Munde sein.« Er schlug die Zeitung um und wies auf die Mittelseite. »Da steht's. Und mit Ihrer Erlaubnis werde ich es Ihnen vorlesen. Hören Sie, Mr. Holmes: die Schlagzeilen lauten: RÄTSELHAFTER FALL IN LOWER NORWOOD. BEKANNTER BAUMEISTER VERSCHWUNDEN. VERDACHT AUF MORD UND BRANDSTIFTUNG. HINWEIS AUF DEN TÄTER. Dieser Hinweis wird bereits verfolgt, Mr. Holmes, und ich weiß, er führt unweigerlich zu mir. Seit der London Bridge Station folgt man mir, und ich bin sicher, man wartet nur noch auf den Haftbefehl. Es wird meiner Mutter das Herz brechen – es wird ihr das Herz brechen!« Er rang in ahnungsvoller Qual die Hände und schwankte auf seinem Stuhl vor und zurück.
Interessiert betrachtete ich diesen Mann, der eines Gewaltverbrechens beschuldigt wurde. Er hatte flachsfarbenes Haar, sah gut aus, aber auf eine schlappe, unleidliche Art: dazu seine erschrockenen blauen Augen und ein glattrasiertes Gesicht mit einem schwachen, sensiblen Mund. Er mochte etwa siebenundzwanzig Jahre alt sein; seinem Anzug und Gebaren nach war er ein Gentleman. Aus der Tasche seines hellen Sommermantels ragte das Bündel indossierter Papiere, das seinen Beruf verriet.
»Wir müssen die Zeit nutzen, die uns noch bleibt«, sagte Holmes. »Watson, wären Sie so freundlich, die Zeitung zu nehmen und mir den fraglichen Artikel vorzulesen?«
Unter den lärmenden Schlagzeilen, die unser Klient bereits zitiert hatte, las ich folgende vielsagende Geschichte:
Tief in der Nacht, oder früh am heutigen Morgen, ereignete sich in Lower Norwood ein Vorfall, der, so wird befürchtet, auf ein ernstes Verbrechen hindeutet. Mr. Jonas Oldacre ist ein bekannter Einwohner dieser Vorstadt; viele Jahre lang betrieb er dort sein Geschäft als Baumeister. Mr. Oldacre ist Junggeselle, 52 Jahre alt und lebt in Deep Dene House am Sydenham- Ende der Straße dieses Namens. Er stand im Rufe eines Mannes von exzentrischen Gewohnheiten und war von verschlossenem und zurückhaltendem Wesen. Von seinem Geschäft, in dem er es zu beträchtlichem Reichtum gebracht haben soll, hat er sich seit Jahren praktisch zurückgezogen. Hinter seinem Haus befindet sich jedoch noch ein kleines Holzlager, und vorige Nacht wurde gegen zwölf Uhr Alarm gegeben, daß einer der Stapel in Flammen stehe. Die Feuerwehr war bald zur Stelle, doch brannte das trockene Holz derart zügellos, daß der Feuersbrunst erst Einhalt zu gebieten war, als der Stapel vollständig niedergebrannt war. Bis dahin hatte das Geschehen den Anschein eines gewöhnlichen Unglücksfalles, doch neue Hinweise scheinen auf ein ernstes Verbrechen hinzudeuten. Man äußerte sich erstaunt über die Abwesenheit des Hausherrn von der Brandstelle, und die folgende Nachforschung ergab, daß er aus dem Haus verschwunden war. Eine Untersuchung seines Zimmers erbrachte, daß er nicht in seinem Bett geschlafen hatte, daß sein Safe offenstand, daß eine Menge wichtiger Papiere im Zimmer verstreut herumlagen, und schließlich fanden sich Anzeichen eines mörderischen Kampfes: In dem Zimmer wurden geringe Blutspuren und ein Spazierstock aus Eichenholz entdeckt, der am Griff ebenfalls Blutflecken aufwies. Es ist bekannt, daß Mr. Jonas Oldacre in dieser Nacht einen späten Besucher in seinem Schlafzimmer empfangen hatte, und der aufgefundene Stock wurde als Eigentum dieser Person identifiziert; es handelt sich um einen jungen Londoner Anwalt namens John Hector McFarlane, Juniorpartner von Graham & McFarlane, Gresham Buildings 426, E.C. Die Polizei glaubt im Besitz von Beweisen zu sein, die ein sehr überzeugendes Motiv für das Verbrechen liefern; insgesamt ist eine sensationelle Entwicklung dieser Angelegenheit nicht auszuschließen.
LETZTE MELDUNG – Bei Drucklegung geht das Gerücht ein, Mr. John Hector McFarlane sei tatsächlich unter dem Verdacht, Mr. Jonas Oldacre ermordet zu haben, verhaftet worden. Sicher ist zumindest, daß ein Haftbefehl erlassen wurde. Die Ermittlungen in Norwood haben weitere bedenkliche Tatsachen ergeben. Außer den Anzeichen für einen Kampf im Zimmer des unglücklichen Baumeisters wurde jetzt bekannt, daß die Flügelfenster seines Schlafzimmers (das im Erdgeschoß liegt) offen gestanden hatten, daß gewisse Spuren den Eindruck erwecken, als sei ein schwerer Gegenstand zu dem Holzstapel geschleift worden, und schließlich wird behauptet, unter der Asche seien verkohlte Überreste gefunden worden. Die Polizei vermutet, daß das Opfer in seinem Schlafzimmer erschlagen, seine Papiere durchwühlt und seine Leiche zu dem Holzstapel geschleift wurde, um so alle Spuren des Verbrechens zu beseitigen. Die Durchführung der Strafermittlungen wurde in die erfahrenen Hände Inspektor Lestrades von Scotland Yard gelegt, der mit gewohnter Energie und Scharfsicht den Hinweisen nachgeht.
Sherlock Holmes lauschte diesem bemerkenswerten Bericht mit geschlossenen Augen und gegeneinander gestellten Fingerspitzen.
»Der Fall weist allerdings einiges Interessante auf«, sagte er auf seine müde Art. »Darf ich zunächst einmal fragen, Mr. McFarlane, wie es kommt, daß Sie noch in Freiheit sind, da doch genug Beweismaterial vorzuliegen scheint, Ihre Verhaftung zu rechtfertigen?«
»Ich lebe bei meinen Eltern in Torrington Lodge, Blackheath, Mr. Holmes; vorige Nacht aber hatte ich mit Mr. Oldacre noch sehr spät etwas Geschäftliches zu erledigen und daher in einem Hotel in Norwood Quartier genommen, um ihn von dort aus zu besuchen. Ich erfuhr von dieser Sache erst im Zug, als ich las, was Sie soeben gehört haben. Ich gewahrte sogleich die schreckliche Gefahr meiner Lage und beeilte mich, den Fall in Ihre Hände zu legen. Ich zweifle nicht daran, daß ich entweder in meinem Stadtbüro oder zu Hause verhaftet werden sollte. Jemand ist mir von der London Bridge Station gefolgt, und ich zweifle nicht – großer Gott, was ist das?«
Es war das Läuten der Glocke, dem gleich darauf schwere Schritte auf der Treppe folgten. Und schon erschien unser alter Freund Lestrade in der Tür. Hinter seinen Schultern sah ich undeutlich ein paar uniformierte Polizisten stehen.
»Mr. John Hector McFarlane«, sagte Lestrade.
Unser unglücklicher Klient erhob sich mit totenbleicher Miene.
»Ich verhafte Sie wegen vorsätzlichen Mordes an Mr. Jonas Oldacre aus Lower Norwood.«
McFarlane wandte sich uns mit verzweifelter Gebärde zu und sank wie vernichtet wieder auf seinen Stuhl.
»Einen Augenblick, Lestrade«, sagte Holmes. »Eine halbe Stunde mehr oder weniger kann Ihnen nichts bedeuten, und dieser Gentleman stand eben im Begriff, uns von dieser höchst interessanten Affäre einen Bericht zu geben, der uns bei der Aufklärung dienlich sein könnte.«
»Ich sehe keinerlei Schwierigkeiten bei der Aufklärung«, sagte Lestrade grimmig.
»Gleichwohl wäre ich, wenn Sie gestatten, sehr interessiert, seinen Bericht zu vernehmen.«
»Nun gut, Mr. Holmes, es fällt mir schwer, Ihnen etwas abzuschlagen, zumal Sie der Polizei in der Vergangenheit ein- oder zweimal nützlich gewesen sind und wir von Scotland Yard Ihnen noch eine Gefälligkeit schulden«, sagte Lestrade. »Zugleich aber muß ich bei meinem Gefangenen bleiben, und ich bin verpflichtet, ihn darauf hinzuweisen, daß alle seine Aussagen gegen ihn verwendet werden können.«
»Etwas Besseres kann ich mir nicht wünschen«, sagte unser Klient. »Ich bitte Sie um nichts weiter, als mir zuzuhören und die reine Wahrheit zu erfahren.«
Lestrade